Die Genfer Escalade

Melchior Goldast

Einführung: Clemens Schlip (traduction française:Kevin Bovier). Version: 02.09.2024.


Entstehungszeit: zwischen den Ereignissen der Escalade (11./12. Dezember 1602 [gregorianisch: 21./22. Dezember]) und Mai 1603.

Ausgaben: Sallustii Pharamundi Helvetii Carolus Allobrox seu De superventu Allobrogum in urbem Genevam Historia, in quae, praeter res biennio gestas, ingenium Ducis infidum, ad hoc Pontificis Romani et Hispaniarum Regis, quae in Christianos captaverant, consilia deteguntur, [Zürich], 1603; Carolus Allegro, seu De superventu Allobrogum in urbem Genovam [!], historia, [Genf], 1603.

Übersetzung: Histoire de la supervenue inopinée des Savoyards en la ville de Genève en la nuict du dimanche 12e jour de décembre 1602, in: Vray discours, [Genf], [Jean II de Tournes], 1603, p. 59-101; einzeln erneut ediert durch F. Gardy, Genf, Société Générale d’Imprimerie, 1903.

 

Melchior Goldast

Melchior Goldast von Haiminsfeld wurde am 6. Januar 1578 in Espen (heute Gemeinde Bischofszell, heute Kanton Thurgau) geboren, vermutlich als Sohn des Heinrich und der Cleopha von Gonzenbach. Er besuchte 1590-1594 das Gymnasium von Memmingen, einer lutherischen Stadt in Oberschwaben. Anschliessend studierte er an der jesuitisch dominierten Universität von Ingolstadt (1594) und an der von der lutherischen Reichsstadt Nürnberg unterhaltenen Hochschule im nahegelegenen Altdorf (1594-1598), an der er den Magistertitel erlangte. Hierauf ging er von 1599 bis Ende 1602/Anfang 1603 in Genf seinen Studien nach. Deren Schwerpunkt lag auf Philologie, Jura und Theologie. Von 1599 an (erster St. Gallen-Aufenthalt) beschäftigte er sich, unterstützt von dem Juristen Bartholome (IV.) Schobinger (1566-1604), mit den Archiv- und Bibliotheksbeständen der Stadt St. Gallen, wobei er manche Dokumente beschädigte und andere widerrechtlich in seinen Besitz brachte. Die Stadt strengte deswegen 1605 erfolglos einen Prozess gegen ihn an. Zu den Handschriften, denen er sich widmete, gehörte auch der berühmte und für die Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik bedeutende Codex Manesse. 1603-1605 wirkte er als Erzieher des jungen reformierten Freiherrn von Hohensax (†1633). Ab 1606 lebte er in der (lutherischen) Reichsstadt Frankfurt a. M., wo er für Verlage tätig war und eine schlecht bezahlte historische und juristische Gutachtertätigkeit für Fürsten und Städte ausübte. Er heiratete in Frankfurt 1612 Sophia Ottilia Jeckel, die Tochter eines Frankfurter Patriziers, die ihm drei Kinder (darunter mindestens ein Sohn) gebar. 1610 erhielt er eine Anstellung am Weimarer Hof, die ihm auch Kontakte zu den kaiserlichen Behörden verschaffte (Pragaufenthalt 1612). 1615 wechselte er in die Dienste des (lutherischen) Grafen Ernst von Holstein-Schaumburg. Nach dessen Tod begab sich Goldast 1624 zurück nach Frankfurt a. M. Im Jahr 1627 veröffentlichte er ein juristisches Gutachten, in dem er die kaiserlichen (und das hiess: katholischen) Ansprüche auf Böhmen unterstützte; für einen reformierten Autor war das ein bemerkenswerter Schritt, der ihm aber die Ernennung zum kaiserlichen Rat einbrachte. 1632 begab er sich nach dem Tode seiner Frau nach Giessen in die Dienste des (lutherischen) Landgrafen Georg II. von Hessen-Darmstadt, der in schon in den vorangegangenen Jahren finanziell unterstützt hatte. In Giessen verstarb er am 11. August 1635. Die gelegentlich auftauchende Behauptung, er habe zuletzt als Kanzler der dortigen Universität geamtet, dürfte auf einem Missverständnis basieren, denn die Universität Giessen war 1624 nach Marburg verlegt worden und wurde erst 1650 wiederhergestellt. Goldast dürfte im Übrigen als Reformierter gestorben sein, so wie er als Reformierter geboren worden war.

Goldasts bleibende Bedeutung basierte besonders auf seinen zahlreichen Editionen antiker, mittelhochdeutscher und humanistischer Texte, worunter besonders auch seine auf St. Galler Material beruhenden Sammlung Suevicarum rerum, scriptores aliquot veteres (1605) und die Kollektion Alamannicarum rerum scriptores aliquot vetusti (3 Bde., 1606) zu erwähnen sind. 1688 erschien Goldasts Briefwechsel mit Gelehrten seiner Zeit (Virorum doctorum ad Melch. Goldastum epistolae); es handelt sich dabei um mehr als 400 an ihn adressierte Briefe aus den Jahren 1598-1611, also nur um eine Teilausgabe, die wahrscheinlich nicht einmal für diesen Zeitraum komplett ist. Einer seiner Korrespondenten war der Freiburger (katholische) Historiker Franz Guillimann, der ihm in einem Brief vom 27. März 1607 gestand, dass er nicht an die historische Existenz von Wilhelm Tell glaube (was er sich öffentlich zu sagen aber hütete).

Goldast war ungeachtet seiner mitunter prekären Lebensumstände zeitlebens ein begeisterter und geradezu massloser Sammler von Büchern, Urkunden und Handschriften, der im Falle von St. Gallen den Eigentumsrechten anderer keinen grossen Respekt entgegenbrachte. Teile von Goldasts Bibliothek befanden sich seit 1624 im ehemaligen Katharinenkloster von Bremen, weil er sie dort vor den Wirren des Dreissigjährigen Krieges schützen wollte. Nach seinem Tod erwarb die Stadt 1646 die gesamte Sammlung (inklusive der bis dahin Frankfurt verbliebenen Teile) von seinen Erben und machte sie mit einigen anderen Beständen zum Grundstock der 1660 eröffneten Stadtbibliothek. Der Umfang der Sammlung betrug damals «ca. 1.130 physische Einheiten […] (ohne die Handschriften und ohne Sammelbände mit Inkunabeln)». Ungeachtet später eingetretener Verluste ist sie bis heute eine der wichtigsten erhaltenen Bibliotheken des Späthumanismus. St. Gallen erwarb 1948 aus den Bremer Beständen insgesamt 50 Urkunden und 98 Briefe Joachim Vadians, die sich Goldast seinerzeit auf seine bekannte nonchalante Weise angeeignet hatte, für die Kantonsbibliothek Vadiana zurück.

 

Die Escalade

Der Vertrag von Lyon vom 17. Januar 1601 beendete eine Auseinandersetzung zwischen dem französischen König Heinrich IV. und Herzog Karl Emmanuel von Savoyen um die Markgrafschaft Saluzzo durch die wechselseitige Kompensation von Gebietsansprüchen. Karl Emmanuel war mit dem Ergebnis nicht zufrieden und beschloss, zum Ausgleich Genf zu erobern, das er als savoyardische Untertanenstadt betrachtete. Die Planungen zu diesem Schritt erfolgten im Geheimen, um die mit Genf verbündeten reformierten Orte der Eidgenossenschaft und den französischen König nicht auf den Plan zu rufen. Die entscheidende Aktion war für die Nacht vom 21. auf den 22. Dezember 1602 vorgesehen (gemäss dem im reformierten Genf damals noch gültigen julianischen Kalender war es die Nacht vom 11. auf den 12. Dezember). Unter Führung des Charles de Simiane, Herrn von Albigny, sollte Genf im Handstreich eingenommen werden. Es gelang einer Vorhut von ca. 200-300 Mann tatsächlich, die Mauer der Corraterie mithilfe von Holzleitern zu übersteigen, bevor Alarm geschlagen wurde. Das Scheitern des nächtlichen Überfalls war letztlich dem Genfer Soldaten Isaac Mercier zu verdanken, dem es gelang, das Fallgatter der Porte Neuve herunterzulassen, durch welche die Hauptmacht der Savoyer hätte eindringen sollen. Siebzehn Genfer und 60 Savoyer liessen in dieser Nacht auf den Strassen, Plätzen und Gassen von Genf ihr Leben. Der in seinen Hoffnungen getrogene Herzog versuchte noch vergeblich, seine Ansprüche auf Genf mittels einer diplomatischen Offensive bei den Bernern durchzusetzen. Schliesslich musste er am 21. Juli 1603 (nach julianischer Zeitrechnung: 11. Juli 1603) im Frieden von Saint-Julien den Genfern weitgehende Handelsfreiheit und Zollfreiheit auf Savoyer Gebiet zugestehen und seinen Verzicht auf Truppenmassierungen und Befestigungswerke in vier Meilen Umkreis der Genfer Grenze erklären; diese Regelungen stellten faktisch eine Anerkennung der Genfer Unabhängigkeit durch Savoyen dar.

Das Gedenken an die «Escalade» («Kletterei»), wie man das Ereignis aufgrund der von den Savoyern verwendeten Holzleitern nannte, und die Genfer Helden jener Nacht blieb im Genfer Stadtgedächtnis lebendig. Das unter dem Eindruck der Ereignisse im Genfer Dialekt gedichtete Lied Cé qu’é laino wurde zur Hymne der Genfer Republik. Die Art und Weise, wie der Festtag begangen wurde, unterlag im Verlauf der Jahre diversen Schwankungen, die hier nicht nachvollzogen werden können, ebenso wie die damit verbundenen legendären Ausschmückungen der historischen Ereignisse. Im 20. Jahrhundert bildete sich als typisches Programm der Feiern am 12. Dezember – das Datum wurde nicht an den mittlerweile auch in Genf gültigen gregorianischen Kalender angepasst – ein abendlicher Umzug in historischen Kostümen (seit 1919) sowie ein Stadtlauf (seit 1978) heraus. Konditoreien bieten zu diesem Anlass «marmites de l’Escalade» an, kleine Töpfe aus Schokolade, zu Ehren der legendären Mère Royaume, die einen der Angreifer mit kochender Suppe übergossen haben soll. Das Fest hat damit eine gewisse Lebendigkeit behalten, ungeachtet der Tatsache, dass Genf sich heute nur noch in einem historischen Sinn als reformierter Ort bezeichnen lässt.

 

Goldasts Genfaufenthalt und sein Bericht über die Escalade

Wie bereits oben erwähnt, hielt sich Goldast 1599 zeitweise in St. Gallen auf, wo ihn sein Förderer Bartholome Schobinger bei sich beherbergte. Nach einem kurzen Heimataufenthalt in Bischofszell im September und Oktober begab sich Goldast noch im Oktober nach Genf. Die Gründe dafür lassen sich nicht zweifelsfrei feststellen; es ist jedoch denkbar, dass seine Zürcher gelehrten Brieffreunde (unter ihnen Caspar Waser und Johann Wilhelm Stucki), die mit ihren Kollegen von der Genfer reformierten Akademie (damals unter anderem Theodore de Bèze) enge Kontakte unterhielten, ihm dazu geraten hatten. In einem Brief vom 5. November 1599 an Caspar Waser äussert sich Goldast freilich enttäuscht über das niedrige Niveau des akademischen Unterrichts, den er in Genf vorfand. Goldast lebte in Genf zunächst als Privatlehrer und Begleiter eines jungen Zürchers, Johann Konrad Wiest, der ebenfalls die Akademie besuchte; derartige Arrangements waren in der Frühen Neuzeit und noch lange darüber hinaus üblich. Goldast und sein Schützling wohnten zunächst in der Pension des Samuel Brun, eines Professors am Genfer Collège. Goldast war mit dieser Unterbringung äusserst unzufrieden – er beklagte unter anderem Lärmbelästigung, schlechtes Essen und die Tatsache, dass die meisten Bewohner des Hauses Brun das Patois sprachen, den savoyischen französischen Dialekt, den Goldast für noch schlimmer hielt als den ihm offenbar ebenfalls verhassten Appenzeller Dialekt im Deutschen. Er zog mit seinem Schüler zu dem Stadtmusiker Jean Servin um. Andere Probleme Goldasts waren ein zahlungsunwilliger Privatschüler aus Zürich namens Hottinger (das Stundengeben war Goldasts Haupteinnahmequelle), das Ausbleiben seines Gepäcks aus St. Gallen, dann auch noch die vorzeitige Rückberufung seines Schützlings Wiest nach Zürich durch dessen Vater (der dann keine Eile zeigte, den in Genf verbleibenden Goldast für die erbrachten Dienste zu bezahlen) sowie gesundheitliche Probleme. Wettgemacht wurden solche Schwierigkeiten durch die fortgesetzte finanzielle Unterstützung, die Schobinger ihm zuteilwerden liess, sowie durch Goldasts Kontakte zu wichtigen Persönlichkeiten des Genfer Geisteslebens. So vertraute ihm etwa Jacques Lect (Jacobus Lectius) die Durchsicht seiner 1601 erscheinenden Symmachus-Edition an, daneben arbeitete Goldast auf eigene Faust an mehreren Editionen antiker Autoren (Valerianus, Dositheus), die ebenfalls 1601 in Genf erschienen. Er gab ausserdem weiterhin private Unterrichtsstunden, fand daneben Zeit zu ausgedehnter Lektüre (seine Kollektaneensammlung aus den Jahren 1599-1605 ist erhalten) und besuchte als eingeschriebener Student Kurse der Akademie, mit einem Schwerpunkt auf der Rechtsgelehrsamkeit. Im Jahr 1600 gab er die Rede De duplici concordia des Justus Lipsius heraus; das war für den mittlerweile zum Katholizismus rekonvertierten und wieder an der Universität Löwen tätigen Lipsius insofern peinlich, als er sich in dieser 1573 in Jena gehaltenen Rede noch als überzeugter Lutheraner präsentiert hatte. Lipsius stritt die Autorschaft energisch ab und warf Goldast eine Fälschung vor, was wiederum Goldast als lügenhaften Vorwurf bezeichnete; es gilt heute als sicher, dass der Text der Rede authentisch war und von Goldast mit der Absicht ediert wurde, Lipsius zu schaden. Im Mai/Juni hielt sich Goldast wenige Wochen in Lausanne auf, kehrte dann aber nach Genf zurück, das er schliesslich im Januar 1603 endgültig verliess, zusammen mit dem Herzog von Bouillon, Henri de la Tour d’Auvergne (1555-1623), der ihn als Sekretär angestellt hatte. In dieser Funktion hielt er sich mit dem Herzog eine Weile am Hofe des Pfalzgrafen in Heidelberg auf. Da ihm das Hofleben nicht gefiel, kehrte er bereits im Herbst zu Schobinger nach St. Gallen zurück, der ihm einen Posten als Erzieher auf der Burg Forstegg der Hohensax vermittelte; seine übrige Biographie wurde bereits oben skizziert. In Goldasts letzte Monate in Genf fiel die Escalade. Seinen Bericht über dieses Ereignis verfasste er bis zum Mai 1603, und im November 1603 lag die Schrift nachweisbar im Druck vor: damals erwähnte er sie in einem Brief an den Heidelberger Juristen und kurpfälzischen Hofbeamten Marquard Freher, in dem er ihm zusagt, ihm demnächst ein Exemplar zu schicken. Goldast veröffentlichte sein Werk unter dem Pseudonym Sallustius Pharamundus Helvetius, das aber niemanden (und auch die Biographen und Bibliographen nicht) daran gehindert hat, ihn als den Autor dieser Schrift zu identifizieren. Ein sachlicher Grund, warum Goldast sich ernsthaft Anonymität gewünscht haben sollte, lässt sich nicht feststellen. Man müsste in diesem Fall jedenfalls konstatieren, dass er damit gescheitert wäre.

Fragt man nach dem inneren Sinn dieses Pseudonyms, so liegt es wohl einerseits darin begründet, dass Sallust als Verfasser zweier bekannter historischer Monographien von überschaubarem Umfang (Coniuratio Catilinae, Bellum Iugurthinum) der wohl bekannteste antike Autor genau jener Gattung war, in der Goldast sich mit seiner Escalade-Schrift zum ersten Mal versuchte (Livius und Tacitus mit ihren umfangreich konzipierten annalistischen Werken hätten sich als Namenspatrone weit weniger geeignet). Gerade mit Blick auf die Catilina-Schrift mag Goldast auch die finstere Darstellung ihres Protagonisten und seiner Anhänger durch Sallust (s. besonders Catil. 5 und 14-23) als inspirierend empfunden haben für seine ebenfalls selbstbewusst unverhohlene parteiische Abqualifizierung der savoyischen Angreifer gerade auch in moralischer Hinsicht. Unabhängig von ihrer tieferen Motivation hat die Selbststilisierung als Sallust in der Schrift jedenfalls zahlreiche Spuren hinterlassen, indem Goldast viele stilistische und inhaltliche Anleihen bei den Geschichtswerken des Römers nimmt. Anders als die Zitate aus der Bibel und anderen Autoren, die durch Kursivierung hervorgehoben und durch Randanmerkungen ihrer Quelle zugeordnet werden, muss der Leser sich das Ausmass der Sallustbenutzung Goldast selbst erschliessen. Ein lateinkundiges Publikum konnte sich daran erfreuen, solche Zitate und intertextuellen Bezüge zu erkennen, und sich dabei in seinem elitären Selbstbewusstsein, bildungsmässig über die breite Masse erhoben zu sein, bestätigt fühlen. Diese Selbstbestätigung war erfreulicherweise mit keiner allzu grossen Mühe verbunden, denn Sallust hat aufgrund seiner relativen sprachlichen Einfachheit stets zu den in der Schule meiststudierten römischen Autoren gehört, seine Kenntnis setzte also kein Spezialwissen voraus. 

Hinsichtlich der biblischen Zitate muss angemerkt werden, dass Goldast als selbstbewusster Protestant nicht die Vulgata des Hieronymus benutzt. Es handelt sich bei der von ihm verwendeten lateinischen Bibelversion um die in reformierten Kreisen beliebte und oft neu aufgelegte Übersetzung des Alte Testaments von Immanuel Tremellius (1510-1580), eines gelehrten jüdischen Konvertiten zum Calvinismus, die unter Mithilfe seines reformierten Theologenkollegen Franciscus Junius d. Ä. (1545-1602) entstand und erstmals zwischen 1575 und 1579 in Frankfurt a. M. in fünf Teilen bei Wechel erschienen war. Sie gehört zu den nicht wenigen protestantischen Neuübersetzungen der Bibel ins Lateinische, die im 16. Jahrhundert mit Rücksicht auf die auch im Bereich des neuen Glaubens unveränderte Bedeutung des Lateinischen als Sprache der gelehrten Bildung auf Basis der hebräischen und griechischen Texte erstellt wurden. Wir wissen nicht, welche der verschiedenen Drucke dieser Bibel Goldast während seiner Arbeit am Carolus Allobrox vorliegen hatte.

Über die Ziele, die Goldast mit seinem Carolus Allobrox verfolgte, liegen keine Informationen vor. Angesichts seiner oft prekären Lebensumstände wäre es zwar eine plausible Vermutung, dass er sich vom Genfer Rat eine Belohnung erhoffte; allerdings ist kein entsprechendes Anersuchen Goldasts nachweisbar. Gardys Vermutung, dass Goldast in diesem Falle einmal ohne Rücksicht auf persönliche Interessen und aus reiner Sympathie für das heldenhafte Genf literarisch tätig geworden sei, halten wir allerdings für allzu weltfremd und unvereinbar mit der Persönlichkeit Goldasts, wie sie uns in den erhaltenen Zeugnissen entgegentritt.

Als Druckort für den Carolus Allobrox lässt sich Zürich annehmen, denn im Juli 1603 berichtet ihm sein Zürcher Freund Waser über die von ihm überwachten Druckfortschritte eines von ihm nicht namentlich genannten Werkes, bei dem es sich um den Escalade-Bericht gehandelt haben dürfte. In dieser Edition steht zwischen dem Titelblatt und dem Carolus Allobrox eine Seite mit mehreren Zitaten: ein kurzes Elogium Genevae aus der Feder des reformierten Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel sowie drei kurze Zitate aus Horaz (Epod. 16, 6), Cicero (Pro Fonteio 7 [15]) und Florus (3,2) über die Allobroger (also gleichsam die Vorfahren der Savoyer), die für letztere wenig schmeichelhaft sind. Am Ende folgen dann auf den Carolus Allobrox noch mehrere Seiten Paratexte: ein Ausschnitt aus dem Hexametergedicht Geneva deliberata von Antoine de La Faye, das noch 1602 in Genf bei Chovetus direkt unter dem Eindruck der Escalade erschienen war; ferner ein gegen die antiken Allobroger gerichtetes Zitat, wiederum aus Ciceros Rede Pro M. Fonteio (16 [36]); eine an den Autor des Carolus Allobrox adressierte griechische poetische Paraphrase des Psalms 123 in Hexametern (von einem gewissen «D. I. M.») sowie vier weitere Gedichte in verschiedenen Metren, die in unterschiedlicher Weise auf den Sieg Genfs Bezug nehmen und deren Autor unter dem Kürzel «G. G. D.» firmiert. Wahrscheinlich noch im gleichen Jahr wie diese Erstedition erschien auch in Genf eine Ausgabe des Carolus Allobrox, die auf die Verfasserangabe Sallustius Pharamundus verzichtet und somit nach aussen völlig anonym bleibt. Diese Edition ist weitestgehend textidentisch, verzichtet allerdings auf die in der Zürcher Ausgabe vorangestellten und angehängten Paratexte ebenso wie auf die Randanmerkungen mit Quellenangaben. Eine französische Übersetzung des Carolus Allobrox erschien ebenfalls noch 1603, wahrscheinlich beim Genfer Druckerverleger Jean II de Tournes; sie wurde erst im 20. Jahrhundert von dem Genfer Bibliothekar Frédéric Gardy wieder ans Tageslicht gezogen. Ob sie vor oder nach der Genfer Edition des lateinischen Textes erschien, müssen wir hier offenlassen.

 

Unsere Textauswahl

Eine Gesamtpräsentation und -übersetzung dieses Textes ist in einem anderen Kontext vorgesehen. Für die Teilpräsentation auf Humanistica Helvetica legen wir die Zürcher Ausgabe inklusive ihrer Randanmerkungen zugrunde und wählen als erstes die Vorrede Goldasts, aus der die dem Carolus Allobrox zugrundeliegenden (geschichts-)theologischen Überzeugungen des Autors deutlich werden, sowie das unmittelbar daran anschliessende schwarze Porträt des savoyischen Herzogs, das mit seinem ausgeprägten invektiven Charakter eine der literarisch stärksten Passagen der Schrift ist.

Goldast, der Sallustius Pharamundus, beginnt sein Buch mit einer Reflexion, die deutlich auf den Beginn des sallustianischen Bellum Iugurthinum anspielt, deren Aussagen jedoch im christlichen Sinne korrigiert. Sallust hatte bemängelt, dass die Menschen sich nicht von der Tugend/Tapferkeit (virtus) leiten lassen. Goldast dagegen bezeichnet es als Fehler der Menschen, dass sie sich zu sehr von ihrer eigenen virtus und nicht von Gott leiten lassen, von Gott, zu dessen Allmacht und vorherbestimmender Kraft sich Goldast sogleich unter Heranziehung biblischer Zitate bekennt. Gott schütze die redlichen und ihn in rechter Weise verehrenden Menschen; die Schlechten aber überlasse er sich selbst. Und so sei der wichtigste Schutz eines Staatswesens die sittliche Haltung seiner Bürger. Für diese Einsicht beruft sich Goldast auf den Gottesstaat des Augustinus, den antiken Komödiendichter Plautus sowie die Rede des Ammoniters Achor aus dem Buch Judith, mit der dieser den Holofernes vergeblich von seinen Feldzugsplänen gegen die Juden abzubringen versucht. Das Zitat aus Augustins De civitate Dei 2,16 lädt dazu ein, sich an dessen Zweistaatenlehre zu erinnern und bereitet den Leser darauf vor, die Auseinandersetzung zwischen Genf und Savoyen als einen Kampf zwischen Gut und Böse zu verstehen. Wie bereits erwähnt, werden derartige Übernahmen aus der Bibel und anderen Autoren vom Autor selbst durch Kursivierung und Angabe der Fundstellen eindeutig kenntlich gemacht (in unserer Präsentation geschieht dies in den Fussnoten). Die Sallustbezüge herauszufinden wird dagegen der Findigkeit der gelehrten Leser überlassen, die allerdings schon durch das Autorenpseudonym hinreichend sensibilisiert sein dürften, um nach entsprechenden Textstellen Ausschau zu halten.  

An die einleitenden geschichtstheologischen Reflexionen Goldasts schliesst sich nahtlos das Porträt des Savoyer Herzogs an. Karl Emmanuel wird als körperlich verkrüppelter böser Mann dargestellt, der sich für das Okkulte interessiert und nur auf Zerstörung aus ist. Goldast bedient sich hier zum einen bei den Versatzstücken einer nicht in allen Punkten sachlich begründeten schwarzen Legende, die die Gegner des Herzogs um seine Person herum gesponnen hatten. Zum anderen stellt Goldast mit intertextuellen Bezügen eine unverkennbare typologische Beziehung zwischen dem Savoyer Herzog und der Gestalt des Hochverräters und Staatsfeindes Catilina im gleichnamigen Geschichtswerk des Sallust her. Die Catilinagestalt wird dabei in negativer Hinsicht vom Savoyer Herzog überboten, denn während Sallust seinem Schurken neben seinem schlechten Charakter zumindest geistige und körperliche Kraft attestiert, beschreibt Goldast den Herzog als charakterlich schlecht und als geistesschwachen Krüppel. Mit Zitaten aus der Heiligen Schrift unterstreicht Goldast die von ihm vorgenommene Gleichsetzung der vom Herzog bedrängten Genfer Reformierten mit dem erwählten Volk des Alten Bundes und stilisiert den Herzog zum würdigen Nachfolger des Pharaos im Buche Exodus und des Holofernes im Buche Judith. Letzteres wurde von den Protestanten zwar als apokryph betrachtet, da es nicht auf Hebräisch, sondern erst in der griechischen Septuaginta überliefert ist; das schloss aber eine Wertschätzung und frommes Bedenken seines Inhalts nicht aus. Aus den Genfer Reformierten werden somit die zeitgenössischen Nachfolger des Volkes Israel. Goldast greift damit eine im französischen und Genfer Calvinismus bereits seit dem 16. Jahrhundert verbreitete Selbstwahrnehmung auf; dort waren, anders als bei anderen Reformierten (wie in den Niederlanden oder auf den britischen Inseln), alttestamentliche Ereignisse Personen als Bezugspunkte der Selbstdarstellung sogar bedeutsamer als solche aus dem Neuen Testament oder der frühen Kirche der Märtyrer. In der Summe machen diese literarischen Bezüge von Anfang an klar, dass es sich im Folgenden um eine bewusst parteiische Darstellung handeln wird.

Aus Sicht der modernen historischen Forschung korrekturbedürftig ist, was Goldast über die äusseren Einflüsse sagt, denen Karl Emmanuel unterlegen habe. Er vermittelt den Eindruck, Karl Emmanuel sei in seinen Plänen gegen Genf vom Papst und dem spanischen König bestärkt worden. Die historische Realität sah anders aus: Der Papst, der eine erneute Unstimmigkeit zwischen den beiden katholischen Grossmächten Spanien und Frankreich (welches keine savoyische Eroberung Genfs wünschte) vermeiden wollte, redete Philipp III. von Spanien eine aktive Unterstützung der savoyischen Pläne gegen Genf aus. Philipp erklärte sich nur bereit, Karl Emmanuel dabei zu helfen, Genf in seinem Besitz zu halten, wenn er es denn einmal aus eigener Kraft eingenommen haben sollte. Der spanische Botschafter in Savoyen wurde von Karl Emmanuel vor der Escalade nicht über die bevorstehende Operation informiert. Goldast steht mit seiner falschen Interpretation der spanischen Rolle nicht alleine da, die von ihm vertretene Deutung war bis zur Aufarbeitung der historischen Quellen im 19. und 20. Jahrhundert die vorherrschende.

Als zweiten und abschliessenden Abschnitt präsentieren wir auf diesem Portal den Bericht über die Hinrichtung der kriegsgefangenen Savoyer (der Goldast unter anderem Gelegenheit zu antikatholischem Spott bietet) und über das ehrenhafte Gedächtnis, das Genf seinen eigenen toten Heldensöhnen zuteilwerden lässt. Die von Goldast ausführlich (wenngleich historisch nicht vollkommen korrekt) berichtete Vorgeschichte der nächtlichen Attacke sowie der detailliert geschilderte Ablauf der Escalade kamen aufgrund ihres Umfangs für dieses Portal nicht in Frage, zumal es auch nicht möglich ist, aus ihnen einzelne Passagen herauszuschneiden, da diese ohne ihren Kontext in der Regel weitgehend unverständlich bleiben würden. Wir wollen hier jedoch zumindest erwähnen, dass Goldast seinen Freund und Förderer Lect als Genfer Gesandten im zeitlichen Vorfeld der Escalade dem Savoyer Herzog in einem Rededuell gegenüberstellt (B2vo ff. in der Zürcher Ausgabe).

In dem von uns präsentierten zweiten Textausschnitt erfährt man, wie die Genfer juristisch Rache an den Kriegsgefangenen nahmen. Eine derartige Siegerjustiz ist moralisch keineswegs über jeden Zweifel erhaben, doch derartige Bedenken haben in der bewusst einseitigen, progenferischen Darstellungsweise Goldasts keinen Platz. In seinen Augen ist den hingerichteten Savoyern spiegelbildlich das widerfahren, was sie den Genfer zugedacht hatten, und mit einer zu dieser Überzeugung passenden Maxime aus dem klassischen römische Recht rechtfertigt er ihre Bestrafung. Auch in diesem Abschnitt fehlt nicht der Rückgriff auf das Alte Testament. Wieder wird Karl Emmanuel zu grossen Feinden des Volkes Israel in Beziehung setzt, indem Goldast ihn zur Verdeutlichung seiner Gesinnung gegenüber den Genfern Worte des Pharaos aus dem Buche Exodus und des Holofernes aus dem Buche Judith in den Mund legt, die seinerseits bei ihren Rasen gegen das erwählte Volk gescheitert waren. Einen wesentlichen Unterschied bringt Goldast dabei allerdings nicht zur Sprache: Während der Pharao und Holofernes selbst zu Tode kamen, traf es im Falle des Herzogs nur einige von dessen Offizieren und Soldaten. Die Szene der Verurteilung und Hinrichtung gestaltet Goldast literarisch in Anlehnung an die Verurteilung und Hinrichtung der in Rom gefangenen catilinarischen Verschwörer gemäss der Darstellung bei Sallust (Catil. 55,1-6), wobei ihm einige sachliche Parallelen zur Hilfe kommen (rasche Hinrichtung, um eine Entscheidungsänderung zu verhindern; hohe Abkunft der namentlich genannten Hingerichteten).

Die geweihten Talismane, mit denen viele der katholischen Soldaten gegen Genf ins Feld gezogen waren, geben Goldast Gelegenheit, über den Aberglauben der Katholiken zu spotten. Seine Darstellung, die Soldaten hätten diese Talismane von Jesuiten erhalten, ist historisch zutreffend (der aus Schottland stammend Alexandre Hume hatte sich in dieser Hinsicht unrühmlich hervorgetan) und wirft auf diese Seelsorger kein gutes Licht, zumal sie damit klar gegen kirchliche Weisungen handelten.

 

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