Gessner-Biographie

Josias Simler

Einführung: Kevin Bovier et David Amherdt (deutsche Übersetzung: Clemens Schlip). Version: 14.10.2024.


Entstehungszeitraum: zwischen dem 13. Dezember 1565 (Gessners Todesdatum) und dem 24. Februar 1566 (Datum des Widmungsbriefs).

Ausgabe: Vita clarissimi philosophi et medici excellentissimi Conradi Gesneri Tigurini, Zürich, Froschauer, 1566, fol. 4ro-20ro, hier: fol. 2vo, 4vo-5ro, 16ro-vo, 19ro-20ro.

 

Josias Simler, der seit 1564 als Scholarch am Grossmünster wirkte, verfasste als Reaktion auf den Tod seines Landsmanns Conrad Gessner (13. Dezember 1565) eine Biographie dieses grossen Gelehrten und Naturforschers. 1563 hatte Simler schon eine Biographie über Peter Martyr Vermigli (1499-1562) veröffentlichte, der als Professor für alttestamentliche Theologie in Zürich sein Vorgänger gewesen war. Etwa zehn Jahre nach der Vita Gesneri zeichnete er auch das Leben seines Schwiegervaters Heinrich Bullinger (1504-1575) nach. Die Gessner-Biographie unterscheidet sich von den beiden anderen genannten dadurch, dass der Naturforscher keine bedeutende Gestalt des Protestantismus gewesen war. Simler konzentrierte sich daher auf andere Aspekte wie Gessners Gelehrsamkeit und den exemplarischen Charakter seines Lebens. Tatsächlich hat der Biograph – wie Irena Backus zeigen konnte – derart einen pädagogisch ausgerichteten Text geschaffen, der den jungen Studenten seiner Zeit ein Beispiel für moralisches Verhalten vor Augen stellen sollte. In der vita wird diese Zielsetzung deutlich durch die häufig in den Text eingeschalteten Reflexionen darüber, auf welche Weise man sich am besten Kenntnisse erwerben und sich dabei von Gessner inspirieren lassen kann. Simler nennt darin auch kurz die wichtigsten Abhandlungen Gessners, wobei er einen besonderen Platz der Historia animalium zuweist, die er für Gessners Hauptwerk hält. Im Übrigen wird die Bedeutung der Naturwissenschaften (auch wenn dieser Begriff noch nicht existiert) vom Autor der vita besonders hervorgehoben; er weist nach, dass derartige Studien nicht nur für die Medizin und die Literatur, sondern auch für das Leben im Allgemeinen nützlich sind. Dagegen werden das Leben und die Laufbahn Gessners am Ende nur kurz angesprochen.

Die Vita Gesneri weist eine komplexe Gliederung auf, die hier nicht wiedergegeben werden kann; Froschauers Ausgabe ist indes mit zahlreichen Orientierung bietenden Randanmerkungen versehen, die sehr dabei helfen, sich in der Informationsmasse, die Simler bietet, zurechtzufinden.

Der erste von uns präsentierte Ausschnitt stammt aus der Widmung an Kaspar Wolf und Georg Keller, die beiden Nachfolger Gessners als Zürcher Stadtärzte. Simler sagt, er habe die Vita geschrieben, um den Studenten ein hilfreiches lebendiges Beispiel zu bieten, und er wird durch einen Auszug aus Terenzens Adelphoe zu einer Reflexion darüber angeregt, was die Stärke einer Biographie gegenüber philosophischen oder theologischen Schriften über das Verhalten im Leben ausmacht: Die Biographie kann den Weg zur Tugend wirksamer aufzeigen als die subtilen und oft unklaren theoretischen Schriften der Philosophie und Theologie. Worte (verba) sind nützlich, aber wenn man jungen Leuten das tugendhafte Leben und Handeln (vita et facta) grosser Männer vor Augen stellt, hat das eine weitaus grössere Überzeugungskraft.

Im zweiten Textbeispiel zählt Simler drei Hindernisse auf, die Gessners Bildungsweg behinderten. Zum einen war da seine Armut. Dieses Defizit, das auf den frühen Verlust des Vaters zurückzuführen war, hinderte ihn jedoch nicht daran, «eine solide und weithin ausstrahlende Gelehrsamkeit zu erringen, und zwar nicht in einem minderen Grad als jene, bei denen von Kindesbeinen an alles nach Wunsch gelaufen ist.» Indem Simler diesen aussergewöhnlichen intellektuellen Aufstieg hervorhebt, betont er eine Grundüberzeugung, die vielen humanistischen Biographien zugrunde liegt: Bildung ermöglicht es selbst Menschen von einfacher Herkunft, zu grossen Männern zu werden. Simler erwähnt zwei weitere Hindernisse auf Gessners Bildungsweg, die eigentlich zwei persönliche Schwächen Gessners sind: «Unsicherheit und Zögern bei der Wahl der Studienfächer» und «Ziellosigkeit», die zu Flatterhaftigkeit und Verzettelung führten. Diese Fehler unterstreichen jedoch umso mehr Gessners Intelligenz, der seinen Rückstand vollständig aufholte, sowie seine Demut und Bescheidenheit, da er nicht zögerte, seine jugendlichen Fehler öffentlich zuzugeben, um auf diese Weise pädagogisch zu wirken.

Unser dritter Textauszug handelt von der Beziehung zwischen Gessners wissenschaftlicher Tätigkeit und seiner protestantischen Frömmigkeit. Simler präsentiert seinen Freund als Arzt und christlichen Gelehrten, der darauf bedacht ist, dass sein Werk der Kirche und den Theologen nützlich ist. Der Biograph bemüht sich, jede Einstellung, die Gessner zuschreibt, durch ein Beispiel zu illustrieren, selbst in dem moralisch ausgerichteten Teil seiner Darstellung: So beweist etwa der «gereinigte Martial» von 1544, dass sein Herausgeber ein grosses Moralbewusstsein besass. Es ist letztlich Gessners Polymathie, die in dieser Passage (und auch an anderen Stellen der vita) besonders hervorgehoben wird; und dies immer im Hinblick darauf, dass sie der lernbegierigen Jugend als Beispiel dienen soll.

Im vierten Textauszug schliesslich präsentieren wir die letzten Zeilen von Gessners Biographie, in denen Simler die Umstände seiner Krankheit und seines Todes behandelt. Gessner wird darin als vorbildlicher Christ beschrieben, der selbst in der Todesstunde und im Leiden ganz auf Gott und die Mitmenschen ausgerichtet ist. So bekennt er sich zu seinem Glauben an Gott und das ewige Leben, richtet innige Gebete an Gott, tut alles, um seiner Familie und seinen Freunden nicht zur Last zu fallen, und regelt seine privaten und beruflichen Angelegenheiten so, dass nach seinem Tod keine Verwirrung herrscht. Simlers Leser weiss nun, wie man leben und wie man sterben soll.

 

Bibliographie

Backus, I., Life Writing in Reformation Europe. Lives of Reformers by Friends, Disciples and Foes, Aldershot, Ashgate, 2008.

Schmid, B., «Die Lebensbeschreibungen der Zürcher Geistlichen und Gelehrten. Transformationen der Biographie am Übergang zur Enzyklopädie», Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 111 (2017), 87-108.

Schmid, B., «Simler, Josias», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 28.11.2011, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/015794/2011-11-28/.