Brief an Zwingli: Dank- und Huldigungsschreiben

Nicolaus Hagaeus

Einführung: Clemens Schlip (traduction française: Kevin Bovier). Version: 04.09.2023.


Entstehungsdatum: 2. April 1520 (Briefdatum).

Handschrift: ZB Zürich, Ms F 46, fol. 108ro-vo.

Ausgabe: Huldreich Zwinglis sämtliche Werke, Bd. 7, Leipzig, Heinsius, 1911, Nr. 130, 294-296 (lat. Text ohne Anm. auch hier: https://www.irg.uzh.ch/static/zwingli-briefe/?n=Brief.130).

 

Der hier präsentierte Brief an Ulrich Zwingli stammt von Nicolaus Hagaeus (auch Hagius, deutsch: Hagen). Der gebürtige Solothurner war in Zürich und später auch in Luzern Schüler des Oswald Myconius (1488-1552), den er auch in diesem Brief rühmend erwähnt. In der letztgenannten Stadt wurde Hagaeus Provisor. Sonst ist über seine Person nichts bekannt. Der hier präsentierte Brief ist das einzige erhaltene Schriftzeugnis von ihm.

Man kann diesen Brief als ein humanistisches Dank- und Huldigungsschreiben an den von Hagaeus bewunderten Zwingli bezeichnen. Der Solothurner hebt darin drei Aspekte von Zwinglis Wirken hervor, deren segensreiche Bedeutung für ihre gemeinsame Schweizer Heimat er betont. Zum einen dankt er Zwingli für seine Opposition gegen die fremden Solddiensten, die bisher dazu geführt hätten, dass die Schweizer sich sinnlosen Kriegen beteiligten und dafür einen hohen Blutzoll entrichteten. In der Tat hatte Zwingli bereits in seiner Zeit als Einsiedler Leutpriester (1516-1518) öffentlich gegen die Reisläuferei gepredigt, was wohl auch auf die Erfahrungen zurückzuführen ist, die er als Feldprediger der Glarner Truppen in den Jahren 1513 (Schlacht von Novara) und 1515 (Schlacht von Marignano) gemacht hatte. Auch als Zürcher Leutpriester (ab 1518/19) blieb er seinen politischen Überzeugungen treu. Zwei Jahre nach dem hier präsentierten Brief (1522) sollte Zwingli in Zürich bei Christoph Froschauer seine Schrift Ein göttlich Vermanung an die ersamen, wysen, eerenvesten, eltisten Eydgnossen zuo Schwytz veröffentlichen, in der er seine Ablehnung der Solddienste klar zum Ausdruck brachte. Hagaeus führt Zwinglis Engagement gegen die Reisläuferei auf dessen christliche Überzeugungen zurück und hebt hervor, dass die Schweizer vor Zwingli zwar grosse Militärs und Freiheitskämpfer (er spricht metaphorisch und mit Blick auf grosse Gestalten der römischen Geschichte von «Scipionen, Juliern und Brutussen»), aber keine Lehrer des authentischen christlichen Evangeliums gehabt hätten. Damit kommt man zu dem zweiten, im engeren Sinne christlichen Aspekt von Zwinglis Wirken, den Hagaeus hervorhebt: sein Engagement für das Evangelium. Man kann dies sogar als die Kernaussage dieses Schreibens ansprechen, denn Zwinglis Eintreten gegen die Solddienste ist in der Logik dieses Briefes letztlich Konsequenz seiner theologischen Haltung. Das gilt auch für den dritten in diesem Brief angesprochenen Aspekt von Zwinglis Wirksamkeit, die Wiedergeburt der Wissenschaften, von der Hagaeus glaubt, dass sie massgeblich durch den von Zwingli vertretenen christlichen Pazifismus ermöglicht werden wird. Hagaeus spricht geradezu wörtlich von einer Renaissance der Literatur (bonasque litteras renasci), die er in engem Zusammenhang mit der zuvor von ihm erwähnten Wiederherstellung der christlichen Religion durch Zwingli (evangelium, quod diu sub tenebris latuit, reflorescit) sieht. Bei allem Lob, das er Zwingli spendet, sieht er diesen nicht als Einzelkämpfer: er geht ausführlich auf seinen dem Zwingli sehr zugetanen Luzerner Lehrer Myconius ein (er vergleicht die Beziehung zwischen Zwingli und Myconius mit der Freundschaft zwischen Sokrates und dessen Schüler Alkibiades), erwähnt auch kurz Heinrich Glarean und lässt durchblicken, dass es noch andere grosse Talente in der Schweiz gibt. Zu beachten ist dabei, dass weder Zwingli noch Myconius zu diesem Zeitpunkt schon offen als Reformatoren aufgetreten waren (auch wenn Zwingli 1519/20 seine «reformatorische Wende» durchmachte, die ihn vom Humanismus erasmischer Ausprägung entferne sollte). So kann Hagaeus noch zwanglos Glarean neben sie stellen, der sich als Anhänger der alten Kirche (ungeachtet seiner Kritik an den in ihr bestehenden Missständen) einige Jahre später mit seinem früheren Freund Zwingli überwerfen sollte.

Der Grundgedanke dieses Schreibens ist also folgender: nachdem die Schweiz sich lange durch Kriegsruhm ausgezeichnet hat, bringt sie nun auch geistige Talente hervor, und dank Zwinglis Wirken (und dem seines Geistesgenossen Myconius und einiger anderer) eröffnet sich ihr die Möglichkeit, ein wirklich christliches Gemeinwesen und eine Heimstätte aufblühender Wissenschaft und Literatur zu werden. Dass derartige Gedanken damals in der Luft lagen, verrät ein Blick auf andere Texte in diesem Portal: sie begegnen bei Joachim Vadian in seinem Geleitgedicht zu Glareans Descriptio Helvetiae aus dem Jahre 1519, aber auch bei Oswald Myconius, dem Lehrer des Hagaeus, in seiner Vorrede zur Traueransprache des Johannes Augustanus Faber auf den Schweizergardehauptmann Kaspar von Silenen aus dem August 1518; unseren Brief darf man als Zeugnis dafür werten, wie sehr Myconius das Denken des Hagaeus in dieser Hinsicht beeinflusst hat.

Hagaeus rühmt Zwingli nicht nur dafür, was dieser der Schweiz an Gutem getan habe, sondern er dankt ihm auch in seinem eigenen Namen dafür, dass er ihm geholfen habe, ein besserer Christ zu werden. Dieses Lob geht nahtlos in einen Dank dafür über, dass Zwingli ihn in seinen Griechischstudien unterstütze (offensichtlich hat ihm Zwingli sein eigenes Exemplar des Lukian zur Lektüre ausgeliehen). Auch wenn es um ihn persönlich geht, verknüpft Hagaeus also wie selbstverständlich das Motiv der religiösen Erneuerung (wenn man nicht gleich sagen will: Reformation) mit dem der Renaissance der Wissenschaften; Liebe zum Evangelium und Liebe zu Lukian (einem heidnischen Schriftsteller) schliessen sich in seinen Augen offenbar nicht aus. Überhaupt greift er in diesem Brief gerne auf Bilder und Metaphern zurück, die er der paganen Antike entnimmt: nicht nur sind die schweizerischen Kämpfer früherer Generationen, wie bereits erwähnt, für ihn «Scipionen, Juliern und Brutussen», sondern er evoziert auch mythologische Unterweltsvorstellungen, wenn er sich vorstellt, wie die in sinnlosen Kriegen gefallenen schweizerischen Soldaten mit dem Geld, das sie Charon, dem Fährmann der Unterwelt, zahlen müssen, die Kassen des Unterweltsgottes Pluto füllen. Mit derartigen Kunstgriffen inszeniert er sich gegenüber seinem von ihm bewunderten Adressaten als ernstzunehmender, humanistisch gebildeter Gesprächspartner.

Der Brief des Nicolaus Hagaeus gewährt mit seiner interessanten Mischung aus wissenschaftlich-literarischem Renaissancebewusstsein, religiöser Reformationsfreudigkeit und helvetischem Patriotismus einen schätzenswerten Einblick in das Selbstbewusstsein eines jungen schweizerischen Humanisten im Dunstkreis des Zwingli und des Myconius im Jahre 1520. Noch hat die Zürcher Reformation nicht offen begonnen (das tat sie 1522), noch ist Myconius nicht als «Lutheraner» aus Luzern ausgewiesen worden (das geschah ebenfalls 1522). Und doch ist es kaum möglich, diesen Schreiben mit seiner Betonung der von Zwingli angestrebten Erneuerung der christlichen Religion nicht mit Blick auf jene bevorstehenden Umwälzungen zu lesen. Konnte Hagaeus im April 1520 auch nur von Ferne ahnen, wozu Zwinglis Wirken führen würde? Hätte er ihn auch dann gerühmt, wenn er es vorausgewusst hätte? Oder war seine Vorstellung von der Reform des christlichen Lebens milder, erasmisch geprägt? Diese Fragen drängen sich bei Betrachtung dieses Briefes auf, doch auf keine davon wird es wohl je eine Antwort geben.