Brief an Aegidius Tschudi: Heiraten, Politik, Religion und Literatur

Heinrich Glarean

Einführung: Émilien Genoud (deutsche Übersetzung: Clemens Schlip). Version: 10.02.2023.


Entstehungsdatum: 26. Dezember 1550.

Handschriften (Kopien): Zürich, Zentralbibliothek, ms. J 431, fol. 56vo-74vo (Abschrift sämtlicher Briefe), hier: fol. 64vo-65ro; Glarus, Landesbibliothek, ms. N 29, 2vo-24vo (29 Briefe), hier: fol. 10ro-11ro; Glarus, Landesarchiv, «Sammlung verschiedener Urkunden das Tschudi Geschlecht betrefende» (Tschudi-Familien-Akten), Bd. 2, 205-221 (sämtliche Briefe), hier: 212; Glarus, Landesarchiv, «Stammtafel und historischer Bericht von dem uralten adelichen Geschlecht der Tschudi von Glarus […]», vol. 3-4, passim (Abschrift von 31 Briefen, Erwähnung der sieben übrigen Briefe), hier: Bd. 4, 1082.

Ausgabe: Müller (1933), 58-59, Nr. 21.

 

Im letzten Brief, den Glarean im Jahr 1550 an Tschudi adressierte, geht er auf eine Vielzahl von Themen ein und verleiht einer ganzen Reihe von Seelenzuständen Ausdruck, so dass man, wenn man Briefe an sich als ein Gespräch unter Abwesenden charakterisieren kann, sagen darf, dass das Gespräch hier vom Hundertsten ins Tausendste gerät.

Glarean gratuliert Tschudi zunächst zu seiner Wiederverheiratung und macht deutlich, dass er mit seiner eigenen Wiederverheiratung zufrieden ist, und zwar so sehr, dass er ein seiner zweiten Frau sehr günstiges Testament abgefasst hat. Dann kommentiert er pessimistisch den Lauf der Welt (im Tessin und in Norditalien gibt es Spannungen zwischen den Eidgenossen und dem Statthalter von Mailand; der Augsburger Reichstag ist ein Tummelplatz für intrigante Fürsten; die katholische Kirche ist in einem jämmerlichen Zustand); diesen Pessimismus treibt er so weit, dass er in seinem Urteil über die religiöse Situation in Deutschland das Ende der Welt nahe glaubt (Credo extremum huius mundi diem non longe abesse).

Diese eschatologische Furcht mag übertrieben erscheinen, aber sie war im Geist der Epoche, in der Glarean schrieb, sehr präsent. Man muss sie umso ernster nehmen, als Glarean seine Befürchtungen zum Ausdruck bringt, nachdem er die Häresie (das heisst die Reformation) erwähnt hat, in die Deutschland sich hineinstürze (in manifestam insaniam haereseos periculosissimam); ferner auch die Osmanen (Turces), die damals ihre Herrschaft auf europäischem Boden ausbreiteten. Diese beiden Zeiterscheinungen konnte man als Vorzeichen der Apokalypse verstehen.

Mag Glarean auch das Ende der Zeiten nahe glauben, das hindert ihn nicht daran, sich weiter um seine Angelegenheiten zu kümmern. Im ersten Teil des Briefes kommt er darauf zu sprechen, dass er sein Dodekachordon an den Abt von Wettingen gesendet hat. Dieser Abt ist nicht der einzige, dem Glarean sein Werk zuschickt hat. Auch wenn Glarean klarmacht, dass er das nicht gemacht hat, um eine Gegengabe zu erhalten (Non ob munera libros mitto), sondern weil er hofft, dass sein Werk den Klöstern nützlich sein wird, wenn sie sich eines Tages wieder ernsthaft dem Studium widmen sollten (si fortassis aliquando immitteret Deus litterarum ac disciplinarum desiderium in coenobia), hat er doch die Geschenke der Äbte gerne in Empfang genommen, wie er in einem anderen Brief an Tschudi erklärt. Es ist möglich, dass ein solches Geschenk auch vom Abt von Wettingen erhalten hat; eine Stelle in diesem Brief deutet darauf hin (Reverendus princeps ac dominus D. abbas Maris Stellae coenobii honorifice mecum egit).

 

Bibliographie

Bächtold, H. U., «Glarean», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 19.12.2006, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/012800/2006-12-19/.

Fritzsche, O., Glarean. Sein Leben und seine Schriften, Frauenfeld, Huber, 1890.

Müller, E. F. J., Glarean und Aegidius Tschudi. Ihre menschlichen und gelehrten Beziehungen. Mit 38 Briefen Glarean’s aus den Jahren 1533 bis 1561, Freiburg i. Ü., Hess, 1933.

Sieber, Chr., «Tschudi, Aegidius», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/012354/2022-07-26/.