Die Genfer Escalade
Traduction (Allemand)
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Karl Emmanuel von Savoyen wurde am 12. Januar 1562 auf Schloss Rivoli im Piemont als Sohn des später im Text noch erwähnten Herzogs Philibert-Emmanuel geboren, dem er nach dessen Tod 1580 nachfolgte. Sein Wunsch, Genf zu erobern, ist vor dem Hintergrund seines Traums einer Wiederherstellung des Burgunderreiches mit spanischer Hilfe und einer Rekatholisierung zu sehen. Nach dem Scheitern seiner Pläne bezüglich Genfs kümmerte er sich vermehrt um Italien. Er verstarb am 26. Juli 1630 in Savigliano im Piemont. S. zu ihm M. Piguet, «Savoyen, Karl Emmanuel von», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 28.06.2011, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/041521/2011-06-28/; V. Castronovo, «Carlo Emanuele I, duca di Savoia», Dizionario Biografico degli Italiani 20 (1977), Onlineversion, https://www.treccani.it/enciclopedia/carlo-emanuele-i-duca-di-savoia_(Dizionario-Biografico)/ (letzter Aufruf am 4. Juni 2024).
2
Jer 11,20. Wir erinnern hier daran, dass Goldast im Lateinischen das Alte Testament nicht nach der traditionellen Vulgata, sondern nach der calvinistischen Neuübersetzung von Immanuel Tremellius und Franciscus Junius zitiert (s. dazu ausführlicher unsere Einführung).
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Ps. 127,1-2; das entspricht der auch heute in den meisten Bibelausgaben verwendeten Psalmenzählung gemäss dem hebräischen Text. Goldast verwendete für seinen lateinischen Schriftzitate, wie bereits in der vorigen Anm. erwähnt, nicht die traditionelle Vulgata des Hieronymus die in der Psalmenzählung der griechischen Septuaginta folgt, sondern die calvinistische lateinische Neuübersetzung der Psalmen von Immanuel Tremellius, die, wie im Protestantismus üblich, dem hebräischen Text folgt (auch die meisten modernen Bibelübersetzungen folgen heute konfessionsübergreifend der hebräischen Zählung).
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2 Kön 2,12.
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Ps. 31,4.
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Ein Zitat aus dem Gottesstaat des Augustinus (Aug. civ. 2,16). Der Kirchenvater Augustinus von Hippo wurde von den Reformatoren sehr verehrt.
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Goldast zitiert hier aus dem derben Intrigenstück Persa des römischen Komödiendichters Plautus (vor 250-184 v. Chr.): Persa 554-560.
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Jdt 5,21-22. Hier wird bereits deutlich, dass Karl Emmanuel ein neuer Holofernes ist.
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Charles de Simiane, Herr von Albigny, hatte ursprünglich in den französischen Religionskriegen für die katholische Liga gekämpft und stand seit den 1580ern in Kontakt zu Herzog zu Herzog Karl Emmanuel, dessen Berater er 1601 wurde. Er plädierte für eine prospanische und antifranzösische Politik. S. zu ihm etwa https://www.bge-geneve.ch/iconographie/personne/charles-de-simiane (letzter Aufruf am 23. Juli 2024).
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Turin war seit 1563 die Residenzstadt des Herzogtums von Savoyen.
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Karl Emanuel war in der Tat leicht missgebildet. S. dazu allerdings auch Gal (2016): «les accusations de difformité de ce duc ne reposent sur rien de véritablement fiable. Certes, des contemporains purent mentionner que, à sa naissance, le petit prince était un peu ’rilevato nella schiena’ (littéralement : ‘relevé de l’échine’), autrement dit un peu bossu, ce qui lui valut le méchant surnom de ‘il gobbo dei Savoia’, ‘le bossu des Savoie’. Mais l’expression fut abusive, assurément, car rien par la suite n’atteste la persistance d’une malformation, ni dans les textes ni sur les portraits, pas même sur les armures portées par le duc et dont un certain nombre pourtant sont parvenues jusqu’à nous.» – «Die Vorwürfe, dass der Herzog deformiert gewesen sei, haben kein wirklich zuverlässiges Fundament. Zeitgenossen erwähnten zwar, dass der kleine Prinz bei seiner Geburt ein wenig ‘rilevato nella schiena’ (wörtlich: ‘mit erhöhter Wirbelsäule ausgestattet’), also ein wenig bucklig war, was ihm den bösartigen Spitznamen ‘il gobbo dei Savoia’, ‘der Bucklige von Savoyen’, einbrachte. Diese Bezeichnung war jedoch sicherlich übertrieben, denn in der Folgezeit gab es weder in Texten noch auf Porträts noch bei den Rüstungen, die der Herzog trug und von denen einige bis heute erhalten geblieben sind, Anzeichen für eine anhaltende Missbildung.»
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Pate für diese einleitende Beschreibung steht hier der Beginn von Sallusts Catilinaporträt (Catil. 5,1) : nobili genere natus, fuit magna vi et animi et corporis, sed ingenio malo pravoque. Der Vergleich dieser Stelle mit der unseren ist auch aufschlussreich, weil er zeigt, wie Goldast seinen Herzog noch negativer stilisiert als Sallust den Catilina. Catilina besitzt zwar einen schlechten Charakter, aber einen kräftigen Körper und Geist; am Herzog ist einfach alles schwach und schlecht. Weitere Anklänge an das Catilinaporträt Sallust weisen wir in den Anmerkungen zum lateinischen Text nach.
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Dieser Vorwurf konnte in den Augen von Zeitgenossen wohl Zustimmung finden. Nach seiner Ehe mit der 1598 verstorbenen Infantin Katharina von Spanien zeugte Karl Emmanuel noch mit sechs verschiedenen Frauen elf uneheliche Kinder.
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Man kann in diesem Kontext vielleicht auch an Bernard Bluet d’Arbères (1566-1606) erinnern, den Sohn einer armen calvinistischen Bauernfamilie, konvertierte zum Katholizismus und hatte mehrere Jahre (bis 1599) am Hofe Karl Emmanuels eine bizarre Position als eine Art Hofnarr, der zugleich als Wahrsager und Visionär auftrat. Er wurde vom Herzog einerseits freigiebig unterstützt, andererseits immer wieder sadistisch misshandelt. S. zu ihm «Folie, visions et magie à la cour de Savoie : La vie de Bernard Bluet d’Arbères, comte de Permission, visionnaire et domestique du duc de Savoie Charles-Emmanuel Ier (1566-1606)», Revue savoisienne 147 (2007), 247-270 (zu Misshandlungen: 264-265).
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Emmanuel Philibert, geboren 1528, war ab 1553 bis zu seinem Tod 1580 Herzog von Savoyen. S. zu seinem Leben und Wirken E. Stumpo, «Emanuele Filiberto, duca di Savoia», Dizionario Biografico degli Italiani 42 (1993), Onlineversion, https://www.treccani.it/enciclopedia/emanuele-filiberto-duca-di-savoia_(Dizionario-Biografico)/ (letzter Aufruf am 4. Juni 2024).
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Papst war damals Clemens VIII. (Ippolito Aldobrandini, reg. 1592-1605), s. zu ihm A. Borromeo, «Clemente VIII, papa», Dizionario Biografico degli Italiani 26 (1982), Onlineversion, https://www.treccani.it/enciclopedia/papa-clemente-viii_(Dizionario-Biografico)/ (letzter Aufruf am 4. Juni 2024). König von Spanien war Philipp III. (reg. 1598-1621); S. zu ihm P. C. Allen, Philip III and the Pax Hispanica, 1598-1621. The Failure of Grand Strategy, New Haven u. a., Yale University Press, 2000. Herzog Karl Emmanuel hatte 1585 eine Halbschwester Philipps, die Infantin Katharina (1567-1597), geheiratet, die ihm zehn Kinder gebar.
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Die Cottischen Alpen liegen im heutigen Grenzgebiet von Frankreich und Italien. In der Antike befand sich dort ein kleines Keltenkönigreich (Cottii Regnum), das ab Caesars Gallienfeldzug unter römischem Einfluss stand und 64 n. Chr. dem römischen Reich einverleibt wurde. Goldast verwendet den Begriff hier synonym mit burgundisch, weil dieser Bereich im Mittelalter Teil des Königreichs Burgund war.
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Die historische Realität sah anders aus: Der Papst, der eine erneute Unstimmigkeit zwischen den beiden katholischen Grossmächten Spanien und Frankreich (welches keine savoyische Eroberung Genfs wünschte) vermeiden wollte, redete Philipp III. von Spanien eine aktive Unterstützung der savoyischen Pläne gegen Genf aus. Philipp erklärte sich nur bereit, Karl Emmanuel dabei zu helfen, Genf in seinem Besitz zu halten, wenn er es denn einmal aus eigener Kraft eingenommen haben sollte. Der spanische Botschafter in Savoyen wurde von Karl Emmanuel vor der Escalade nicht über die bevorstehende Operation informiert. S. dazu Fatio/Nicollier (2002), 71-75.
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Die vier jedes Jahr neugewählten Prokuratoren bzw. Syndics übten wichtige Funktionen im Bereich des Rechts und der Verwaltung aus und präsidierten allen Räten und Kammern im Genfer politischen System. S. zu ihnen HLS DHS DSS, «Syndic (GE)», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 18.02.2014, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010253/2014-02-18/.
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Hier und im Folgenden findet man im lateinischen Text einige deutliche Anklänge an Sallusts Coniuratio Catilinae, besonders die auf Hinrichtung der in Rom gefangenen Catilinarier zielenden Rede des Cato in Catil. 52. Im Einzelnen s. dazu unsere Anmerkungen in der Edition des lateinischen Textes.
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Schon in dem in unserer Einleitung erwähnten Rededuell zwischen dem Genfer Gesandten Lect und Karl Emanuel hatte der Genfer den Herzog mahnend auf die traditionell guten Beziehungen (die er unter anderem auch mit dem Wort amicitia charakterisiert) hingewiesen, die zwischen den früheren Herzögen von Savoyen und ihren Nachbarn bestanden habe (B2vo).
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Es war den Stadtoberen mit der Aburteilung und Hinrichtung ihrer Gefangenen so eilig, dass sogar die eigentlich ausgeprägt starke Sonntagsheiligung in Genf dahinter zurückstehen musste. Im lateinischen Text erkennt man hier Anklänge an Sallust, Catil. 55,1, wo dieser beschreibt, wie man die Hinrichtung der in Rom gefangenen catilinarischen Verschwörer nach deren Verurteilung rasch betrieb, um jede Änderung dieser Entscheidung zu verhindern (vgl. dazu unsere Anmerkungen in der Edition des lateinischen Textes).
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Jacques de Chaffardon https://francearchives.gouv.fr/fr/facomponent/e5919d658cb2f1345a3ff686949f89302cf5bbf0 und François de Gerbaix de Sonnaz waren savoyische Edelleute. https://francearchives.gouv.fr/fr/findingaid/169f3c6b21285aabd7e7847bb8664ef6506d59fc
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Mit den gleichen Worten (Goldast: cui praeceptum fuerat, laqueo gulas fregit; Sallust: quibus praeceptum erat laqueo gulam fregere) bechreibt Sallust die Hinrichtung die Hinrichtung mehrerer catilinarischer Verschwörer im carcer Tullianum, dem römischen Staatsgefängnis (Catil. 55,5), wobei dort allerdings kein Galgen zur Verwendung kam, sondern die Delinquenten einfach stranguliert wurden.
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Bemerkenswerterweise scheint Goldast hier sagen zu wollen, es wäre für die Gefangenen besser gewesen, wenn sie sich nicht ergeben, sondern bis zum letzten Atemzug gekämpft hätten. Das Hängen gehörte zu den für den Delinquenten entehrenden Todesstrafen (anders als das Enthaupten), für die betroffenen Edelleute alt das umso mehr. Auch Sallust betont in Catil. 55,6 mit Blick auf den als ersten hingerichteten catilinarischen Verschwörer Lentulus dessen hohe Abkunft (die er mit den dann genannten Hingerichteten teilt).
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Ein sehr tendenziöser Gedanke: Sonatius hatte demgemäss kein Recht, den Tod seines Vaters zu rächen, weil die Genfer diesen ihrerseits zu Recht getötet hatten.
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Gemeint ist die Heilige bzw. Katholische Liga, die in den Hugenottenkriegen gegen diese französischen Calvinisten kämpfte.
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Man fragt sich wieder irritiert, ob Goldast es denn wirklich besser gefunden hätte, wenn diese Männer bis zum bitteren Ende gekämpft hätten; wäre doch dadurch unweigerlich auch die Zahl der Genfer Opfer gestiegen.
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Anders als die Lutheraner lehnen die Schweizer Reformierten sogar die bildliche Darstellung des Kreuzes ab.
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Der aus Schottland stammende Jesuitenpater Alexandre Hume, den Franz von Sales als Direktor des Kollegiums von Thonon eingesetzt hatte, hatte diese Zettel geweiht. S. dazu W. Deonna, «L’Escalade de 1602: ‘les billets’ du Père Alexandre», Schweizerisches Archiv für Volkskunde 41 (1944), 73-105 und 113-158. Eigentlich war die Verteilung solcher Talismane katholischen Klerikern kirchlicherseits strikt untersagt (ebd., 138-140); das Handeln Pater Humes zeigt, warum solche Verbote immer wieder erneuert werden mussten. Die einfachen Soldaten mussten diese Zeichen geradezu in abergläubischer Weise missverstanden.
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Manche sahen in dieser Zahl eine geheimnisvolle Verbindung zu der Tatsache, dass die Genfer Reformation damals gerade 67 Jahre alt geworden war; s. W. Deonna, «L’Escalade de 1602: ‘les billets’ du Père Alexandre», Schweizerisches Archiv für Volkskunde 41 (1944), 73-105 und 113-158, hier 145.
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Sie blieben dort mit Blickrichtung Savoyen bis zum Friedensschluss von Saint-Julien im Juli 1603 befestigt.
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In margine: Ulpian lib 1 § 1. D. Quodquisque vir. In alt. Stat etc. Es handelt sich um Digeste 2.2.1 pr. 1. Ulpian (†223 oder 228 n. Chr.) war ein bedeutender kaiserzeitlicher Jurist, aus dessen Werk grössere Teile Eingang in die Digesten (auch: Pandekten) gefunden haben, die unter Kaiser Justinian zwischen 530 und 533 erstellte Kompilation des klassischen römischen Rechts. Man kann in dieser dem römischen Recht entnommenen Maxime einen Reflex von Goldasts juristischen Studien erkennen; die Beschäftigung mit den Digesten gehörte zu den grundlegenden Erfordernissen eines damaligen Jurastudiums.
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Das heisst Karl Emmanuel I.
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Exodus 15,9. Karl Emanuel setzte den Genfern also zu wie einst Pharaoh dem Volke Israel.
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Jud 16,6. Wieder wird deutlich, dass Karl Emanuel ein neuer Holofernes ist.
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Vgl. Jud 16,7: Goldast passt das Zitat an seinen Kontext an und schreibt manu robusta (mit starker Hand) statt manu foeminae (durch die Hand einer Frau [=Judith]).
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Jg 5,31.
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Das widersprach eigentlich den calvinistischen Sitten, die Grabmonumente ablehnten; vgl. P. Geisendorf, «L’Escalade», in Geisendorf (1952), 153-193, hier: 192. Man muss bedenken, dass Calvin 1564 auf eigenen Wunsch eine unmarkierte Grabstätte erhalten hatte (das immer noch äusserst schlichte Grab in seiner heutigen Gestalt auf dem Cimetière des Rois ist eine Schöpfung des 19. Jh.). Das Monument für die Genfer Gefallenen der Escalade zeigt daher, wie sehr die Stadt im Innersten aufgerührt war.
40
Cic. Phil. 14,31; die Randanmerkung in der Zürcher Ausgabe schreibt das Zitat fälschlich «Cic. de Ami.» zu.
41
Im Bestand des Genfer Musée d’Art et d’Histoire haben sich authentische Erinnerungsstücke an die Escalade bis heute erhalten. S. dazu C. Bosson, «Souvenirs de l’Escalade au Musée d’Art et d’Histoire», in: Geisendorf (1952), 461-485.
42
Man beachte, wie geschickt hier Goldast insinuiert, dass sich alle Genfer Kämpfer tapfer verhalten hatten.