Brief an Oswald Myconius

Übersetzung (Deutsch)

Übersetzung: Clemens Schlip (französischer Originaltext der Anmerkungen von David Amherdt)

Glarean grüsst seinen Freund Oswald Myconius.

Es grüsst Dich unser Elmer, mein allerliebster Myconius; aber das erwähne ich aus diesem Grund als erstes, weil er mir dies ängstlich aufgetragen hat, bevor ich mit meinem Brief begann. Über die Reise muss ich nichts anderes erwähnen, soweit ich jedenfalls weiss, als was Amman am besten erzählen können wird. Der König selbst war zu den Bretonen gegangen, deshalb habe ich aufgrund der langen Reise nicht gewagt, dem Hofe zu folgen, weil ich auf das Glück warte, ob es mir vielleicht näher kommt. Deshalb bin ich gezwungen gewesen, Pferde zu verkaufen und ein Haus zu mieten, was meinem Vermögen – bei Gott! – keinen geringen Schaden zugefügt hat. Aber dies alles ertrage ich mit unbezwungenem Sinn. Der Gesichtsausdruck der Fortuna wird sich in sich nächster Zeit ändern. Alle stacheln mich an, öffentlich zu lesen; aber ich werde keinen Katheder besteigen, solange bis endlich bezahlt wird. Siehe, wohin mich jener Zophius mit seiner «weidlicheitas» gebracht hat; drei junge Männer haben das Haus gewechselt und sind auf meinen Befehl hin weggegangen, aber sofort sind drei andere gekommen, auch wenn ich ihnen dazu keinen Anreiz gab; ich habe es ihnen aber auch nicht untersagt, weil sie die Söhne von wichtigen Leuten sind. Ich besitze ein sehr schönes Haus mit einem Atrium, einem kleinen Garten, einer Speisekammer und eigenen, sehr schönen Höfen. Möge das Schicksal es gewähren, dass Du auf der Stelle mit mir zusammen sein kannst. Aber Du weisst, dass ich niemandem etwas verspreche, ausser wenn ich sicher bin.

Du wirst in meinem Namen Deine Ehefrau grüssen, die ich fürwahr aus dem Grunde liebe, dass sie Dich liebt, und ich schwöre Dir, wenn ich irgendwo eine solche Ehefrau haben könnte, würde ich ihr beim Heiraten keine Königstochter vorziehen. Denn wie ich glaube, dass es kein grösseres Kreuz gibt als Hass unter Eheleuten, so halte ich keine Freude für grösser als ihre wechselseitige Liebe. Deshalb, mein lieber Oswald, ertrage es gleichmütig, dass Dein Vermögen gering ist, da Du ja in anderer Hinsicht mit Deiner Ehe glücklich bist; ich liebe Dich nämlich wegen dieser Eintracht, ein anderer, ein Dummkopf, hätte Dich dafür vielleicht gehasst. Ihr guten Götter, wie oft habe ich in diesen Tagen an Dich gedacht, als ich das Büchlein des Erasmus zum Lobe der Ehe las, das bald in Basel gedruckt werden wird, und jenes hat mich nämlich nicht zur Masslosigkeit verführt, sondern zu einem gewissen Seelenfrieden gebracht, für den ich keine Bezeichnung habe. Dies habe ich Dir in derselben Gesinnung geschrieben, in der ich Dich immer geliebt habe, und ich muss mich hier nämlich nicht reinwaschen, weil ich mir keines Verbrechens bewusst bin, wenn die Feinde unserer Eintracht auch erschöpft bellen.

Lebe wohl und liebe mich, vielmehr liebe mich, weil ich Dich liebe. Paris im Jahre nach Christi Geburt 1518, am 22. Juni. Du wirst alle Deine Schüler in meinem Namen grüssen.

Adressat: An Herrn Oswald Myconius, den Luzerner, den besten Patron der guten Wissenschaften, unseren unvergleichlichen Freund.

1
Oswald Elmer, ein Glarner; er war ohne Zweifel Schüler Zwinglis, bevor er von 1517 bis 1519 Glareans Schüler in Paris war. S. Büchi (1928), 379. Zur Familie Elmer s. R. Stauffacher, «Elmer», Historisches Lexikon der Schweiz, Version vom 25.11.2016, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/021030/2016-11-25/.
2
Es ist möglich, wie in Briefwechsel 1516-1552, Regesten, hg. von R. Henrich, Bd. 1 (Briefe 1515 bis 1541), Zürich, Theologischer Verlag Zürich, 2017, 112, angenommen wird, dass es sich um Hans Bartholomäus Ammann aus Zürich handelt, der in den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts geboren wurde (zu ihm s. Geschichte der Familie Ammann von Zürich, hg. von A. F. Ammann, Bd. 1, 1904, Selbstverlag, 118-122). Der junge Mann war anscheinend Schüler Glareans, bevor er Schüler des Myconius war. Er tritt noch in vier anderen Briefen Glareans an Myconius aus den Jahren 1520-1521 auf. (Büchi (1928), Nr. VII, 412; Nr. IX, 415; Nr. XI, 419; Nr. XII, 423), wo man erfährt, dass er sich damals bei Myconius in Luzern aufhielt und dass Glarean mit ihm korrespondierte. In unserer Passage erfährt man, dass Amman in der Lage ist, Myconius über die Reise Glareans zu informieren, sei es, dass Ammann einen Brief Glareans erhalten hat, sei es, dass er Glarean erst nach dieser Reise verlassen hat, um sich zu Myconius zu begeben. Büchi (1928), 399, nimmt an, dass es sich um Johann Jakob Ammann (1500-1573) aus Zürich handelt, der damals Schüler Glareans war (er war es zwischen 1517 und 1519) und der in zahlreichen Briefen aus dieser Epoche auftaucht (zu ihm s. H. Stucki, «Ammann, Johann Jakob», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 29.06.2001, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010502/2001-06-29/; Geschichte der Familie Ammann von Zürich, hg. von A. F. Ammann, Bd. 1, 1904, Selbstverlag, 73-86 (Johann Jakob Ammann)). Muss man in diesem Fall annehmen, dass Johann Jakob eine Reise nach Zürich unternommen hatte oder dass er selbst an Myconius geschrieben hatte? Wir merken zum Schluss noch an, dass Büchi (1928), 412, Anm. 5, irrtümlich angibt, dass Bartholomäus der Vater des Johann Jakob ist.
3
Zu dieser Reise s. die Einführung.
4

König Franz I. hatte Amboise Anfang Juni verlassen und sich nach Saumur begeben, anschliessend nach Angers; dort befand er sich zu dem Zeitpunkt, als dieser Brief geschrieben wurde. Anfang August wird er in Nantes sein und Anfang September in Morbihan (Vannes) (zu den genauen Aufenthaltsorten des Königs in dieser Zeit s. C. zum Kolk/Marion Müller (Hgg.), Itinéraire de François Ier. Les lieux de séjour du roi d’après ses actes (1515-1547), Paris, Cour de France.fr, 2015). Am 5. Juli erwähnt Glarean in seinem Brief an Peter Falk (s. oben) diese Reise des Königs fast mit den gleichen Ausdrücken: Abest longe Rex in Britonum terra, quem si sequi vellem, prospicio futurum, ut intra duos menses maiorem pecuniam insumerem, quam biennio ex poetica sperarem lucri. Quapropter expectabo tempus, donec proprius accedet Rex (J. Zimmermann, «Sechs unbekannte Schreiben Glareans», Freiburger Geschichtsblätter 9 (1902), 157-178, hier: 161) – aauf Deutsch heisst das: «Der König ist weit weg im Lande der Bretonen; wenn ich ihm folgen wollte, dann sehe ich voraus, dass ich in zwei Monaten mehr Geld ausgeben würde als ich in zwei Jahren aus der Poetik an Gewinn erhoffen kann. Deshalb werde ich solange warten, bis der König näherkommt.»

5
D. h. ausserhalb seines Internats, an der Universität.
6
Er sagt fast das Gleiche in seinem Brief an Peter Falck vom 5. Juli: (s. oben): Verum quamdiu Thesaurarii nihil scribunt, nihil numerant, ego rei parum tribuerim («Aber solange die Schatzmeister nichts schreiben und nichts zahlen, werde ich wenig Leistung erbringen»).
7
Zu dieser Angelegenheit s. die Einführung.
8
Weidlichkeit; der Ausdruck ist nicht gebräuchlich. Das Deutsche Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm («weidlichkeit, f.», Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, https://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemid=W13617) bezeichnet es als Synonym zu Rüstigkeit (Kraft, lebhaftes Temperament). In ähnlicher Weise vermittelt das Schweizerisches Idiotikon, Bd. 15, Sp. 541, für das Adjektiv weidlich oder weidlig eine Vorstellung von Geschicklichkeit, Raschheit und Waghalsigkeit. Der Ausdruck cum sua weidlicheitate erscheint von Neuem in dem Brief Nr. VI, 410 (vom 7. Juni 1519), anlässlich des Todes der beiden Franzosen.
9
Es scheint, dass Glarean im Januar 1519 noch hoffte, Myconius zu einer Reise nach Paris bewegen zu können, wenn man seinem Brief an Zwingli vom 13. Januar glauben darf (Zwingli, Sämtliche Werke, Bd. 7 (Briefe 1), hg. von E. Egli u. a., Leipzig, Heinsius, 1911, Nr. 55, 126-129, hier: 127): Osaldo meo, immo nostro, Myconio quid promittam, nondum sat scio, quod ignoro, quantum auxerint stipendium (Was ich meinem, vielmehr unserem Freund Oswald Myconius versprechen kann, weiss ich noch nicht ausreichend, weil ich nicht weiss, wie sehr sie das Gehalt erhöht haben).
10
Myconius hatte sich um 1514 in Basel verheiratet; den Namen seiner Frau kennt man nicht. S. P. G. Bietenholz, «Osvaldus Myconius», in: Contemporaries of Erasmus, Bd. 2, Toronto, University of Toronto Press, 1986, 475; K. F. Ledderhose, «Myconius, Oswald», Allgemeine Deutsche Biographie 23 (1886), 127-219, hier: 127, Onlineversion, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118735462.html#adbcontent.
11
Vgl. den Brief an Myconius vom 25. Oktober 1518, Büchi (1928), Nr. III, 403: Uxorem tuam salvam volo, quam utique amo […] Immo aequaliter amo, qui te amo (Ich möchte, dass es Deiner Frau gut geht, die ich lieb habe. [...] Vielmehr habe ich sie in gleicher Weise lieb, weil ich Dich lieb habe).
12
Die erste Ausgabe des Encomium matrimonii erschien am 30. März 1518 in Löwen bei Thierry Martens d’Alost in den Declamationes aliquot Erasmi Roterodami. Querimonia pacis […]. Consolatoria de morte filii. Exhoratoria ad matrimonium. Encomium artis medicae […]; zu den Ausgaben dieses Werks s. die Einführung von Jean-Claude Margolin in ASD 1.5 (Opera omnia Desiderii Roterodami 1.5, Amsterdam-Oxford, North-Holland Publishing Company, 1975), 335. Zu Beginn seiner Consolatoria de morte filii (= In genere consolatorio declamatio), liess Erasmus einen Brief abdrucken (fol. i1ro), den er einige Monate früher an Glarean geschickt hatte, um dessen Meinung über seine declamatio zu erfragen (der Brief datiert wahrscheinlich vom Juli 1517; veröffentlicht in: Opus Epistolarum Des. Erasmi Roterodami, hg. von P. S. Allen, Bd. 3 [1517-1519], Nr. 604, 16-17; diese declamatio sowie der Brief an Glarean waren im Basel 1517 in Basel bei Froben erschienen, begleitet von der Querela Pacis). Die von Glarean angekündigte Basler Ausgabe wird von Froben am 30. August desselben Jahres veröffentlicht: Querela pacis […], In genere consolatorio de morte declamatio, Encomium Matrimonii; Encomius artis medicae; der Deklamation über den Tod ist derselbe Brief an Glarean vorangestellt. In seinem Brief vom 25. Oktober 1518 spricht Glarean von der Veröffentlichung der Basler Ausgabe, beklagt aber bitterlich, dass Erasmus nicht den Druck seiner Declamatio mortis contemnendae veranlasst hat, wie er es ihm versprochen hatte, und dass er stattdessen seine eigene declamatio über den Tod veröffentlicht hat. (Büchi (1928), Nr. III, 403; s. auch Fritzsche (1890), 24). Wir wissen nichts Näheres über die declamatio Glareans und das Versprechen des Erasmus, aber es hat den Anschein, dass der Brief des Letzteren vom Juli 1517 Glarean nicht erreicht hat, der daher hinsichtlich der Existenz des Textes des Erasmus nicht vorgewarnt war. Seine Überraschung ist daher doppelt: Sein Text wird nicht veröffentlicht, und es erscheint ein Text des Erasmus über das gleiche Thema. Zu dieser Frage s. auch in der weiter oben in dieser Anmerkung bereits zitierten Briefausgabe von Allen, Bd. 3, Nr. 604, 16. Seine Überraschung zeigt schliesslich auch, dass er auch die ersten Ausgaben der declamatio des Erasmus nicht kannte.
13
Margolin (1985), 159 versteht das auch so, dass die Lektüre des Traktats bei Glarean keine «effets libidineux» gezeitigt habe (in ihm also keine Lüsternheit geweckt habe).
14
Vielleicht hat Glarean hier eine Stelle in Vergils Aeneis im Sinn, auf die er aus dem Gedächtnis anspielt. Dort (Aen. 6,400-401) wird geschildert, wie der dreiköpfige Hund Zerberus, der Wächter der Unterwelt mit seinem Bellen die kraftlosen Schatten der Toten erschreckt: ...licet ingens ianitor antro / Aeternum latrans exsanguis terreat umbras (...mag auch der ungeheure Türhüter aus seiner Höhle heraus / auf ewig mit seinem Bellen die blutlosen Schatten in Furcht versetzen). Vielleicht möchte Glarean die Gegner der Eintracht hier mit dem Zerberus vergleichen und setzt daher spontan aus dem Gedächtnis eine Vergilanspielung (das würde auch ihre unbestreitbare Vagheit erklären).