Streitgespräch mit dem Tod
Joachim Vadian
Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 03.11.2023.
Entstehungszeitraum: 1510/1511.
Ausgaben: Arbogasti Stsub [Strub] Glaronensii Orationes duae, quas dum in humanis fuit habuit. Deinde nonnulla mortuo ab doctis viris eulogia, epitaphiaque pie posita. Certamen item de morte per Ioach. Vadianum, Vienne, Vietor und Singriener, 1511, fol. E4ro-F2ro; Brandstätter/Trümpy (1955), 158-161 (mit deutscher Übersetzung; Kommentar ebd., 206-210.
Metrum: elegische Disticha.
1510 verstarb in Wien der junge glarnerische Humanist Arbogast Strub (⁕1483), ein Freund Vadians. Zu seinen Ehren veröffentlichte Vadian 1511 eine Gedichtsammlung. Diese enthält sechs religiöse Gedichte aus Strubs eigener Feder sowie Trauergedichte von Freunden Strubs. Vadian selbst steuerte mehrere Beiträge zu der Sammlung bei: einen Widmungsbrief an Zwingli, einen Brief an den Humanisten Peter Eberbach, ein an den Leser adressiertes Gedicht in elegischen Distichen, fünf ebenfalls elegische Trauergedichte, den hier zu behandelnden Dialog mit dem Tod, eine Ode zum Osterfest und ein kurzes, sich an Kritiker wendendes Schlussgedicht.
Das Werk, die Certatio cum Morte, präsentiert sich als streitbarer Dialog zwischen Vadian und dem Tod, den er wenig schmeichelhaft als Pamphagus, als Allesfresser, tituliert. Der Dichter macht seinem Kontrahenten dessen für die Menschheit so unerfreuliches Wirken zum Vorwurf; dabei treibt ihn erklärtermassen seine Trauer um den eben verstorbenen Arbogast. Der Tod lässt sich auf diese ins Grundsätzliche ausgreifende Debatte ein und bleibt auf keinen von Vadians Vorwürfen die Antwort schuldig. Ungeachtet dieses ernsten Inhalts: Schon die Überschrift des Gedichts macht deutlich, dass das Werk den Leser nicht nur belehren, sondern durchaus auch unterhalten und erheitern soll; und dies gelingt Vadian durchaus.
Das Gedicht - «eines der schönsten und tiefsten Gedichte Vadians» - umfasst insgesamt 220 Verse. Im Folgenden wird eine Gliederung des gesamten Dialogs gegeben. Es wird dabei der Hauptakzent auf den Inhalt der Belehrungen gelegt, die der Tod Vadian auf dessen Vorwürfe hin erteilt. Denn in diesen Belehrungen liegt die Botschaft des Gedichts.
1-38: Eingangsszene
1-6: Vadian geht den Tod hart an
7-16: der Tod bietet ihm einen Kampf an
17-38: man einigt sich auf einen verbalen Wettstreit ohne Waffen
39-60: Gespräch über Arbogast
39-52: Vadian klagt über Arbogasts Tod
53-60: der Tod schaut in seinen Unterlagen den Eintrag zu Arbogast nach
61-214: Grundsätzlicher Dialog über das Wesen des Todes (Hauptgedanken)
61-74: der Zeitpunkt des Todes ist von der Parze und von Gott festgelegt
75-102: der Mensch erfährt seinen Todestag nicht; er muss sich stets darauf vorbereiten
103-123: die Hölle; die Herrlichkeit des Himmels, in dem es kein Leid mehr gibt
124-126: die Herrschaft des Todes in dieser Welt
127-140: die Weisen führt der Tod zu den Sternen, die Sünder in die Hölle
141-166: die Abneigung der Menschen gegen den Tod ist ungerecht und vergeblich
167-184: das Leben ist die Mutter des Todes
185-188: der Tod führt zum ewigen Leben
189-208: grosse Gelehrte sterben, doch ihre Werke leben auf Erden fort
209-214: alle, auch grosse Dichter und Gelehrte, müssen sterben
215-220: Verabschiedung der beiden Disputanten; Vadians Mahnung an den Leser
Eine Anregung für Vadian zur Abfassung dieses Werks könnte ein Elegidium von Vergilius Portius gewesen sein, das er in der Ausgabe der Werke des Codrus vorfand, die Filippo Berolado der Jüngere 1506 besorgt hatte. Im Elegidium wird der Tod persönlich angesprochen und dafür getadelt, dass er Codrus geholt hat. Zu zeitlich vorher entstandenen literarischen Dialogen mit dem Tod (man denke etwa an den Ackermann aus Böhmen) lässt sich laut Bandstätter/Trümpy bei unserem Gedicht hingegen keine Beziehung feststellen. Christian Kiening hält es dagegen zumindest für möglich, dass Vadian den Ackermann kannte. Vadian stellt den Tod weder als «Feind» der Menschen dar, aber auch nicht als «Freund», der sie vom Elend der Welt erlöst; sondern als integralen Bestandteil des Lebens, als «Funktion des Lebens». So überrascht es nicht, dass auch das himmlische Jenseits gemäss seiner pythagoräisch inspirierten Beschreibung in diesem Gedicht (V. 117-120) sich durch eine vollendete Harmonie auszeichnen soll.
Die Originalausgabe von 1511 enthält auch einen schönen, dem Gedicht vorgeschalteten Holzschnitt eines unbekannten Meisters, der den Tod und Vadian bei ihrem Gespräch zeigt; bemerkenswert ist, dass der Tod nicht als Skelett dargestellt ist, sondern wie ein hässlicher, stark abgemagerter alter Mann aussieht (oder vielleicht doch schon eher wie eine Leiche am Anfang des Verwesungsprozesses?). Es ist vermutet worden, dies sei der Tatsache geschuldet, dass bei dramatischen Vorführungen der Tod durch einen echten Menschen und nicht durch ein Skelett dargestellt werden musste (das ist freilich keine wirklich zwingende Begründung). Auf dem Holzschnitt präsentiert der Tod dem im Gewande eines Gelehrten auftretenden Vadian soeben sein Merkbuch, das im Text (auch in dem von uns gewählten Ausschnitt) eine gewisse Rolle spielt; seine Waffen (Pfeil und Bogen; Speer; Seil und Sichel) hat er auf den Boden gelegt.
Es ist unmöglich, angesichts dieses Textes und seiner Illustration in der Originalausgabe nicht an die seit dem ausgehenden Mittelalter bestehende Tradition der «Totentänze» zu denken, jene Text- und Bilderzyklen, in denen der als Skelett versinnbildlichte Tod in jedem Bild eine Person, die sinnbildlich für einen bestimmten Stand bzw. eine bestimmte Gruppe steht (gelegentlich sind es auch mehrere Personen) mehr oder weniger herrisch anpackt, damit sie ihm nachtanzen und diese Welt verlassen. Diese Szenen werden von einem kurzen Text begleitet, in dem zunächst der Tod und dann sein mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiertes Opfer zu Wort kommen. Ursprünglich handelte es sich bei solchen Totentänzen um monumentale Wandgemälde auf Friedhöfen (beginnend mit dem Kirchhof der Franziskanerkirche SS. Innocents in Paris von 1424/25), die später z. B. auch als Holzschnitte Verbreitung fanden oder auch originär für dieses Medium hergestellt wurden (so der Totentanz des Hans Holbein d. J. von 1538). Prominente Vertreter auf dem Gebiet der heutigen Schweiz sind der 1805 abgerissene, jedoch über Kupferstiche Merians noch greifbare Basler Totentanz (um 1440, an der Kirchhofmauer des Prediger- bzw. Dominikanerklosters), der älteste Totentanz im deutschsprachigen Raum, und der 1660 für eine Strassenerweiterung zerstörte Berner Totentanz des Niklaus Manuel aus den 1520ern (auch hier die Kirchhofmauer des Dominikanerklosters), von dem Albrecht Kauw einige Jahre vor dem Abriss noch Aquarellkopien angefertigt hatte.
Man wird sicher davon ausgehen können, dass Vadian mit dieser Tradition vertraut war. Wesentliche Unterschiede zwischen den Totentänzen und seiner Certatio sind freilich nicht zu verkennen, und sie betreffen nicht nur das antikisierende Dekor des Dialogs (der ungeachtet dessen im Übrigen inhaltlich durchaus mit der christlichen Religion vereinbar ist): In der Illustration zu Vadians Text ist der Tod nicht als Skelett dargestellt, und auch die Gesprächssituation zwischen dem Sterblichen und dem Tod ist in der Certatio eine andere: Mors holt Vadian (noch) nicht, sondern führt mit ihm ein belehrendes Gespräch. Dennoch verbindet diesen Text mit den Totentänzen die Idee des Memento Mori, die Vadian allerdings weniger drastisch vermittelt. Setzen die Totentänze auf Schockwirkung, indem sie vor Augen führen, wie der Tod seine Opfer urplötzlich und unvorbereitet aus dem Leben reisst, so ist für den sterblichen Gesprächspartner der Certatio der Ernstfall noch nicht eingetreten: Er hat noch Zeit, aus seiner gefahrlosen Konversation mit dem Tod – der ihm in V. 104-110 durchaus übereinstimmend mit der christlichen Doktrin Himmel und Hölle als die beiden Optionen des künftigen ewigen Lebens vor Augen stellt – die richtigen Schlüsse zu ziehen und sich durch eine angemessene Lebensführung auf sein unentrinnbares Los vorzubereiten. Und das Gleiche gilt auch für die Leser der Certatio.
Insgesamt betrachtet handelt es sich bei diesem Dialog um eine bemerkenswerte und originelle dichterische Leistung. Inhaltlich beschäftigt er sich mit einem Thema, das zu seiner Entstehungszeit einen enormen Einfluss auf das Leben und Denken der Zeitgenossen hatte und in zahlreichen literarischen und künstlerischen Zeugnissen Niederschlag gefunden hat (die Totentanztradition wurde bereits erwähnt); ihm seinen genauen Platz innerhalb dieser geistesgeschichtlichen Zusammenhänge zuzuweisen, muss künftig Aufgabe weiter ausholender komparatistischer Studien sein.
Kritisch zu fragen ist, ob Vadians Entscheidung glücklich war, für seinen dramatischen Dialog das Metrum des elegischen Distichons zu wählen. Besonders störend fallen in diesem Zusammenhange die häufigen Sprecherwechsel selbst innerhalb eines Verspaares auf (besonders schlimm: V. 215-219), die den Vers- und Lesefluss doch arg behindern. Vadian behandelt das Distichon hier nach Art der römischen Komödienverse, was seinem Charakter nicht entspricht. Neben den raschen Dialogwechseln verweisen auch bestimmte Wörter und Wendungen auf das Vorbild der altrömischen Komödie eines Plautus und Terenz (z. B. in V. 1 der Anruf Heus tu).
Bibliographie
Brandstätter, E./Trümpy, H., Arbogast Strub. Biographie und literarhistorische Würdigung von Elisabeth Brandstätter/Gedächtnisbüchlein, herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Hans Trümpy, St. Gallen, Fehr, 1955.
Kaiser, G., Der tanzende Tod. Mittelalterliche Totentänze, Frankfurt a. M., Insel, 1983.
Kiening, C., Schwierige Modernität: der «Ackermann» des Johannes von Tepl und die Ambiguität historischen Wandels, Tübingen, Niemeyer, 1998, hier: 260-263.
Mörgeli, C./ Wunderlich, U., «Totentanz», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 26.10.2012, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/047600/2012-10-26/.
Näf, W., Vadian und seine Stadt St. Gallen. Erster Band: bis 1518. Humanist in Wien, St. Gallen, Fehr, 1944, hier: 312-315.
Gerade da Vadian seinem Dialog – oberflächlich betrachtet – ein (pagan-)antikes Kostüm angezogen hat («Jupiter», «Parzen» etc.) fällt es auf, wenn in V. 136 auf einmal in bibellateinischer Manier von der Gehenna (der Hölle, ein Lehnwort aus dem Hebräischen) die Rede ist.