Brief über Paracelsus
Johannes Oporin
Einführung: Kevin Bovier (deutsche Übersetzung: Clemens Schlip). Version: 09.08.2023.
Entstehungsdatum des (verlorenen) Autographs: 26. November 1565. Dieses Datum wird erwähnt in der Wolfenbütteler Handschrift (s. unten): Ex Oporini Epistola 26 Novembris anno [15]65 Basileae ad D. Vierum scripta. Die Entdeckung dieser Handschrift durch C. Gilly erlaubt die Bestätigung der Datumsangabe von Johannes Staricius (dans Paracelse, Philosophia de limbo aeterno perpetuoque homine novo secundae creationis ex Iesu Christo Dei filio […], Magdeburg, Franken, 1618, fol. Aiiiro: Ioannes Oporinus in quadam sua epistola anno 1565 ex Basilea de iudicio admirandi medici Paracelsi ad Vierium medicum Iuliacensem [...]) und schliesst das Jahr 1555 aus, das irrtümlich in der niederländischen Übersetzung von Pieter van Foreest genannt wird (s. unten unter «Übersetzungen»).
Handschriften (Kopien): Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, Ms 991, fol. 12vo-14vo (1571 durch den Arzt Johannes Oberndorffer angefertigte Abschrift einer Rede des Medizinprofessors Gervasius Marstaller, Oratio de Theophrasti Paracelso eiusque Medicina); Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 13.7 Aug. 4o, fol. 231ro-232vo (auszugweise Abschrift durch Daniel Keller, genannt Cellarius, um 1580/1590).
Ausgaben (vollständiger Text oder Auszüge): Th. Erastus, Disputationum de medicina nova Philippi Paracelsi pars prima, Basel, Perna, [1571], 238-239 (Auszüge); B. Dessenius, Medicinae veteris et rationalis […] defensio, Köln, Gymnich, 1573, 204-206 (Auszüge in falscher Reihenfolge); M. Döring, De medicina et medicis adversus iatromastigas et pseudiatros libri II, Giessen, Hampeli, 1611, 259-263 (fast vollständiger Text); J. Francus, Discursus de chemicorum quorundam, non modo nova medicina et medendi ratione, sed etiam nova philosophia et theologia, Bautzen, Zipser, 1616, 37-39 (fast vollständiger Text); J. Freitag, Noctes medicae sive de abusu medicinae tractatus, Frankfurt a. M., Bringer für Berner, 1616, 114-118 (umfangreiche Auszüge in falscher Reihenfolge); D. Sennert, De chymicorum cum aristotelicis et galenicis consensu ac dissensu liber I […], Wittenberg, Schürer, 1619, 66-70 (Auszüge); J. A. Ballenstedt, Epistola gratulatoria natalis septuagesimi septimi ad virum magnificum, summe venerabilem atque excellentissimum dominum Hermannum von der Wardt, praepositum Mariaebergensem Academiaeque Juliae seniorem meritissimum qua simul de asylis ignorantiae in variis disciplinis, s.l., 1736, 15-20 (fast vollständiger Text); Domandl (1975), 391-392 (nach dem von Sennert gebotenen Text, s. o.); Benzenhöfer (1989), 62-63 (ausgehend von der Erlangener Handschrift); J. Paulus, Transkription der Versionen der oben erwähnten Texte (abgesehen vom Wolfenbütteler Manuskript) auf der Website Theatrum Paracelsicum (Version vom 04.09.2022).
Übersetzungen: Mittelfranzösische Teilübersetzung in M.-A. Prébonneaux, Traicté sur la refutation des abus mis en avant par Roc le Baillif surnommé la Riviere, sur l’art signé et physiognomie herbaire, Paris, Corbin, 1579, 57-65; vollständige niederländische Übersetzung von P. van Foreest in einer Handschrift mit dem Titel Van der Empiriken, Lantloeperen ende valscher medicyns bedroch […], um 1596 (Alkmaar, Regionaal Archief, Inventaris Van Foreest, Nr. 33), ediert in Geyl (1911), 427-430; deutsche Übersetzung in K. Sudhoff, Paracelsus. Ein deutsches Lebensbild aus den Tagen der Renaissance, Leipzig, Bibliographisches Institut, 1936, 46-49 (Übersetzung auf Basis der Textversion von D. Sennert, s. o. unter «Ausgaben»); W.-E. Peuckert, Theophrastus Paracelsus, Hildesheim, Olms, 1976 (Neudruck der Ausgabe Stuttgart, Kohlhammer, 1944), 144-147; Steinmann (1966), 4-5 (der mit einigen Modifikationen auf Peuckerts Übersetzung zurückgreift); Domandl (1975), 54-56.
Johannes Oporinus (Herbst, 1507-1568) gehörte zu den grossen Basler Druckern des 16. Jahrhunderts. Doch seine Karriere war nicht auf dieses Gewerbe beschränkt: der gebürtige Basler studierte in seiner Heimatstadt (sowie in Strassburg) und unterrichtete dort auch. Er war sogar Lateinprofessor an der Universität Basel (1533), bevor er Drucker wurde; zuerst in Gemeinschaft mit anderen, ab 1542 alleine. Unter den zahlreichen Werken, die er herausbrachte, kann man eine lateinische Koranübersetzung hervorheben, ferner das Werk De humani corporis fabrica des Andreas Vesalius oder auch die Magdeburger Centurien. 1567 endete die Geschichte seiner überschuldeten Firma mit ihrem Verkauf. Oporin verstarb im Folgejahr.
Der Text, der uns hier interessiert, ist ein Brief Oporins, oder besser: ein Auszug aus diesem Brief, in dem es um Philippus Theophrastus Aureolus Bombast von Hohenheim (1493-1541) geht, der besser unter dem Namen Paracelsus bekannt ist. Der gebürtige Einsiedler war Arzt, Alchemist, Philosoph und Theologe in einem. Seine Werke, die die Erkenntnisse der antiken Medizin (repräsentiert vor allem durch Hippokrates und Galen) in Frage stellten, erregten einen Skandal und sorgten selbst lange nach seinem Tod noch für Debatten zwischen seinen Anhängern und Gegnern. Der durch seinen Vater und durch Kleriker ausgebildete Paracelsus erlangte um 1515 ein Doktorat in Medizin und Chirurgie in Ferrara und war dann als Chirurg in verschiedenen europäischen Armeen tätig. Nach seiner Niederlassung in Salzburg und später in Strassburg wurde er 1527 zum Stadtarzt von Basel berufen und unterrichtete an der dortigen Universität. Allerdings brachten seine Entscheidung für Deutsch als Vorlesungssprache, sein antikonformistisches Medizinkonzept und sein schwieriger Charakter ihm Ärger ein, was so weit ging, dass er 1528 aus Basel fliehen musste. Es gelang ihm in der Folgezeit nicht, sich dauerhaft niederzulassen: Colmar, Nürnberg, Süddeutschland, St. Gallen, Appenzell, Tyrol, Pfäfers, Linz, Mähren, Pressburg, Wien, Kärnten sind einige der Orte, durch die er kam, ohne sich jeweils für mehr als einige Monate dort aufzuhalten. In St. Gallen behandelte er besonders den Bürgermeister Christian Studer (1458-1531) und versuchte vergeblich, die Gunst des Joachim Vadian zu gewinnen. Paracelsus verstarb 1541 in Salzburg. Seine zahlreichen Werke waren seit Beginn der 1560er Jahre zunehmend erfolgreich. In methodischer Hinsicht legte Paracelsus mehr Wert auf praktische ärztliche Erfahrung als auf Buchgelehrsamkeit; das brachte ihm Schwierigkeiten mit den Humanisten ein. Er stützte sich auf seine alchemistischen Kenntnisse, um Krankheiten zu erklären und Heilmittel zu entwickeln; dabei stellte er besonders die antike Säftelehre in Frage. Bei seinen theologischen Schriften, die weniger Bekanntschaft erlangten und zu einem grossen Teil bis ins 20. Jahrhundert unpubliziert blieben, handelt es sich vor allem um Psalmen- und Evangelienkommentare, in denen er diese Texte auf Basis seiner philosophischen und medizinischen Kenntnisse interpretierte.
Oporins Brief, dessen zweifelsohne verlorenes Original von 1565 datiert, gehört in den Kontext einer Kontroverse zwischen Kölner Ärzten und dem Paracelsisten Georg Fedro auf der einen, und den Galenisten Johann Echt, Bernardus Dessenius, Johann Weyer und Reiner Solenander auf der anderen Seite; die beiden letztgenannten waren die Ärzte des Herzogs von Kleve. Vielleicht geschah es auf Bitten Weyer, des vermutlichen Empfängers dieses Briefes, hin, dass Oporin ein unvorteilhaftes Porträt des Mannes zeichnet, dessen famulus er 1527-1528 gewesen war (Paracelsus war damals Stadtarzt von Basel). Paracelsus wird von Oporin als Trunkenbold und Wüterich dargestellt, der sein Geld verschwendet und sich keinen Deut um Hygiene sorgt; und selbst wenn Oporin eine gewisse Bewunderung für seine ärztlichen Kenntnisse erkennen lässt, macht er ihm doch auch seine gefährlichen Experimente zum Vorwurf, bei denen er selbst fast zu Schaden gekommen wäre…
Der Brief fand in Deutschland weite Verbreitung und wurde von den Gegnern des Paracelsus herangezogen, um sein Werk in Misskredit zu bringen. Der älteste Beleg für diese Verbreitung ist eine antiparacelsistische Rede, die Oratio de Theophrasti Paracelso eiusque Medicina, die der Jenaer Medizinprofessor Gervasius Marstaller 1570 vortrug. Diese Ansprache, in der Oporins Brief reproduziert wird, liegt in Form einer auf 1571 datierten handschriftlichen Kopie vor, die von dem Arzt Johannes Oberndorffer stammt. Wir haben uns hier bei der Edition des Briefes für diese Version entschieden. Zwei andere antiparacelsistische Pamphlete (dieses Mal in gedruckter Form), zitieren Ausschnitte aus dem Brief: die Disputationes de medicina nova Philippi Paracelsi von Thomas Erastus, die ungefähr zur selben Zeit erschienen, und die Medicinae veteris et rationalis […] defensio (1573) des Bernardus Dessenius von Kronenburg.
Die Textüberlieferung ist sehr komplex, denn die existierenden Kopien bieten verschiedene Varianten und präsentieren den Text nicht immer in der gleichen Reihenfolge. Die niederländische Version von Pieter van Foreest ist die am meisten vollständige von allen, aber es handelt sich dabei nur um die Übersetzung einer verlorenen lateinischen Vorlage; die Reihenfolge des lateinischen Textes ist vermutlich am besten in den lateinischen Versionen von Oberndorffer (diese geben wir hier wieder) und von Francus bewahrt.
Im Nachhinein scheint Oporin die Verbreitung dieses Briefs bedauert zu haben, wenn man dem Paracelsisten Michael Toxites Glauben schenken darf:
Quin et Oporinum paenituit Epistolae, quam ad D. Wierum de Theophrasto scripsit, dixitque eodem tempore mihi, ab ipso fuisse emendicatam epistolam neque eam scripturum fuisse si scivisset, ita in vulgus prodituram. Quamquam praestat eum scripsisse, plura enim in ea sunt, quae ad laudem Theophrasti pertinent, quam ad vituperium, et quae ibi vituperat, longe aliter etiam intelligenda sunt, quam vel Oporinus vel alii interpretati sunt, quae brevitatis causa omitto.
Ja, es reute Oporin dieser Brief sogar, den er an Herrn Weyer über Theophrast [=Paracelsus] geschrieben hatte; und er sagte damals zu mir, dass man ihm diesen Brief abgebettelt habe und dass er ihn auch nie geschrieben hätte, wenn er gewusst hätte, dass er ein so grosses Publikum finden werde. Es ist aber doch besser, dass er ihn geschrieben hat, denn es steht mehr in ihm, was Theophrast zum Ruhme, als was ihn zum Tadel gereicht, und was er darin tadelt, das muss man ganz anders verstehen, als Oporin oder auch andere es interpretiert haben; ich gehe hier darauf nicht näher ein, um mich kurz zu fassen.
Bei der Lektüre dieses Briefes ist es allerdings schwer zu erkennen, inwiefern Oporin seinen ehemaligen Meister darin mehr loben als kritisieren soll. Paracelsus seinerseits scheint Oporins Dienste geschätzt zu haben, auch wenn er ihm geraten zu haben scheint, sich einem anderen Beruf als der Medizin zuzuwenden!
Bibliographie
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Domandl, S., «Paracelsus, Weyer, Oporin. Die Hintergründe des Pamphlets von 1555», in: S. Domandl (Hg.), Paracelsus Werk und Wirkung. Festgabe für Kurt Goldammer zum 60. Geburtstag, Wien, Verband der wissenschaftlichen Gesellschaften Österreichs Verlag, 1975, 53-70, 391-392.
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