Brief Glareans an Tschudi über eine Gespenstererscheinung und über Russland
Traduction (Allemand)
Glarean grüsst den Herrn Aegidius Tschudi. Hinsichtlich der Täuschung der Lemuren und Gespenster schmerzt mich das Verwunderliche, liebster Herr Aegidius, dass dem Dämon bzw. seinen Dienern so viel Freiheit gelassen wird. Ich möchte nicht leugnen, dass dies mit Erlaubnis Gottes geschieht, aber, beim Herkules, es geschieht mehr durch menschlichen Betrug als wirklich. Der Herr Ambrosius von Gampenberg erzählte mir neulich, dass einmal in Nürnberg, als er selbst dort war, einer von diesen die ganze Stadt in Verwunderung und Staunen versetzt hat. Viertausend Menschen standen vor einem Gebäude (ich weiss nicht, welchem), auf die aus dem Gebäude heraus einer am helllichten Tag Ziegel, Steine, Töpfe (und ich weiss nicht, was sonst noch) warf. Drei Tage konnte man ihn nicht fassen. Er hatte nämlich durch das Dach einen Zugang, der ihm als Tür diente, so dass, als Magistratsangestellte eingedrungen waren, man niemanden fand, bis er durch Zufall auf dem Dach ergriffen und angeklagt wurde und endlich für seinen Busse leistete. Die Hellvangelischen wagen alles, aber ohne Erfolg. Du bleib tapfer! Ich zweifle nicht, dass dies durch menschlichen Betrug geschieht. Die ganze Jugend dieses Zeitalters ist nun so sehr in Bosheit unterrichtet, dass sie sehr nahe verwandt mit Sodom und Gomorrha ist. Alkoholismus, Treulosigkeit, Blasphemie, Sakrilegien und Verachtung Gottes haben die Gemüter aller in Beschlag genommen. Nirgends war die Welt je korrupter. Aber genug davon.
Herr Johannes von Paumgartner, ein Augsburger und ein Berater unserer Kaiser hat mir ein Buch über die Sitten der Moskowiter von einem Baron von Herberstein, Neuburg und Gattenhag geschickt, der zweimal als Gesandter in diese Gegend gegangen ist, einmal unter Kaiser Maximilian [I.], und das zweite Mal unter dem gegenwärtigen Kaiser [= Karl V.]; dieses Buch enthält wunderbare Informationen über ihren Wohnsitz und ihre Sitten. Einen ganzen Monat habe ich mich mit diesem Buch vergnügt und bin zum halben Moskowiter geworden. Sie sind Christen, aber Griechen, und obwohl sie die Tartaren hasserfüllt verfolgen, lieben sie uns dennoch nicht, weil sie uns nicht für richtige Christen halten, weil wir den Herrenleib in ungesäuerten Broten konsekrieren, weil wir oft das grosse Fasten nicht ganze Wochen hindurch lang halten, weil wir die Ehen der Priester trennen, weil wir glauben, dass der Heilige Geist auch von Sohne ausgeht und weil wir am Samstag fasten. Diese fünf Artikel haben sie gegen uns. Den letzten verstehe ich nicht, im vorletzten irren sie selbst, die drei ersten sind nicht besonders wichtig. Ich habe den Herrn Paumgartner gebeten, mir den Besitz eines Exemplars dieses solchen Buches entweder auf meine Bitte hin oder gegen einen Kaufpreis zu verschaffen, denn dies war sein einziges Buchexemplar, das er mir geschickt hatte und das er zurückverlangte, wobei er mein Urteil darüber erwartete.
Doktor Mathias Held, der Dir bekannt ist, hat hier für achttausend Goldstücke ein grosszügiges Haus und Besitztümer mit dem Vorsatz erworben, an der hiesigen Universität den letzten Teil seines Greisenalters zu verbringen; er ist ein sehr grosser Freund von mir. Hoffentlich kann ich Dich zu Deinem Nutzen und dem der Deinen noch ein drittes Mal sehen. Denn wo will unser Vaterland hin mit so viel innerer Zwietracht, fröhlichen Gelagen und verschwenderischen Zurüstungen; ich sehe nicht, wie es sie sich am Ende leisten kann, wenn es nicht durch Hilfe von aussen aufrecht erhalten wird. Gott gewähre allen Christen einen gesunden Geist in einem gesunden Körper. Lebe wohl, bester Aegidius und liebe uns, wie wir Dich auf einzigartige Weise schätzen und lieben, vielmehr: zu Dir hinaufschauen wie zu einer hervorragenden Leuchte unseres Vaterlandes. Meine Gattin trägt Dir und Deiner Gattin auf, Herkules und seine Gattin ganz viel zu grüssen, und ich tue das nicht minder. Gegeben zu Freiburg [im Breisgau], am 21. Januar 1550.
Ambrosius Freiherr von Gumppenberg (1501-1574): Nach Studien in Tübingen und Ingolstadt wirkte er als Diplomat und Kuriale in Rom (seit 1537 war er römischer Bürger). Als Inhaber von neun Kanonikaten lebte er seit 1546 wieder in Deutschland und trat als entschiedener Vertreter des Katholizismus und Gegner der Reformation auf (1573 unterstützte er als Würzburger Domherr etwa die Wahl Julius Echters zum Fürstbischof von Würzburg). Er war ein vielseitig interessierter Renaissanceprälat. Er verstarb in Eichstätt. Vgl. E. Krausen, «Gumppenberg, Ambrosius Freiherr von», Neue Deutsche Biographie 7 (1966), 310-311, Onlineversion, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118719483.html#ndbcontent.
Die Fastenvorschriften der russischen Kirche waren schon zu Glareans Zeiten (und sind es auch heute) wesentlich strenger als die der westlichen Kirche. Während der Grossen Fasten vor Ostern etwa dürfen grundsätzlich überhaupt keine tierischen Produkte gegessen werden (nur an zwei Tagen ist Fisch erlaubt); auch pflanzliche Öle sind an den meisten Tagen verboten. Auch die Sonntage galten und gelten als Fasttage. In Russland wurde der westlichen Kirche zum Vorwurf gemacht, dass an den Sonntagen der Fastenzeit Fleisch gegessen werden darf.
Matthias von Held (gest. 1563): Der aus dem belgischen Arion gebürtige Held begann seine Laufbahn 1527 als Assessor am Reichskammergericht. 1531 wurde er Reichsvizekanzler. Er trat als entschiedener Gegner der Protestanten auf. 1541 wurde er nach einem sich über mehrere Jahre hinziehenden Einflussverlust in seinem Amt abgelöst. Er lebte fortan als Privatmann von den in seinen Amtsjahren angehäuften Reichtümern in Köln, wo er auch starb. 1549 erwarb er die Herrschaft Zähringen bei Freiburg i. Br., was Glarean in diesem Brief erwähnt. Vgl. I. Höß, «Held, Matthias von», Neue Deutsche Biographie 8 (1969), 465-466, Onlineversion, https://www.deutsche-biographie.de/pnd119703637.html#ndbcontent. Zu einer definitiven Umsiedlung Helds nach Freiburg, von der Glarean hier ausgeht, ist es aber offensichtlich nicht gekommen.
Herkules Tschudi, Sohn des Geschichtsschreibers, hatte am 16. April 1550 die Solothurnerin Martha Brunner geheiratet; vgl. Müller (1933), zur Stelle.