Brief über das Zürcher Schulsystem
Johannes Fabricius Montanus
Einführung: David Amherdt/Clemens Schlip. Version: 10.02.2023.
Entstehungsdatum: 1. Februar 1554.
Handschriften (Kopien): Zürich, Zentralbibliothek, ms A 90, 511-514; ms F 91, fol. 265ro-268ro.
Ausgabe: J. H. Hottinger, Speculum Helvetico-Tigurinum, Zürich, J. G. Simler, 1665, 184-198, hier: 184-190.
Der hier präsentierte Text ist ein Auszug aus einem Brief des Johannes Fabricius Montanus an den Marburger Theologen Andreas Hyperius, dessen Vorlesungen Montanus während seines Aufenthalts an der dortigen Universität besucht hatte. Montanus war seit 1551 paedagogus des Pensionats des Fraumünsters, des Collegium minus, einer Einrichtung, deren Aufgabe darin bestand, die Schüler mit Kost und Logis sowie Büchern und Studienmaterial zu versorgen – er erwähnt seine Arbeit übrigens auch in dem vorliegenden Brief. Zu Beginn seines Briefes erklärt Fabricius, dass ein Verwandter (vielleicht sein Schwiegervater Rudolf Ambühl, den er etwas später in seinem Brief erwähnt), ihn gebeten habe, das Interesse des Hyperius an der Organisation des Zürcher Schulwesens zu befriedigen und zu diesem Zweck eine genaue Darstellung zu verfassen. Dieser Brief besitzt einen hohen historischen Quellenwert.
Montanus geht von der Frage aus, welche Eigenschaften ein Knabe besitzen muss, der als Erwachsener in den Kirchendienst treten soll, und welche äusseren Voraussetzungen zu seiner Ausbildung vorhanden sein müssen. Es geht ihm hierbei also um die Ausbildung künftiger reformierter Pastoren, wie es dem Geist des von Zwingli umgestalteten Schulsystems entspricht.
Er nennt folgende drei Eigenschaften:
- einen tugendhaften Charakter (morum probitas);
- eine wenigstens mittelmässige Intelligenz (Ingenium, si non excellens, at saltem mediocrem);
- eine natürliche Neigung zu den edlen, den humanistischen Wissenschaften (Naturae ad bonas literas inclinationem).
Äussere Voraussetzungen nennt er vier:
- Zeitpunkt
- Ort
- Lehrer
- Stipendien
Im Folgenden schildert er, wie diese einzelnen Punkte jeweils in Zürich geregelt sind.
Was Punkt 1 angeht, so betont Montanus die Bedeutung des rechten Augenblicks, den schon die Römer und die Griechen durch besondere Begriffe hervorgehoben hätten (occasio bzw. καιρός). Er sieht diesen Punkt eng verknüpft mit den folgenden drei.
Danach geht Fabricius auf Punkt 2 (Ort) ein. Er nennt insgesamt drei Zürcher Bildungsstätten, zunächst «die beiden Schulen in denen Latein und Griechisch gelehrt werden», und zwar eine auf jeder Seite der Limmat (Grossmünster- und Fraumünsterschule). Nach dem erfolgreichen Besuch dieser Einrichtungen werden die Schüler zu den Vorlesungen im lectorium in der Nähe des Grossmünsters zugelassen (also der Prophezei, der von Zwingli ins Leben gerufenen höheren theologischen Lehranstalt). Als dritte Bildungseinrichtung rechnet Fabricius jedoch nicht dieses, sondern den damals von ihm geleiteten Zuchthof, das Pensionat des Fraumünsters, das Collegium Minus, «keine Schule, sondern eine Unterstützungsanstalt, ein Konvikt, wo man die Zöglinge vollständig mit Nahrung, Kleidung, Wohnung, Büchern und allem Nötigen versah».
Es folgen seine Ausführungen zu Punkt 3 (Lehrer): Jede Schule wird von fünf «didascali» verwaltet. Ihr Chef ist der «Praeceptor»; nach ihm kommt der «Provisor»; dann die drei «Lektoren», die sich untereinander ebenfalls in einem hierarchischen Verhältnis befinden. Montanus skizziert auch kurz ihre Aufgaben. Dann geht er ausführlicher auf die praeceptores publicos (die «öffentlichen Lehrer», das heisst die Professoren der Prophezei ein); er nennt ihre Namen und skizziert einen Vorlesungstag. Er hebt hervor, dass in Zürich neben den Vorlesungen auch das Hören der Predigten integral zur Theologenausbildung gehört und erläutert, wie er in seinem Pensionat wichtige Predigten didaktisch nachbereite. Ausserdem schildert er, wie er sonntags noch vor dem Besuch des Gottesdienstes selbst mit seinen Schülern einen Paulusbrief durchgehe.
Seine Ausführungen zu Punkt 4 (Stipendien) beginnt er mit einem Exkurs zur Geschichte der beiden Zürcher Kollegien (Grossmünster und Fraumünster), die beide von Königen gestiftet worden seien (ausführlicher geht er aber nur auf die Stiftung des Grossmünsters durch Karl den Grossen ein).
Hinsichtlich des Grossmünsters erläutert er, dass die Stipendien aus den durch die Reformation freigewordenen Chorherrenpfründen finanziert werden (wobei die katholisch gebliebenen Chorherren im Moment zu Lebzeiten ihre Pfründen weiter geniessen dürfen). Aktuell würden 15 Vollstipendien (stipendia maxima) und 23 Teilstipendien (minora stipendia) vergeben. Daneben gebe es auch Benefizien, die den unterschiedlichen Graden des Lehrpersonals zugutekommen. Am Fraumünster, dessen Äbtissin (unter der Zusicherung einer jährlichen Pension) abgedankt hat und dessen Güter dem Rat zugefallen sind, gibt es seiner Schilderung nach 15 Vollstipendiaten (wie deutlich wird, sollen diese Vollstipendien Ernährung und Bekleidung sichern). Alle Stipendiaten würden zur Weiterführung ihrer Ausbildung auch ins Ausland geschickt; die Zahl der in Zürich weilenden Stipendiaten bleibe aber immer gleich (das heisst, die Auslandsstipendien als eigene Kategorie zu betrachten).
Montanus geht dann auf einige weitere finanzielle Aspekte ein, besonders mit Blick auf einen vorzeitigen Studienabbruch der aus öffentlichen Mitteln finanzierten Stipendiaten. Ein Knabe dürfe im ersten Jahr sanktionslos die Schule verlassen, später würden ihm in diesem Fall alle für ihn entstandenen Kosten in Rechnung gestellt, aber erst sobald er das väterliche Erbe angetreten habe; auch Ratenzahlung sein in solchen Fällen möglich.
Als dritte Stipendieneinrichtung (neben dem Zürcher Studien- und dem Auslandsstipendium) erwähnt Fabricius schliesslich noch ein spezielles Armenstipendium, das aus bescheidener Kost (Brot und Brei) und Zahlungen für ihre Wohn- und Bücherkosten bestehe; nach Montanusʼ Worten müssen davon zu seiner Zeit recht viele (plurimi) Bürger und Studenten leben.
Am Ende des Studiums steht nach der Rückkehr aus dem Ausland die Theologenprüfung (Theologicum), durch die die Studenten schliesslich die kirchliche Lehrerlaubnis erhalten. Montanus versäumt nicht, ihren Ablauf zu schildern. Davon ausgehend, schildert er abschliessend noch die innere Organisation der Kirche von Zürich, auf deren Personalbedarf ja der beschriebene Bildungsbetrieb letztlich ausgerichtet ist.
Dieser Brief ist ein gutes Beispiel dafür, «wie sich die Reformation in einer universitätslosen Stadt die universitätsähnlichen Institutionen aufbaute, die sie benötigte», wobei das Angebot aber auf Theologie und bestimmte Sektoren der philosophischen und philologischen Disziplinen beschränkt blieb (für darüber hinausgehende gelehrte Ambitionen konnte man Stipendiaten an auswärtige Universitäten wie Basel schicken). Der darin beschriebene Bildungsbetrieb enthält aufgrund seiner starken Ausrichtung auf das Lateinische und Griechische notwendigerweise viele Elemente, die man als humanistisch bezeichnen kann (Fabricius spricht selbst von den bonae literae). Um eine zweckfreie Bildung, die der Entfaltung aller menschlichen Kräfte dient (im Sinne des neuhumanistischen, humboldtschen Bildungsideals), handelt es sich hier jedoch unübersehbar nicht. Humanistische Bildungsinhalte werden hier in eine einem ganz bestimmten Zweck dienende Theologenausbildung eingebettet, die durch ein staatskirchliches Stipendiensystem finanziert wird. Dieses Phänomen ist freilich nicht auf Zürich beschränkt, sondern typisch für das aus der Reformation erwachsende Bildungssystem; auf der katholischen Seite, in den Jesuitenschulen, sah es ähnlich aus.
Bibliographie
Amherdt, D., Johannes Fabricius Montanus. Poèmes latins. Introduction, édition, traduction et commentaire, Bern, Schwabe, 2018.
Ernst, U., Geschichte des zürcherischen Schulwesens bis gegen das Ende des sechzehnten Jahrhunderts, Winterthur, Bleuler-Hausheer, 1879.
Nabholz, H., «Die Anfänge der Theologenschule», in: Ders., «Zürichs höhere Schulen von der Reformation bis zur Gründung der Universität, 1525-1833», in: Die Universität Zürich 1833-1933 und ihre Vorläufer, hg. vom Erziehungsrat des Kantons Zürich, bearbeitet von E. Gagliardi/H. Nabholz/J. Strohl, Zürich, Verlag der Erziehungsdirektion, 1938, 3-29.