Ilias
Rudolf Gwalther
Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 10.02.2023.
Entstehungszeitraum: Abgeschlossen am 6. Februar 1544 (s. die Handschrift, fol. 28ro).
Handschrift (Autograph): Zentralbibliothek Zürich, Ms C 86a, fol. 18ro-28ro; hier: fol. 18vo-20ro und 25ro-vo.
Metrum: Hexameter (Akte 1-4) bzw. elegisches Distichon (Epilog und Prolog).
Der vorliegende Text ist eine dramatische Adaptation des ersten Buchs der Ilias (ca. die Verse 1-611), deren Text weitgehend der vier Jahre zuvor in Basel erschienenen Iliasübersetzung des damals in Marburg wirkenden Helius Eobanus Hessus entnommen ist; bei diesem hatte Gwalther ab August 1540 bis zum Tode des Gelehrten im Oktober desselben Jahres studiert. Von einer offensichtlich engen Lehrer-Schüler-Beziehung zwischen den beiden zeugt noch heute ein Exemplar der im September 1540 erschienenen Iliasübersetzung, das Hessus dem jungen Schweizer in Marburg zum Geschenk gemacht hatte. In seiner dramatischen Adaption modifiziert Gwalther diese Vorlage gelegentlich und nimmt hier und da Kürzungen vor; von einer eigenständigen poetischen Leistung seinerseits kann dennoch nicht ernsthaft die Rede sein, eher von einer literarischen Übung. Eine Aufführung fand am 28. Februar 1544 im Hause Rudolf Gwalthers statt; darunter kann man sich wohl eine Art Schülertheater vorstellen. Wahrscheinlich hat Gwalther sein Stück – oder besser: seine Textkompilation – auch genau für diesen einen Termin angefertigt. Eine plagiatorische Absicht kann man schon aufgrund der anzunehmenden Bekanntheit der erst vier Jahre zuvor erschienenen Vorlage von Hessus ausschliessen; ausserdem hat Gwalther sein Übungsstück nie in den Druck gegeben.
Inhaltlich geht es um die Entstehung des «Zorns des Achilles», der ja bekanntlich das eigentliche Hauptthema dieses homerischen Epos ist. Zur Erinnerung: Der Oberbefehlshaber der Troja belagernden Griechen, der mykenische König Agamemnon, beleidigt den aus Chryse, einer Nachbarstadt Trojas, kommenden Apollopriester Chryses, der seine von den Griechen bei einem Raubzug gefangengenommene Tochter freikaufen möchte, und verweigert ihm sein Anliegen. Chryses bittet daraufhin seinen Gott, ihm zu helfen; Apoll schickt Pestpfeile ins Lager der Griechen. Bei einer Heeresversammlung verkündet der Seher Kalchas, dass man die Chryseis zurückgeben muss, um den Gott zu besänftigen. Während der Versammlung kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen Agamemnon und dem Helden Achilleus (dem Sohn des Königs von Phthia), die ein Besänftigungsversuch des alten Nestors (des König von Pylos) nicht stillen kann. Der Streit verstärkt sich, als Agamemnon als Ersatz für sein Beutemädchen verlangt, dass man ihm die Briseis, die Achilleus dieser bei der Eroberung der Stadt Lyrnessos erbeutet hatte, aushändigt. Nur eine Ermahnung durch die unsichtbar auftretende Pallas Athene hält Achilleus davon ab, mit dem Schwert auf Agamemnon loszugehen. Achilleus klagt hierauf sein Leid seiner Mutter, der Meergöttin Thetis, die anschliessend bei Zeus (gegen den Widerstand von dessen Frau Hera) erwirkt, dass die Ehre ihres Sohnes gerächt werden wird. Solange dieser grollt und sich weigert, zusammen mit den anderen Griechen zu kämpfen, werden sie keine Erfolge erzielen, sondern die Trojaner triumphieren. Gwalther stellt seinem Stück als argumentum eine Passage aus einer Epistel des römischen Dichters Horaz (65-8 v. Chr.) voraus (ep. 1,2,6-16; Horaz stellt in diesem poetischen Brief die tiefen ethisch-philosophischen Wahrheiten heraus, die die Ilias-Handlung enthält). Bei der Betrachtung des Stücks fällt auf, dass der erste Akt disproportional kurz ist. Gwalther verzichtet in seinem Stück auf Chorlieder; dies wohl aus arbeitsökonomischen Gründen, da er sie sich selbst hätte ausdenken müssen und dafür nicht auf das Wortmaterial von Hessusʼ Iliasübersetzung zurückgreifen konnte.
Ein kurzer Überblick über die Handlung (wir verwenden im Folgenden wie Gwalther für die Akteure latinisierte Namensformen):
Prolog: Ankündigung des Stücks und Bitte um Aufmerksamkeit.
Erster Akt: Der Apollonpriester Chryses bietet Agamemnon Geschenke an, wenn der ihm seine kriegsgefangene Tochter zurückgibt. Der griechische Feldherr lehnt brüsk ab. Chryses bittet deshalb Apollo, die Griechen mit Pestpfeilen zu bestrafen.
Zweiter Akt: Versammlung der Griechen. Achilles skizziert die Situation. Calchas verkündet auf Achilles zureden, weshalb Apoll zürnt. Man müsse die Tochter des Chryses zurückgeben und Apoll Opfer darbringen. Agamemnon ist zornig, doch Achilles hält dagegen. Agamemnon kündigt an, Achilles zum Ausgleich dessen Beutemädchen Briseis wegzunehmen. Achilles zückt sein Schwert, doch Pallas (Athene) hält ihn zurück. Achilles kritisiert Agamemnon verbal. Nestor klagt über den Streit und versucht zu vermitteln. Achilles und Agamemnon scheiden unversöhnt voneinander.
Dritter Akt: Agamemnon befiehlt den Botschaftern, die Briseis zu holen. Achilles empfängt sie und liefert Briseis aus. Er geht zu Meer und beklagt sich bei seiner Mutter, der Meergöttin Thetis. Sie verspricht ihm, für ihn bei Jupiter einzutreten. Er soll in seinem Zorn gegen die Griechen verharren.
Vierter Akt: Thetis tritt für ihren Sohn bei Jupiter (= Zeus) ein, was der eifersüchtigen Juno (= Hera) nicht gefällt. Noch mehr zürnt sie, als er Thetis Bitten genehmigt. Er weist Juno zurecht. Vulkan (= Hephaistos) beklagt den Streit und ermahnt seine Mutter Juno.
Epilog: Vom Stück ausgehende Klage über Unmässigkeit und Begierde der Mächtigen gerade auch in der eigenen Gegenwart (mit Spitzen u. a. gegen den Papst). Bitte an Christus/Gott um Besserung der politischen Verhältnisse. In diesem Epilog versucht Gwalther offenbar – ganz im Sinne des aus Horaz entliehenen argumentum – das Stück mit einer tieferen, über die unmittelbare Handlung hinausgehenden Sinngebung zu versehen.
Prolog und Epilog sind Eigenschöpfungen Gwalthers; die dramatischen Dialogpartien dagegen stammen zum grössten Teil wortwörtlich oder mit nur geringen Modifikationen und gelegentlichen Kürzungen aus der Iliasübersetzung des Hessus. Als mutmasslich für dramatische Übungen bestimmte Gelegenheitsarbeit ist diese Ilias aufschlussreich; einen darüber hinausgehenden literarischen Eigenwert besitzt sie nicht.
Bibliographie
Boesch, P., «Homer im humanistischen Zürich», Zwingliana 8/7 (1947), 390-398.