Über theologische Dichter, Mytheninterpretation und Homer
Conrad Gessner
Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 18.06.2023.
Entstehungsdatum: terminus ad quem ist der März (Datum der Widmungsbriefe).
Ausgaben: Moralis interpretatio errorum Ulyssis Homerici. Commentatio Porphyrii Philosophi de Nympharum antro in XIII. libro Odysseae Homericae, multiplici cognitione rerum variorum instructissima. Ex commentariis Procli Lycii, Philosophi Platonici in libros Platonis de Repub. apologiae quaedam pro Homero, et fabularum aliquot enarrationes, Zürich, Froschauer, 1542, fol. 16ro-vo, 32ro-vo; Bibliotheca universalis, sive Catalogus omnium scriptorum locupletissimus in tribus linguis Latina, Graeca et Hebraica, Zürich, Froschauer, 1545, fol. 335vo.
Die hier vorliegenden Texte zeigen Gessner als Gräzisten und Homerexegeten. Zahlreiche Zeugnisse belegen Gessners intensives Interesse an der griechischen Sprache und Literatur. Und immerhin gut mehrere Jahre (1537 bis 1540) hat er in Lausanne als Professor des Griechischen an der dortigen Akademie gelehrt, wobei Homer naturgemäss eine zentrale Rolle zukam. Text 3 belegt eindrücklich, wie sehr Gessner diesen Dichter schätzte und bedarf keiner weiteren Kommentierung. Um Text 1 und Text 2 zu verstehen, ist ein kurzer geistesgeschichtlicher Exkurs nötig.
Bereits in der Antike wurden Versuche unternommen, die homerischen Mythen – oder die traditionellen Mythen überhaupt – in unterschiedlicher Weise allegorisch auszulegen (theologisch, metaphysisch, ethisch) und ihnen somit einen Wert und eine Bedeutung beizulegen, die über den reinen Wortlaut hinausgehen. Hatte Platon die allegorische Deutung von Mythen noch abgelehnt und Aristoteles sie massvoll gehandhabt, so identifizierten die Stoiker «die Hauptgestalten der griechischen Mythologie mit Tugenden, Elementen, Fähigkeiten oder sogar [...] Menschenwesen.» Ab dem ersten Jahrhundert n. Chr. begriff man die Mythen zunehmend als Ausdruck göttlicher Offenbarungen; die Dichter aber, als darin Eingeweihte, vermittelten diese göttlichen Lehren in ihren Gedichten auf verschlüsselte Weise denen, die sie richtig zu verlesen verstünden. In der Spätantike bemühten sich vor allem Neuplatoniker und Christen um eine derartige Dichtungsexegese: die einen versuchten, die platonische Lehre mit den überlieferten Götterlehren (auch der Homers) zu harmonisieren, während manche christliche Intellektuelle sich bemühten, den Mythos auf die kirchliche Lehre hin auszulegen. Auch im christlichen Mittelalter wurden Dichtungstexte des Altertums auf diese Weise ausgelegt, wobei man besonders nach verborgenen moralischen Aussagen suchte.
Wertschätzung erfuhr Homer auch im reformierten Zürich. Zwingli, der nach Bullingers Zeugnis gerne im Homer las, bevorzugte die allegorische Interpretationsmethode, die es ihm ermöglichte, «die homerische Dichtung als Analogie zum Christentum oder als dessen Präfiguration» auszulegen; er verfasste Scholien zur Ilias, die allerdings nicht erhalten sind.
1542 veröffentliche Gessner seine Übersetzungen mehrerer wichtiger Texte dieser Art von Dichtungsinterpretation, die davon ausgehen, dass sich in dem homerischen Text tiefere (vor allem philosophische und theologische) Aussagen verbergen, als eine oberflächliche Lektüre nahelegen könnte. Damit erweist er sich typischer Vertreter des Zwingli-Kreises. Gessner lieferte Übersetzungen folgender Schriften:
- Einer moralischen Interpretation der Irrfahrten des Odysseus aus der Feder eines für ihn anonymen Autors (es handelt sich um den zwischen 1294 und 1359 lebenden Byzantiner Nikephoros Gregoras; doch Gessner scheint die Schrift für antik gehalten zu haben). Diesen 1531 erstmals von Vincentius Opsopoeus (†1539) herausgegebenen Text schätzte Gessner aufgrund seiner mit dem Christentum sehr gut kompatiblen Tendenz.
- Den Kommentar des neuplatonischen Philosophen Porphyrios (233-305 n. Chr.) über die Grotte der Nymphen im dreizehnten Buch der Odyssee, in dem die Heimkehr des Odysseus nach Ithaka auf das Schicksal der menschlichen Seele hin ausgedeutet wird, die sich inmitten der sinnlichen Versuchungen der materiellen Welt bemüht, in ihre eigentliche Heimat, die unsinnliche und intellegible Welt, zurückzukehren. Wir haben hier den Widmungsbrief an Beat Comte aufgenommen, den Gessner seiner Übersetzung voranstellte. Gessner bekennt sich dort zu der unter den Humanisten verbreiteten Ansicht, dass die Werke der antiken Dichter philosophische Einsichten enthalten. In Bezug auf Porphyrios stellte sich freilich das Problem, dass der Philosoph zu seinen Lebzeiten ein entschiedener Gegner des Christentums gewesen war; Gessner spricht dieses Problem in seinem Widmungsbrief an Comte an, versucht ihm aber die Spitze zu nehmen.
- Die Apologia quaedam pro Homero (Apologie für Homer) des Neuplatonikers Proklos (412-485 n. Chr.), einen Teil von dessen Kommentar zu Platons Schrift über den Staat, in der Platon auch Ansichten zur Poesie äussert; Proklos unternimmt in seinem Kommentar eine Verteidigung Homers gegen die dichtungsfeindliche Haltung Platons (der die Dichter aus seinem Idealstaat verbannen wollte). In seinem Widmungsbrief an Jean Ribit, der seit 1541 in Lausanne Griechischprofessor war (und in dieser Funktion ein Nachfolger Gessners), stellt Gessner grosse Übereinstimmungen zwischen der christlichen Lehre und den Lehren der platonischen Philosophen fest, und gibt dafür mögliche Begründungen an. Platon könnte in Ägypten mit diesen Mysterien in Berührung gekommen sein bzw. die Platoniker könnten die Heilige Schrift gelesen haben oder aber es könnte übernatürlicher Einfluss (Dämonen, Orakel) dafür verantwortlich sein. Indem Gessner derart von einer weitgehenden Harmonie zwischen Christentum und Platonismus ausgeht, zeigt er sich von den Lehren der Florentiner Akademie um Marsilio Ficino beeinflusst.
1544 sollte Gessner auch noch eine Übersetzung einer allegorischen Homererklärung veröffentlichen (Allegoriae in Homeri fabulis de diis), in denen der homerische Text historisch, moralisch und physikalisch ausgedeutet wird. Gessner schrieb diesen Text dem platonischen Philosophen Herakleides Pontikos (390-322 v. Chr.) zu; in der modernen Forschung wird auch ein gleichnamiger Rhetor der augusteischen Epoche als möglicher Autor angesehen. Der griechische Text war erstmals 1505 in Venedig gedruckt worden. Es ist ein Charakteristikum der hier von Gessner forcierten, in seinem wie in dem anderer Vertreter des Zwingli-Kreises letztlich christlich-theologisch inspirierten Homerallegorese, dass das Hauptinteresse der Odyssee gilt, die sich besser als die Ilias für dieses Interpretationsverfahren eignet.
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