Brief an Zwingli

Traduction (Allemand)

Gruss. Hochgelehrter Zwingli, Du bist derart menschlich hochgesinnt, dass Du auch Briefe von ungelehrten Leuten freudig empfängst. Wie würde ich es sonst wagen, Deine Würde mit meinem Unsinn zu stören, obwohl man mich kein bisschen oder auch nur im geringsten Grad mit einem Eingeweihten des Musendienstes vergleichen kann. Doch Deine einzigartige Güte und unglaubliche Humanität, von der schon auf dem ganzen Erdkreis öffentlich die Rede ist und von der auch ich (als ich mich in Zürich aufhielt) bei einem Zusammentreffen im privaten Rahmen gekostet habe, flösst mir so viel Zutrauen ein, dass selbst ich, ein Menschlein fast der verworfensten Sorte, nicht zögere, Deine Güte mit meinen spielerischen Bemerkungen anzurufen. Ich sehe nämlich überall, ich höre überall, wie die Leute, die ein eifriges Bemühen um Frömmigkeit und die edlen Wissenschaften leitet, sich für die Existenz eines solchen Mannes beglückwünschen; und wenn alle sehr recht daran tun, ist dies für niemanden so angemessen wie für die Schweizer, weil sie in Dir jemanden haben, der sie den Himmel lehrt und davor abschreckt, sich an höchst sinnlosen Kriegen zu beteiligen, wo sie doch bisher nichts als das Waffenhandwerk gekannt haben und sich selbst eingeredet hatten, sie würden geradezu zu den Himmlischen emporfliegen, indem sie sich bemühen, Charon viele Obolen zu zahlen und dass die Götter ihnen gnädig sein würden, wenn sie Plutos Schatzkammer füllten, wenn sie viele Menschen töteten, und sie wollen dennoch, dass man sie dafür einigermassen rühmt. Wenn man das Menschentöten lobt, erwerben sich Räuber nicht natürlich den höchsten Ruhm? Aber möge Gott eines Tages die Herzen der schweizerischen Vornehmen umwenden, damit sie mit ihren Ratschlüssen zum allgemeinen Frieden beitragen! «Daran werden sie erkennen, dass ihr meine Jünger seid, dass ihr einander liebt», hat Christus gesagt. Was heisst nämlich Christsein, wenn nicht ein Jünger Christi sein? Bis jetzt hat die Schweiz Scipionen, Julier und Brutusse genährt. Sie hat kaum den einen oder anderen genährt, der wirklich etwas von Christus versteht, der das Evangelium lehrt, der die noch ganz zarten Seelen der Knaben imprägniert, und zwar nicht mit diesen dornigen und zänkischen, sondern den wahren und heilsamen Wissenschaften, bis zu dem Tag, da die göttliche Vorsehung der Schweiz Zwingli als Redner schenkte und den Myconius als Erzieher ihrer unerfahrenen Jugend. Nun gelangen Redlichkeit, Anstand, Gerechtigkeit, ja sogar das Evangelium, das lange im Finstern verborgen lag, zu neuer Blüte, und die edle Wissenschaft erfährt eine Wiedergeburt. Was ist angenehmer, was süsser, was heilsamer als das Evangelium, was ist schliesslich heiliger? Es atmet nur Christus, in ihm verehren die frommen Seelen Christus selbst, als ob er zu ihnen spräche, es entfremdet die Menschen sehr stark von den Gütern dieser Erde und macht sie zu anderen Menschen, als sie es zuvor gewesen sind. Dass wir aber bisher so wenig christlich gelebt haben, ist nicht verwunderlich. Wir haben niemanden gehabt, der uns den wahren, höchst christlichen Paulus lehrte, ja der auch nur ein ganz kleines bisschen den Geruch der christlichen Religion an sich hätte. So kommt es, dass wir uns um nichts mehr bekümmern als um Kriege, Geld, das alle brüderliche Liebe verschwendet, und um Ehrgeiz, um dessentwegen Tausende Nachteile auf sich nehmen. Man glaubt nämlich, ein Staatswesen werde dann am besten verwaltet, wenn jeder sich tüchtig um seine eigenen Angelegenheiten kümmert. O Schweiz, um wie viel glücklicher wärest du, wenn es dir endlich vergönnt wäre, von den Kriegen zu ruhen! O Schweiz, lange schon berühmt durch deine Waffenkraft, wenn du dich doch endlich durch Redlichkeit und Tugenden noch berühmter machen wolltest und dieses dumme Zeug, um das die Heiden untereinander streiten, beiseitelegen wolltest! Krieg und Evangelium harmonieren nämlich so miteinander wie Lämmer und Wölfe, auch wenn es Leute gibt, die unter ich weiss nicht welchem Vorwand und vorgeschützten Gründen Krieg führen wollen. O Schweiz, glücklicher als viele anderen Regionen, da du so bedeutende Männer nährst, nämlich Zwingli, Glarean, Myconius und noch fruchtbarere Geister gebierst. Kein Land unter Phöbus’ Herrschaft liesse sich mit dir vergleichen, wenn du dich derart von den Kriegen fernhalten und den Ermahnungen des Evangeliums unterwerfen würdest.

Ich hoffe, dass in Kürze die Wogen des Krieges beruhigt sein werden, dass die Religion des christlichen Volkes, die schon vielfältig zusammengebrochen ist und täglich mehr zusammenbricht, wieder ausgebessert und wiederhergestellt wird, dass die edlen Wissenschaften wiedergeboren werden, die in Luzern im Moment Oswald Myconius als einziger lehrt, ein ebenso hochgelehrter wie höchst integrer Mann, zwei Eigenschaften, die in ihm so einander ebenbürtig sind, dass man nicht weiss, in welcher von den beiden er sich selbst übertrifft; ein Mann, der sich so sehr für Dich interessiert, dass Du ihn in höchstem Grade lieben musst, wenn Du einen Menschen liebst, der seinerseits Dich liebt. Nichts ist ihm teurer als Du (ich spreche die Wahrheit), er ist von einer solchen Liebe zu Dir ergriffen, wie man sie auch dem Alkibiades nicht zugestehen würde, von dem man sagt, er habe den Sokrates über alle Massen geliebt. Aber was rufe ich Dir das in Erinnerung, wo Du es innerlich und äusserlich erkennst? Aber ich danke nicht nur vielmals oder unsterblich, oder wie das gemeine Volk dies ausdrückt, sondern statte den Dank ab, den Christus Deinen Verdiensten mir gegenüber zuteilwerden wird, da die Wohltaten, die Du mir hast zuteilwerden lassen, nicht erlauben, dass ich nicht an Dich denke. Es wäre schon ein grosses Geschenk gewesen, von jemandem gute Sitten zu lernen. Aber von Dir und Myconius habe ich noch mehr empfangen, besonders, dass Du mich Christus verstehen, ihn nachzuahmen und zu ihm aufzublicken gelehrt hast – was, bitteschön, hätte mir Menschlein nützlicheres oder würdigeres zuteilwerden können? Und auch dies, dass ich eine Kostprobe von der griechischen Literatur gehabt habe. Und wenn sich mir doch eine Möglichkeit für einen Aufenthalt bei Dir böte! So sehr bin ich durch Dein Lukianexemplar zur griechischen Literatur gelockt worden. Kurz gesagt: wir heben uns hier eifrig zum Niveau der edlen und der heiligen Literatur empor. Man muss darum die Götter anrufen, dass sie Zwingli und Myconius möglichst lange unbeschadet für die Erneuerung und Verbreitung der christlichen Religion bewahren. Es lebe wohl Zwingli, die einzigartige Zierde der Schweiz, dessen Dienst ich mich widme und dem mich weihe mit meiner ganzen Person. Lebewohl.

Luzern im Jahre 1520 der Geburt aus der Jungfrau. Am 2. April. Richte dem Herrn Georg in meinem Namen beste Wünsche für sein Befinden aus. Von Herzen Dein Nicolaus Hagaeus aus Solothurn.

An den hochgelehrten und höchst vortrefflichen Herrn Ulrich Zwingli, den Prediger des Evangeliums in der Kirche von Zürich, seinen Lehrer und seinen unvergleichlichen Freund.