Ein Brief über Standhaftigkeit im Glauben an Jacques Daléchamps

Conrad Gessner

Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 13.06.2023.


Entstehungsdatum: 8. Januar 1562, gemäss der Angabe des Herausgebers von 1646 in seiner Fussnote (S. 134).

Ausgabe: Museum Helveticum. Ad iuvandas literas in publicos usus apertum, Particula I, Zürich 1746, Litteris Conradi Orelli et Soc., 133-150, hier: 133-136, 140-141 und 150.

Deutsche Übersetzung: Ein Grossteil des Briefes findet sich erstmals übersetzt bei J. Hanhart, Conrad Geßner. Ein Beytrag zur Geschichte des wissenschaftlichen Strebens und der Glaubensverbesserung im 16ten Jahrhundert, Winterthur, Steiner, 1824, 170-176.

 

Den vorliegenden Brief schrieb Gessner am 8. Januar 1562 an den ab 1562 im Lyoner Hôtel-Dieu wirkenden französischen Arzt und Botaniker Jacques Joseph Daléchamps (*1513 in Caen; † 1. März 1588 in Lyon), dessen Historia generalis plantarum (Lyon 1586-1587) zu den grossen botanischen Arbeiten des 16. Jahrhunderts gehört; ausserdem veröffentlichte er 1570 eine Chirurgie françoise und trat als Übersetzer antiker Autoren (Plinius des Älteren, Galens,...) hervor. Aus der Zeit vom 6. Januar 1560 bis zum 6. September 1561 liegen in einer Pariser Handschrift sieben ältere Briefe aus der Korrespondenz der beiden Gelehrten mit wissenschaftlichem Inhalt vor (vier aus der Feder des Zürchers, drei aus der des Franzosen).

Doch derartiger gelehrter Austausch über naturwissenschaftliche Fragen bildet nicht den Inhalt des vorliegenden Briefes. Gessner hatte erfahren, dass Daléchamps vom Protestantismus zum Katholizismus konvertiert bzw. zurückgekehrt war. Schon die (vermutlich vom Herausgeber ergänzte) Überschrift des Briefes («Über die Standhaftigkeit im Glauben. Gegen die Apostasie») macht sehr deutlich, wie der überzeugte reformierte Christ Gessner diesen Schritt einschätzte. Sein Brief präsentiert sich als ambitionierter Versuch, den gelehrten Freund wieder von der für Gessner unumstösslichen Wahrheit des reformierten Glaubens und der Verwerflichkeit der Papstkirche zu überzeugen. Gessner betont sowohl im Verlaufe des Briefes wie an dessen Ende, dass sein Schreiben in grosser Eile entstanden war. Überblickt man das Schreiben im Ganzen, so drängt sich der Eindruck auf, dass es sich bei dieser Bemerkung nicht nur um einen Bescheidenheitstopos, sondern auch um eine Tatsachenbeschreibung handelt. Gessner betont, dass er mit seinen Belehrungen nur das Beste für Daléchamps im Sinn hat.

Inhaltlich lässt sich das Schreiben in seiner Gesamtheit unter Berücksichtigung der Hauptgedanken ungefähr so zusammenfassen (die Seitenangaben gemäss der Ausgabe von 1746):

  1. (S. 133-135a): Gessner grüsst Daléchamps und bedauert, dass diesem in letzter Zeit Schlechtes widerfahren ist (was, wird nicht näher ausgeführt). Aber vielleicht will Gott ihn dadurch ja prüfen und bessern?
  2. (S. 135b-136a): Gessner äussert sein Bedauern über Daléchamps Religionswechsel und wirft ihm mangelnde Standhaftigkeit im Glauben vor. Für Daléchamps Entscheidung sieht er zwei Gründe: 1. Den grösseren äusseren Glanz des Katholizismus (S. 135: pompa; sicher auf die Liturgie im Vergleich zur reformierten Schlichtheit gemünzt); und 2. Fehler und Vergehen auf der protestantischen Seite (die er nicht weiter spezifiziert).
  3. (S. 136b-137a): Im Folgenden leitet er über zu einer Diskussion theologischer Fragen. Für Gessner ist der römische Papst der Antichrist; sollte Daléchamps anders darüber denken, hat er sich zu wenig mit der Heiligen Schrift beschäftigt. Inhaltlich unterfüttert Gessner sein Urteil über den Papst damit, dass dieser sich anmasst, was Christi ist: er spricht konkret zum Beispiel den Anspruch der Vollmacht zur Sündenvergebung, die Fasten- und Abstinenzvorschriften sowie die Eheverbote (d. h. die Zölibatsverpflichtung der Priester) an.
  4. (137b-138a): Gessner fordert Daléchamps zu theologischen Studien und Gebet auf und verweisst auf das Christuswort «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben» (Joh 14,6), dem die Katholiken («ihr») zuwiderhandelten durch ihre Heiligenverehrung und die vielen Dokumente (Konzilien, Kirchenväter, Dekretalen etc.), die sie über die einfache Wahrheit des Evangeliums und des Glaubensbekenntnisses stülpten.
  5. (138b-143a): Gessner fordert Daléchamps in starken, auf emotionale Wirkung zielenden Worten auf, seine Naturstudien einige Zeit ruhen zu lassen und sich stattdessen in die Heilige Schrift und das Gebet zu versenken und mit aller Kraft nach der Erkenntnis der Wahrheit zu streben. Er soll seine Sündhaftigkeit anerkennen (140). Auf die Schriften der Reformatoren will Gessner ihn ausdrücklich nicht verweisen, weil sie irrtumsfähige Menschen seien; stattdessen fordert er ihn noch einmal zum Studium der Heiligen Schrift auf (140) und macht deutlich, zur Erkenntnis welcher Wahrheiten über Gott und sich selbst Daléchamps auf diesem Wege gelangen wird (141-143).
  6. (143b): Gessner geht auf einige konkrete Fragen der Bibelauslegung ein. Wie ist mit den Auslegungen der Kirchenväter umzugehen? Wie mit scheinbar widersprüchlichen Aussagen der Bibel?
  7. (144-146a): Gessner bekennt sich dazu, dass alles Heil nur von Gott bzw. Christus kommt und kritisiert noch einmal die katholische Heiligenverehrung (aus historischen Gründen: er betrachtet sie als spätere Erfindung). Er betont gegenüber Vorwürfen von katholischer Seite den protestantischen Anspruch, keine neue Religion darzustellen. Auch in Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Protestantismus sieht er kein legitimes Gegenargument, weil in den wesentlichen Punkten Einigkeit bestehe, besonders in dem zentralen Punkt der Rechtfertigung durch Christus alleine und der damit verbundenen Ablehnung der Werkgerechtigkeit.
  8. (146b-147a): Noch einmal fordert Gessner Daléchamps zum Bibelstudium auf. Er soll der Wahrheit ohne Furcht vor äusseren Nachteilen folgen. Er fordert ihn auf, sein ewiges Heil im Blick zu haben (v.a. S. 147).
  9. (147b-149a): Gessner will zum Schluss kommen. Er zeichnet ein religionspolitisches Bild ihrer europäischen Gegenwart. Für ihn gibt es keinen Zweifel, dass der Katholizismus auf dem absteigenden Ast ist und der Protestantismus siegen wird. Er zählt die bereits protestantisch gewordenen Nationen auf (148) und warnt, dass eine Protestantenverfolgung in Frankreich massive Gegenwehr hervorrufen würde. Der gegenwärtige römisch-deutsche Kaiser Ferdinand habe keine Kraft, gegen den Protestantismus vorzugehen und sein Nachfolger werde ihn vielleicht schon begünstigen (149).
  10. (149b-150): Gessner erneuert seine Bitte an Daléchamps, bekräftigt seinen eigenen guten Willen und spricht eine Einladung nach Zürich aus, falls Daléchamps in Frankreich keine gelehrten protestantischen Gesprächspartner finden kann.

Auch in dieser Zusammenfassung werden die zentralen Aspekte des Schreibens deutlich:

  1. Die Betonung der protestantischen Grundüberzeugungen vom absoluten Wert des Bibelstudiums und der Rechtfertigungslehre.
  2. Die entschiedene Ablehnung der römischen Papstkirche und ihrer religiösen Bräuche als evangeliumswidrig und antichristlich.
  3. Der starke religiöse und moralische Druck, den Gessner – ungeachtet der Höflichkeit seines Schreibens – auf Daléchamps auszuüben versucht. Wenn er ihm vertiefte biblische bzw. theologische Studien und intensives Gebet anempfiehlt, transportiert er damit zwei weitere Botschaften. Zum einen diese: Daléchamps Übertritt zum Katholizismus beruht für Gessner auf unzureichender Überlegung, denn zum anderen lässt Gessner ja keinen Zweifel daran, dass ein ehrliches und intensives religiöses Studium nur zum reformierten Christentum führen kann.
  4. Eine starke Überzeugung vom nahe bevorstehenden Triumph des reformierten Bekenntnisses, die sich in dieser Form in der historischen Rückschau als Illusion erweist.

Es wäre zum besseren Verständnis des Schreibens sicher hilfreich, wenn wir mehr über die Biographie Daléchamps, seine Erlebnisse und seine persönliche Situation zu jener Zeit wüssten; da dies nicht der Fall ist, müsste jeder Versuch einer Interpretation vor dem Hintergrund der historischen Situation in Frankreich notwendig spekulativ bleiben und soll hier daher unterbleiben.

Die dieses Schreiben auszeichnende Mischung aus theologischer Argumentation, persönlichen Vorwürfen und protestantischem Triumphalismus erreichte, soweit man weiss, ihr Ziel beim Adressaten nicht. Daléchamps brach den Briefwechsel mit dem von ihm in dieser Situation wohl als impertinent empfundenen Gessner ab. Wirklich überraschend ist es nicht, dass Daléchamps auf diesen Brief Gessners offenbar nichts erwidern wollte. Denn ungeachtet aller Höflichkeitsfloskeln und der erklärten Absicht, nur das Beste des Empfängers im Sinn zu haben, ist Gessners Brief doch auch durchzogen von persönlichen Vorwürfen an Daléchamps, die letztlich in Gessners absolutem Unverständnis für eine Konversion wurzeln, die er von seinem eigenen Standpunkt aus weder gutheissen noch auch nur als eine legitime persönliche Glaubensentscheidung Daléchamps anerkennen kann. Daléchamps Konversion ist für ihn erkennbar ein auf mangelhaften Studien beruhender Irrtum bzw. eine Verblendung, die unbedingt durch vertiefte theologische Studien und Gottes Gnade korrigiert werden muss. Für Gessner geht es um nichts weniger als das ewige Heil seines Briefpartners. In mehr als einer Hinsicht zeigt dieser Brief also, wie Religion im Zeitalter der Glaubensspaltung zu einem gesellschaftlich trennenden Faktor werden konnte, besonders wenn sie – wie hier bei Gessner – mit missionarischem Anspruch auftrat. In dieser hier exemplarisch zutage tretenden Problematik liegt eine der Wurzeln für die zunehmende Zurückhaltung, die religiösen Themen allgemein im gesellschaftlichen Diskurs der Moderne entgegengebracht wird. Immerhin hat Gessner mit seinem Schreiben, das zugleich ein persönliches Glaubensbekenntnis ist, eines der Postulate der antiken Brieftheorie mustergültig erfüllt. Dieses Schreiben ist wahrhaft ein «Spiegel der Seele des Schreibers» und trägt auf diese Weise zum Verständnis der Persönlichkeit Gessners bei.

 

Bibliographie

Christ, H., «Jacques Dalechamp. Un pionnier de la flore des Alpes occidentales au XVIme siècle», Bulletin de la société botanique de Genève, 9 (1917), 137-164.

Hanhart, J., Conrad Geßner. Ein Beytrag zur Geschichte des wissenschaftlichen Strebens und der Glaubensverbesserung im 16ten Jahrhundert, Winterthur, Steiner, 1824.

Leu, U. B., Conrad Gesner als Theologe. Ein Beitrag zur Zürcher Geistesgeschichte des 16. Jahrhunderts, Bern, Peter Lang, 1990, hier: 291-293.

Leu, U. B., Conrad Gessner (1516–1565). Universalgelehrter und Naturforscher der Renaissance, Zürich, Neue Zürcher Zeitung, 2016, hier: 74-77.

Räß, A., Die Convertiten seit der Reformation nach ihrem Leben und aus ihren Schriften dargestellt, Freiburg i. Br., Herdersche Verlagshandlung, 1866, Bd. 1, hier: 578-583.

Staedtke, J., «Conrad Gesner als Theologe», Gesnerus 23 (1966), 238-246, hier: 240-241.