Gallus pugnans
Joachim Vadian
Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 02.05.2023.
Entstehungszeitraum: 1513/1514
Ausgabe: Ioachimi Vadiani Helvetii mythicum syntagma, cui titulus gallus pugnans, Wien 1514, Vietor & Singrenius, hier: fol. D3v°-E1r°.
Moderne Bearbeitung für das Theater: Hahnenkampf oder Hennen im Laufgitter (Gallus Pugnans). Eine Renaissance-Posse. Neu für die Bühne bearbeitet von Hans Rudolf Hilty. Mit Beiträgen von Josef Nadler und Werner Näf, St. Gallen, Tschudy, 1959; Gallus Pugnans. Panique au poulailler, in das Französische übersetzt und für die Bühne adaptiert von É. Paupe, Neuenburg, Groupe de Théâtre Antique de l’Université de Neuchâtel, 2021.
1513 unternahm Vadian eine Reise nach Ungarn, während welcher er von der Existenz von Hahnenkämpfen erfuhr. Nach seiner Rückkehr nach Wien verfasste er sein Theaterstück Gallus Pugnans (wörtlich: Der kämpfende Hahn). Mit einem Hahnenkampf im landläufigen Sinne hat Gallus Pugnans wenig zu tun. Vielmehr handelt es sich um eine Farce, die durch den pseudohomerischen Froschmäusekrieg inspiriert ist, das heisst durch die Batrachomyomachie, ein parodistisches Kurzepos von 202 Hexametern Umfang, in dem ein Krieg zwischen Fröschen und Mäusen in der Tonlage und Sprache der Ilias besungen wird. Vadians Stück enthält keine Regieanweisungen. Ob es jemals aufgeführt wurde, ist nicht bekannt, aber auch nicht ausgeschlossen, da Vadian mit seinen Studenten mit seinen Studenten grundsätzlich durchaus Theateraufführungen organisierte.
Die Handlung des Stücks ist einfach: Die Hennen beginnen mittels eines menschlichen Anwalts namens Philonicus («der Siegliebende») einen Prozess gegen die Hähne, da diese infolge ihrer Hähnenkämpfe nicht mehr in der Lage seien, ihren ehelichen Pflichten nachzukommen. Die Hähne lassen sich durch Euthymus («den Mutigen») verteidigen. Die Kapaune fungieren als Schiedsrichter und raten zum Ausgleich. Doch der Parasit Lichenor («der Speichellecker») schlägt am Ende vor, die tierischen Beteiligten einfach alle kulinarisch zu verwerten. Die langen Plädoyers der Anwälte verleihen dem Stück trotz der wiederholten Anreden der Zuschauer einen eher undramatischen Charakter.
Der Text enthält zahlreiche Scherze sowie Wort- und Klangspiele. Darüber hinaus ist er durchzogen von zahlreichen gelehrten Anspielungen auf berühmte gelehrte Autoren, nicht zuletzt solche der Antike, doch auch spätere Zeiten kommen zu ihrem Recht: Das Spektrum reicht von Platon, Lukian und Plinius dem Älteren über die Kirchenväter und Albertus Magnus bis zu Pico de la Mirandola. Wie der hier aufgenommene Ausschnitt aus dem Plädoyer des Euthymus zeigt, wird vor den Augen und Ohren des imaginären Zuschauers so ein buntes kulturhistorisches Panorama zum Thema «Hahn» entfaltet, das Naturgeschichte, Dichtung, Philosophie und religiöse Vorstellungen (und noch weitere Aspekte) gleichermassen berücksichtigt.
Vadians Gallus Pugnans ist eine amüsante Lektüre. Seine satirische Stossrichtung ist unübersehbar; insofern geht er über eine einfache Farce hinaus. Dass Hennen und Hähne sich nach Art einer Fabel in menschengleicher Weise verhalten, ermöglicht es dem Dichter, typische menschliche Schwächen wie Stolz, Eifersucht und Eheprobleme in komischer Weise vorzuführen und seine tierischen Protagonisten einen stereotypen männlich-weiblichen Geschlechterkampf ausfechten zu lassen. Darüber hinaus parodiert er mit seinem Gallus Pugnans auch die von den Humanisten als steril und sinnlos empfundenen scholastischen Disputationen, die sich gerne auch mit (zumindest in den Augen der Humanisten) absurden Themen befassten und von Zitaten aus gelehrten Autoritäten nur so strotzten. Diese intendierte Parodie lässt sich bis in den Verlauf und den äusseren Aufbau der Verhandlung hinein feststellen. Auf sie spielt letztlich wohl schon der Titel des Stücks an: Denn die scholastischen Disputationen bezeichnete man an einigen Universitäten in ironischer Weise auch als «Hahnenkämpfe». Gaier hat die Vermutung geäussert, Vadian habe sich mit dem Gallus Pugnans an der Universität Wien unter den Freunden der alten Disputationsform Feinde geschaffen, doch verbleibt er damit auf dem Felde reiner Spekulation, ohne schlagkräftige Beweise vorzulegen.
Bibliographie
Gaier, U., «Vadian und die Literatur des 16. Jahrhunderts», in: W. Wunderlich (Hg.), St. Gallen. Geschichte einer literarischen Kultur, St. Gallen, UVK Fachverlag für Wissenschaft und Studium, 1999, Bd. 1 (Darstellung), 249-298, hier: 261-270 (Kapitel «Der Gallus pugnans»).
Michael, W. F., Das deutsche Drama des Mittelalters, Berlin/New York, De Gruyter, 1971.
Näf, W., Vadian und seine Stadt St. Gallen. Erster Band: bis 1518. Humanist in Wien, St. Gallen, Fehr, 1944, hier: 257-263.
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Traninger, A., «Hahnenkampf, Agon und Aggression in akademischen Disputationen der frühen Neuzeit», in K. W. Hempfer/A. Traninger (Hgg.), Macht Wissen Wahrheit, Freiburg i. Br./Berlin, Rombach, 2005, 167-181.
Traninger, A., Disputation, Deklamation, Dialog. Medien und Gattungen europäischer Wissensverhandlungen zwischen Scholastik und Humanismus, Stuttgart, Franz Steiner, 2012.
Vadian, J., Hahnenkampf oder Hennen im Laufgitter (Gallus Pugnans). Eine Renaissance-Posse. Neu für die Bühne bearbeitet von Hans Rudolf Hilty. Mit Beiträgen von Josef Nadler und Werner Näf, St. Gallen, Tschudy, 1944.
Zimmel, B., Der Gallus pugnans des Joachim von Watt, Diss. (masch.), Wien, 1947.