Mithridates
Conrad Gessner
Einführung: Kevin Bovier (deutsche Übersetzung: Clemens Schlip). Version: 28.11.2023.
Entstehungszeitraum: der Widmungsbrief setzt als terminus ad quem den 1. August 1555 fest.
Ausgaben: Mithridates. De differentiis linguarum tum veterum tum quae hodie apud diversas nationes in toto orbe terrarum in usu sunt, observationes, Zürich, Froschauer, 1555, fol. 1ro-vo, 2ro, 4ro-vo, 25vo, 37vo-38ro, 65ro-vo; C. Gessner, Mithridate. Mithridates (1555). Introduction, texte latin, traduction française, annotation et index, hg. von B. Colombat/M. Peters, Genf, Droz, 2009, 99-101, 105, 161, 188-189, 253-254.
Conrad Gessner ist vor allem für seine naturwissenschaftlichen Arbeiten bekannt, aber er hat auch ein sehr wichtiges sprachwissenschaftliches Werk veröffentlicht, den Mithridates, den Michail Sergeev als «das erste Handbuch der Sprachen der Welt und die berühmteste Polyglotte des 16. Jahrhunderts» bezeichnet. Der Titel des Werks ist von Mithridates VI. Eupator inspiriert (ca. 132-63 v. Chr.), einem König von Pontos, der 22 Sprachen beherrschte und daher keinen Dolmetscher brauchte, um mit den seiner Macht unterworfenen Völkern zu sprechen. Dieses Interessensgebiet des Zürcher Gelehrten wird auch von seinem ersten Biographen Josias Simler erwähnt und wird bereits in den naturwissenschaftlichen Schriften Gessners deutlich, besonders in dem Catalogus plantarum Latine, Graece, Germanice et Gallice von 1542.
Im Vergleich zu anderen Werken des 16. Jahrhunderts zu diesem Thema, wie De ratione communi omnium linguarum et literarum commentarius (1548) von Theodor Bibliander, ist der Ansatz Gessners insofern originell, als er mehr auf die Unterschiede zwischen den Sprachen und nicht auf ihre Ähnlichkeiten abzielt (daher der Titel De differentiis linguarum…). Was die Gliederung des Textes angeht, so präsentiert der Autor die Sprachen in alphabetischer Reihenfolge, fügt aber Verweise (infra/supra) ein, um Einheitlichkeit zu gewährleisten.
Gessner lässt sich bei seiner Untersuchung der Vielfalt der menschlichen Sprachen wahrscheinlich von der Taxonomie inspirieren, die er in seinen botanischen und zoologischen Werken anwendet. Man kann dieses Werk auch mit der Bibliotheca universalis vergleichen, die sich zum Ziel setzt, einen Gesamtüberblick über das Leben und die Werke der griechischen, lateinischen und hebräischen Autoren zu bieten.
Der erste hier präsentierte Auszug aus dem Mithridates stellt den Anfang der Abhandlung dar, der unter der Überschrift «Beobachtungen zu den Unterschieden zwischen den Sprachen (zunächst allgemeiner Natur)» steht. Man kann erkennen, dass die Sprachgeschichte, wie Gessner sie versteht, ihren Ursprung in der Bibel hat: Der Text beginnt mit einer Anspielung auf die Geschichte vom Turmbau von Babel und der daraus resultierenden Sprachenverwirrung. Das Hebräische wird als Mutter der Sprachen und die einzige reine Sprache betrachtet; alle anderen haben Vermischungen erlitten. Gessner unterscheidet auch zwischen Sprachen und Dialekten: So wird das «Schweizerische» wie ein Dialekt des Deutschen präsentiert und nicht wie eine eigenständige Sprache. Der Autor legt sich ebenfalls Rechenschaft darüber ab, dass es Unterschiede zwischen der Sprache des Volkes und der der Eliten geben kann.
Der zweite Textausschnitt behandelt das moderne Französisch (die Gallica lingua recentior, die Gessner von der Gallica lingua vetera, das bedeutet der keltischen Sprache der Gallier, unterscheidet). Er verdeutlicht gut, wie Gessner sich die historische Entwicklung von Sprachen vorstellt. Er spricht von ihrer Korruption oder ihrer allmählichen Veränderung (die hier vom Lateinischen ausgeht) und begründet dieses Phänomen mit historischen und linguistischen Gründen (Barbareneinfälle bzw. Kontamination einer Sprache durch eine andere). Das Französische seiner Epoche ist laut Gessner aus einem Lateinischen hervorgegangen, das sich mit der Sprache der Gallier und diversen germanischen Sprachen vermischt hatte.
Der dritte Textauszug stammt aus dem umfangreichen Kapitel über die germanischen Sprachen, die den Zürcher Gelehrten besonders interessierten. Es handelt sich hier um einen Vergleich zwischen zwei deutschen Dialekten, dem Schwäbischen und dem Schweizerischen unter dem Gesichtspunkt der Aussprache, der Morphologie und der Lexik.
In einer dem Rätoromanischen gewidmeten Partie (er betrachtet es als einen italienischen Dialekt) bringt Gessner den laut ihm besonders verdorbenen Charakter dieser Sprache mit der Tatsache in Verbindung, dass sie vor seiner Epoche keinerlei Literatur hervorgebracht hatte. Das Ende dieses Textauszugs zeigt, dass Gessner besonders antike (Livius) und zeitgenössische (Aegidius Tschudi) Quellen benutzt, die er manchmal wörtlich zitiert.
Abschliessend sei darauf hingewiesen, dass der Mithridates in den Genuss einer posthumen zweiten Auflage kam (1610); sie wurde vom Zürcher Caspar Waser realisiert, der dem Werk einen Kommentar anfügte.
Bibliographie
Borst, A., Der Turmbau von Babel: Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, Band III: Umbau, Teil I, Stuttgart, Anton Hierseman, 1960.
Gessner, C., Mithridate. Mithridates (1555). Introduction, texte latin, traduction française, annotation et index, hg. von B. Colombat und M. Peters, Genève, Droz, 2009.
Peters, M., «Conrad Gessner, Bahnbrecher der Allgemeinen Linguistik», in: B. Leu/P. Opitz (Hgg.), Conrad Gessner (1516-1565). Die Renaissance der Wissenschaften/The Renaissance of Learning, Berlin/Boston, De Gruyter, 2019, 499-516.
Sergeev, M., «Der Mithridates (1555) zwischen Sprachmuseum und neulateinischem Onomastikon: einige Überlegungen zur Konzeption und zum Genre des Gessnerschen Handbuchs, in: U. B. Leu/P. Opitz (Hgg.), Conrad Gessner (1516-1565). Die Renaissance der Wissenschaften/The Renaissance of Learning, Berlin/Boston, De Gruyter, 2019, 517-532.
Van Rooy, R., Language or Dialect? The History of a Conceptual Pair, Oxford, Oxford University Press, 2020.