Philargirus
Heinrich Pantaleon
Einführung: Clemens Schlip (traduction française: Kevin Bovier et David Amherdt). Version: 10.02.2023.
Entstehungszeitraum: vor dem 27. Mai 1546 (Datum des Widmungsbriefes).
Ausgabe: Philargirus. Comoedia nova et sacra de Zachaeo publicanorum principe, Basel, Cratander, 1546, fol. a4vo-a5vo, b1ro-b2vo, d1ro-d2ro.
Metrum: jambische Senare.
Die vorliegende comoedia sacra (also ein Drama, das, grob gesprochen, die Bauformen römischer Vorbilder übernimmt und sich in den Dienst der christlichen Sache stellt) nimmt in den Publikationen des Heinrich Pantaleon (13. Juli 1522 bis 3. März 1595) als sein einziges dramatisches Werk eine Sonderrolle ein. Der studierte Theologe und Arzt wirkte in Basel als Hochschullehrer für Physik und später für Medizin, und publizierte vor allem als Übersetzer viel auf diesen Gebieten. Für seine mehr als insgesamt 1700 Lebensläufe umfassende Prosopographia heroum atque illustrium virorum totius Germaniae (1565-1566) die auch auf Deutsch unter dem Titel Der Teutschen Nation wahrhafte Helden erschien (1567-69) – genauer: für deren dritten, mit Kaiser Maximilian I. beginnendem Band – erhielt er 1566 von Maximilian II. die Würden eines poeta laureatus und eines Hofpfalzgrafen.
Die biblische Vorlage ist Lk 19,1-10; der Dramatiker ergänzt die dort geschilderte Episode mit seiner dichterischen Fantasie. Im Prolog wird der moralische Charakter des Stücks betont. Es soll die (für den Protestantismus so grundlegende) Rechtfertigungslehre illustrieren. Zugleich lässt dieser Prolog erkennen, dass Pantaleon die zeitgenössische Dramenproduktion im Blick hatte. Explizit bezieht er sich auf den Prolog des Lazarus von Johannes Sapidus und eine nähere Betrachtung legt nahe, dass er auch den Acolastus des Gulielmus Gnapheus – eines der frühesten und wirkmächtigsten protestantischen Schuldramen – gelesen und aus dessen Prolog eine Anregung bezogen hatte.
Die Aufführung fand im Sommer 1546 (genauer: am 24. Juni) zu Ehren des neuen Rektors der Basler Universität, Martin Borrhaus, statt. Bei der Aufführung sollen auch die Töchter des Hebräischprofessors Sebastian Lepusculus mitgewirkt haben.
Es ist eine interessante Frage, weshalb das Stück im Obertitel Philargirus und nicht Zachaeus heisst. Vielleicht soll so die typische, überindividuelle Botschaft der Geschichte betont werden. Das Stück ist reich durchsetzt mit Bibelzitaten, die am Rande angegeben werden. Dass am Rande auch oft die Versmasse angegeben werden, deutet darauf hin, dass man den Lesern nicht zutraute, sie automatisch zu erkennen.
Es sind insgesamt sechzehn Rollen vorgesehen:
- Zachaeus Philargirus («der Habgierige»), der Führer der Steuereintreiber (Zöllner)
- Chrysophorus (der «Goldträger»), sein Sklave
- Cornelia, seine Frau
- Herophila, ihre Magd
- Rabirius, ein Steuereintreiber (Zöllner)
- Quintilius, ein Steuereintreiber (Zöllner)
- Caiphas, der jüdische Hohepriester
- Ananias, ein jüdischer Priester
- Aristobulus, ein Pharisäer
- Christus, der Heiland
- Petrus, ein Apostel
- Johannes, ein Apostel
- Judas, ein Apostel
Die Schar der zwölf Apostel wird durch ihre drei Mitglieder vertreten, denen in der Tradition die ausgeprägtesten Rollen zukommen. In unserem Stück tritt Johannes, der Lieblingsjünger, jedoch mehr nur am Rande auf. Deutlicher wird das Profil des Judas, des späteren Verräters Jesu. Er offenbart sich gerade in unserer Passage als Liebhaber des Reichtums, womit er sich von der Logik des Evangeliums deutlich entfernt. In gewisser Weise ist er selbst ein Philargirus (und wird es über das Ende des Stücks bis zum bitteren Ende bleiben). Petrus, der spätere Apostelfürst, der sich bei Caesare Philippi als erstervon ihnen zur Gottessohnschaft Jesu bekennt (Mt 16, 13-20), ist gekennzeichnet durch sein allergrösstes Vertrauen in das Handeln des Herrn (nostrum est sequi).
Die restlichen Akteure sind:
- Nicodemus, ein Pharisäer
- Philologus, ein Plebejer
- Artophagus («Brotesser»), ein Blinder
Daneben tritt noch die Volksmasse (populus) auf.
Die Handlung des Stücks in seiner Gesamtheit ist (in einer bewusst knappen Zusammenfassung) folgende (auf eine weitere Aufschlüsselung in Einzelszenen wird mit Rücksicht auf bessere Verständlichkeit und Übersichtlichkeit verzichtet):
Erster Akt: Der aus Rom gebürtige Zachaeus klagt in einem Monolog über die Unbilden und Sorgen, die sein Reichtum mit sich bringt. Er spricht mit seinem Sklaven Chrysophorus, dem er befohlen hatte, Rabirius und Quintilius zu holen. Die beiden kommen und klagen sich wechselseitig ihr Leid. Dann sprechen sie mit Zachaeus. Der lässt sich von Rabirius ausbezahlen, dem Quintilius nimmt er als Pfand kostbare Kleider weg, weil er ihm mit Hinweis auf die Armut des Landes nicht die geschuldete Summe zahlt. Auftreten Ananias und Aristobulus, die sich einig sind, dass die Steuereinnehmer ein Übel sind. Dich das weit grössere Übel sieht Ananias in Jesus. Sie merken, dass Jesus in der Nähe ist. Auftritt Jesus in Begleitung mehrerer Personen. Er verkündet (mit Anklängen an zahlreiche Bibelstellen), wer er ist und warum er da ist. Er heilt den blinden Artophagus auf dessen inständige, gläubige Bitten hin.
Zweiter Akt: Zachaeus sinniert in einem Monolog, dass er doch eigentlich allen Anlass hat, sich für glücklich zu halten (er ist reich, hat eine Frau, ist im besten Alter,...). Er fragt sich, wo sein Sklave und Quintilius bleiben. Chrysophorus kommt und bringt ihm das erwartete Geld (das zieht sich über mehrere Szenen). Nicodemus tritt auf und klagt bei sich, dass sein Volk Jesus nicht als Messias anerkennen will. Zachaeus wird neugierig und lässt sich die Zusammenhänge sehr ausführlich erklären. Er erfährt, dass Christus noch an diesem Tag vorüberziehen wird. Zachaeus sinniert in einem Monolog, dass er Christus gerne sehen möchte, auch wenn er Bedenken hat (er ist kein Jude, er ist ein grosser Sünder,...). Er will auf einen Baum steigen und ihn von dort aus sehen.
Dritter Akt: Christus tritt auf und klagt über das Judenvolk. Er ruft Zachaeus von seinem Baum herab und lässt sich von ihm in dessen Haus zum Essen einladen. Er kündigt ihm an, dass er ihm ermöglichen wird, sein Leben zu bessern. Die Apostel Petrus und Judas reagieren unterschiedlich: Judas freut sich aus einem Missverständnis heraus und Petrus vertraut darauf, dass der Herr schon das Richtige tut. Ananias sieht in Christi Verhalten eine erwünschte Gelegenheit gegen ihn zu hetzen (auch Aristobulus stimmt darin mit ihm überein); der Plebejer Philologus ist verwirrt. Aristobulus und Ananias eilen zum Hohepriester. Auftritt Cornelia mit Herophila: Cornelia ist zornig darüber, dass ihr Mann Christus empfängt und will ihn sich wieder gefügig machen. Sie lässt sich von Herophila bestätigen, dass sie blendend aussieht. Chrysophorus kommt hinzu auch er versteht seinen Herrn nicht mehr. Er und Cornelia sind unglücklich und verstehen nicht, was passiert. Johannes und Judas kommen. Johannes will Cornelia überzeugen (er weiss, wie halsstarrig Frauen sind, und welchen schlechten Einfluss sie auf ihre Männer haben). Er, aber auch Judas, reden Cornelia zu. Die lässt sich letztlich von Judas mit der aussicht auf Reichtümer überreden, Christus anzuhören.
Vierter Akt: Caiphas tritt auf und freut sich in einem Monolog über die Nachrichten, die er betreffs Jesus erhalten hat. Ananias und Aristobulus kommen hinzu. Sie besprechen, wie sie Jesus schaden wollen (das tatsächliche Geschehen der Passionsgeschichte wetterleuchtet hier schon). Es kommt zu einem langen Streitgespräch zwischen ihnen und Christus. Es folgt ein Zwiegespräch zwischen Petrus und Zachaeus; Petrus findet in Zachaeus einen willigen, gläubigen und aufnahmebereiten Schüler. Sie kommen zu dem Streitgespräch zwischen Christus und den drei Juden. Zachaeus bekennt sich zu Christus. Anschliessend spricht Christus in einem langen Gebet zu Gottvater; er will die Erwählten retten; wieder klagt er über das Judenvolk.
Fünfter Akt: Es ist der Tag, an dem Zachaeus alle ausbezahlen will, denen er vielleicht Unrecht getan hat. Ananias, Aristobulus und Caiphas besprechen die Intrige, die sie geschmiedet haben, um Zachaeus zu betrügen; sie werden ihn mit ungerechtfertigten Geldforderungen konfrontieren. Rabirius kommt, denn auch er hat gehört, dass Zachaeus heute allen ihr Geld wiedergeben wird, denen er Unrecht getan hat. Zachaeus tritt mit Cornelia auf. Er verkündet seinen Plan. Sie ist ein wenig skeptisch, fügt sich aber und bekennt sich schon zu Christus als Lehrer. Chrysophorus wundert sich, wie viele Leute gekommen sind. Christus bestätigt Zachaeus in seinem Plan. Zachaeus spricht zur Menge. Caiphas fordert von ihm zu Unrecht Geld; Zachaeus zahlt. So handelt er auch gegenüber Ananias, Aristobulus und Rabirius, obwohl sie alle lügen und Unrecht erfinden, dass es nicht gab. Auch Judas nutzt die Gelegenheit, um von Zachaeus ungerechtfertigterweise Geld zu bekommen. Das Volk dagegen fordert nichts, weil Zachaeus es immer korrekt behandelt habe. Caiphas muss vorderhand zurückweichen, fordert aber Christus spöttisch auf, noch mehr solche Jünger zu rekrutieren, an denen sich so gut verdienen lässt. Christus beklagt die Habgier des Judenvolkes. Danach verteilt Zachaeus den grösseen Teil seines Reichtums unter den Armen; auch seine Frau macht nun bereitwillig mit und opfert ihren Schmuck. Anschliessend lobt Christus den Zachaeus und dieser dankt ihm. In der Schlussstzene verkünden Zachaeus und Cornelia, wie glücklich sie nun sind. Ganz am Ende gibt auch Chrysophorus zu erkennen, dass er diesen Tag nun auch für einen Freudentag hält.
Das Stück ist der Länge nach durchaus abendfüllend. Es ist nicht ohne dramatisch gelungene Partien und entbehrt an vielen Stellen nicht eines Humors, der auch heute noch zündet. Gegen eine Renaissance dieser Komödie sprechen freilich zwei gewichtige Gründe: erstens nimmt sie über zu weite Passagen predigtartige Züge an; und last, but not least, bedient sie sich des Stereotyps des «habgierigen Juden» in einer Ausführlichkeit, die bei einem zeitgenössischen Publikum Anstoss erregen muss.
Bibliographie
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Johannes Sapidus (1490-1561; deutscher Name: Witz) stammte aus dem elsässischen Schlettstadt. Nach gemeinsam mit Beatus Rhenanus in Paris absolvierten Studien kehrte er in seine Geburtsstadt zurück und wurde dort (ab 1511/12) Rektor der Lateinschule. Seine prolutherischen Posititionen zwangen ihn 1526, Schlettstadt zu verlassen. Er übersiedelte nach Strassburg, wo er Rektor an einer der drei Lateinschulen wurde und ab 1537 an dem neugegründeten Gymnasium unterrichtete, zu dem diese Schulen zusammengefasst worden waren und dessen Gründungsrektor sein Schwiegersohn, der Reformator Johannes Sturm, war. In dieser Zeit verfasste Sapidus seine Komödie über Lazarus (Anabion sive Lazarus redivivus), die im protestantischen Sinne die alleinentscheidende Bedeutung des Glaubens hervorhebt. Sie wurde im Frühjahr 1539 anlässlich der Einweihung eines neuen Schulgebäudes aufgeführt. Sie wurde oft nachgedruckt und diente anderen Dramatikern als Muster. S. zu seinem Leben und Werk F. J. Worstbrock, «Sapidus, Johannes», Deutscher Humanismus 1480-1520. Verfasserlexikon 2 (2012), 781-802. Zum Lazarusstück s. auch Johannes Sapidus, Anabion, 1540, hg. von W. F. Michael und D. Parker, Bern/Frankfurt am Main, Peter Lang, 1991.
Gnaphaeus wurde 1493 in Den Haag geboren, wo er 1522 zunächst Schuldirektor wurde. Aufgrund seiner reformierten Überzeugungen wanderte er zunächst aus, zunächst ins Ermland, dann nach Preussen, wo er aber jeweils wiederum Probleme mit andersgläubigen (dort, wie daheim, mit katholischen, hier mit lutherischen) Autoritäten hatte; schliesslich Sekretär und Prinzenerzieher in Ostfriesland (1568 in Norden verstorben). Mit seinem hier erwähnten Stück Acolastus von 1529 (über das biblische Motiv des verlorenen Sohnes) schuf er das erste protestantische Schuldrama und machte die bei Terenz und Plautus überlieferten Formen der antiken Komödie christlich-biblischen Inhalten dienstbar. R. Tarot, «Gnapheus, Gulielmus», Neue Deutsche Biographie 6 (1964), 482-483, Onlineversion, https://www.deutsche-biographie.de/pnd119861240.html#ndbcontent; B. Rolling, «Gnaphaeus, Guilelmus», Frühe Neuzeit in Deutschland 1520-1620. Verfasserlexikon 3 (2014), 23-31; letzterer hebt eindrücklich die enorme Wirkungsgeschichte des Stücks hervor.