Zweiter Trostbrief an Aegidius Tschudi
Heinrich Glarean
Einführung: David Amherdt (deutsche Übersetzung: Clemens Schlip). Version: 10.02.2023.
Entstehungsdatum: 13. Mai 1550.
Kopien: Zürich, Zentralbibliothek, ms. J 431, fol. 56vo-74vo (Kopien von allen Briefen), hier: fol. 63ro-vo; Glarus, Landesbibliothek, ms. N 29, 2vo-24vo (Kopien von 29 Briefen), hier: fol. 6ro-7ro; Glarus, Landesarchiv, «Sammlung verschiedener Urkunden das Tschudi Geschlecht betrefende» (Tschudi-Familien-Akten), Bd. 2, 205-221 (alle Briefe), hier: 210-211; Glarus, Landesarchiv, «Stammtafel und historischer Bericht von dem uralten adelichen Geschlecht der Tschudi von Glarus […]», Bd. 3-4, passim (Kopien von 31 Briefen; Erwähnung der sieben übrigen Briefe), hier: Bd. 4, 1070-1071.
Ausgabe: E. F. J. Müller, Glarean und Aegidius Tschudi. Ihre menschlichen und gelehrten Beziehungen. Mit 38 Briefen Glarean’s aus den Jahren 1533 bis 1561, Freiburg i. Ü., Hess, 1933, 52-54, Nr. 18.
Ältere deutsche Übersetzung: J. Bütler, «Universitätsprofessor Heinrich Glarean, Lehrer und Erzieher», in: Ders., Männer im Sturm. Vier Lebensbilder mit ergänzenden Texten, Luzern, Rex, 1948, 15-88, hier: 83-84.
Von den Briefen Glareans an Aegidius Tschudi haben sich achtunddreissig erhalten, aber unzweifelhaft hat es mehr davon gegeben. Sie stammen aus den Jahren 1533 bis 1561 und wurden alle in Freiburg im Breisgau geschrieben, wo Glarean von 1529 bis zu seinem Tod 1563 wohnte. Die Originale sind verloren, aber es gibt vier Kopien. Diese Briefe wurden 1933 von Emil Franz Josef Müller mitsamt einer Studie dazu veröffentlicht.
Tschudi, der ein entfernter Verwandter Glareans war, war in Basel zwischen 1516 und 1517 sein Schüler. Die beiden Männer, unzweifelhaft die beiden grössten Gestalten des glarnerischen Humanismus, wurden Freunde und teilten ihr Leben lang die gleichen intellektuellen und religiösen Interessen. Wie die an Myconius adressierten Briefe, so sind auch die Briefe an Tschudi sehr lebendig und persönlich. Glarean tritt darin als leidenschaftlicher Katholik auf, der sich von Zwingli bald entfremdet, und als sehr spiritueller Mensch, der seinem leidenschaftlichen Charakter zum Trotz sich in den Religionswirren seine Weisheit und Heiterkeit zu bewahren weiss.
Glarean zögert nicht, die römische Kurie zu kritisieren und unterstützt Tschudi in seinem Bemühen, in seiner Heimat Glarus gegen die Reformation zu kämpfen; sein Interesse an den (religiösen, politischen, intellektuellen und familiären) Verhältnissen daheim erlahmt niemals. Seine Briefe sind auch eine Fundgrube für Informationen über seinen Unterricht, sein Pensionat, seine Schüler, über sein Familienleben (den Tod seiner ersten Frau, die Heirat mit der zweiten, deren fünf Kinder er aufziehen muss) und seine finanziellen Sorgen, über seine Arbeiten, seine Veröffentlichungen und seine vielseitigen intellektuellen und literarischen Interessen, auch für Informationen über seine Beziehung zu Erasmus, über den Zustand der damaligen Welt (kaiserliche Politik, Türkenkrieg, Pest), und auch für Informationen über die Arbeiten des Tschudi, vor allem seine Alpisch Rhetia, ein Geschichts- und Geographiewerk, in dem er die Geschichte des Bündnerlandes darstellt und in das er eine berühmt gewordene Karte der Schweiz einfügt, die das ganze Land en détail zeigt und zahlreiche Ortsnamen angibt – am Ende des hier vorgelegten Briefes ist von dieser Karte die Rede.
Dieser Brief, der achtzehnte des Corpus, datiert vom 13. Mai 1550. Glarean beginnt ihn, indem er ausführlich über den Tod von Tschudis Gattin spricht und damit dieses Schreiben wenigstens in seiner ersten Hälfte zu einer epistula consolatoria macht. Nachdem er ihn seines Mitleids versichert hat (Excussere mihi lacrymas litterae tuae – «Dein Brief hat mich zum Weinen gebracht») – dessen Aufrichtigkeit dadurch sichergestellt wird, dass er dieselbe Prüfung erlitten hat – und auf die lamentatio Tschudis eingegangen ist, die ihn an seine eigene nach dem Tod seiner eigenen Frau erinnert, widmet er sich einer ausführlichen consolatio. Er beginnt mit dem traditionellen philosophischen Argument, dass es unmöglich sei, dem Tode zu entkommen (ita sunt res humanae – «so verhält es sich mit den menschlichen Angelegenheiten»), um unmittelbar darauf auf die Tröstung zu sprechen zu kommen, welche die christliche Religion anbietet, die den Menschen dazu aufruft, den Willen Gottes zu akzeptieren und an das ewige Leben zu denken, welches ihm erlauben wird, dieser Welt zu entkommen, wo es nichts als Leid, Bitterkeit und Frustration gibt – er zitiert unter anderem das Wort des Ecclesiastes: vanitas vanitatum (Eitelkeit der Eitelkeiten, alles ist Eitelkeit). Glarean verzichtet fast vollständig auf die laudatio der Verstorbenen und begnügt sich damit, ihre Treue hervorzuheben (tuae uxoris fidem). In diesen Zeilen lässt er einen gewissen Pessimismus aufscheinen, der von seiner Hoffnung auf das ewige Leben gemildert wird, das die Freundschaft zwischen ihm und Tschudi zu ihrer Vollendung führen wird: Die wahrhafte Freundschaft ist die christliche Freundschaft.
In der zweiten Hälfte des Briefes bedauert er, dass er seinen Freund nicht treffen kann und sagt, dass eine Begegnung der beiden frustrierend wäre, denn sie wäre nur vorläufig. Hier hilft der Brief, der sermo absentium, der Dialog unter Abwesenden, der es gestattet, dem Mangel einigermassen abzuhelfen: «Es bleibt uns also nichts übrig, als das einzige zu tun, was wir tun können: uns von Zeit zu Zeit gegenseitig zu verzaubern, indem wir uns schreiben» (eine schöne Definition für den Brief). Diese Freundschaft, wir sagten es, ist eine christliche Freundschaft und findet vor dem Eingehen in den Himmel ihren Höhepunkt im Gebet: Glarean bittet Tschudi, Gott für ihn anzurufen, wie er es auch seinerseits für ihn tue.
Im Folgenden behandelt Glarean im Vorübergehen ein kunterbuntes Durcheinander von Themen und bekräftigt, dass er den Rest seines Lebens (das noch dreizehn Jahre währen wird) seiner Arbeit als Philologe und Professor widmen wird. Er macht deutlich, dass ihn das religiöse Geschick des Glarus sehr beschäftigt und geisselt, ohne ihn beim Namen zu nennen, einen der Verfechter der Reformation in seiner Heimat, Joachim Bäldi. Hierauf geht es noch um die Wiederaufnahme des katholischen Kultes in Strassburg, um den Reichstag von Augsburg und zuletzt, in dem scherzhaften Ton, der ihm zu eigen ist, um seine gesundheitlichen Schwierigkeiten.
Bibliographie
Koller-Weiss, K./Sieber, Chr. (Hgg.), Aegidius Tschudi und seine Zeit, Basel, Krebs, 2002.
Müller, E. F. J., Glarean und Aegidius Tschudi. Ihre menschlichen und gelehrten Beziehungen. Mit 38 Briefen Glarean’s aus den Jahren 1533 bis 1561, Freiburg i. Ü., Hess, 1933.
Sieber, Chr., «Tschudi, Aegidius», Neue Deutsche Biographie 26 (2016), 482-484, Onlineversion, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118624326.html#ndbcontent.
Sieber, Chr., «Aegidius Tschudi», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 26.07.2022, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/012354/2022-07-26/.