Gedicht über die Zürcher Freiheit

Rudolf Gwalther

Einführung: David Amherdt/Clemens Schlip. Version: 10.02.2023.


Entstehungszeitraum: lässt sich nicht näher bestimmen; vermutlich handelt es sich um ein Jugendwerk; auch das Datum der nachträglich am Text vorgenommenen Korrekturen (Aut. 2 in unserem Apparatus Criticus) kann hier nicht näher bestimmt werden.

Handschrift: ZB Zürich, ms D 152, fol. 3ro-12ro, hier: fol. 3ro-vo, 6vo-7ro, 7vo-8ro, 10ro-11ro, 12ro.

Metrum: elegische Distichen.

 

Das Gedicht trägt den Titel Libertas Tigurina a Pontifice et Gallorum rege vincta Huldricho Zwinglio (Fol. 3ro-12ro), «Für Ulrich Zwingli: Die vom Papst und dem französischen König in Fesseln gelegte Zürcher Freiheit». Es handelt sich um ein historisch-patriotisches Gedicht über Zürich, in dem es vor allem um die Beziehungen Zürichs zur Eidgenossenschaft und um die Revolution Rudolf Bruns (1336) geht sowie um die Unterdrückung, die die Stadt durch das Papsttum erlitt. Es erzählt die Geschichte Zürichs von seinen Anfängen bis zur Reformation mit einer sehr antikatholischen und antifranzösischen Stossrichtung. In diesem Zusammenhang verdient in dem Gedicht besonders die ablehnende Haltung gegenüber dem Reislaufen – dem Waffendienst junger Schweizer Söldner im Dienste ausländischer Herrscher (hier: Papst und französischer König) Erwähnung (vgl. V. 243-244 und 293-308). Das vorzwinglianische Zürich litt unter inneren politischen Spannungen, weil ausländische Mächte – der Herzog von Mailand, der Kaiser, besonders aber auch der Papst und der französische König – durch ihre jeweilige Klientel (die mit Zahlungen versorgten «Pensionenherren») Einfluss zu nehmen versuchten. In Verbindung mit dem Reislaufen stellte dies eine schwere Belastung für das Staatswesen dar. Zwingli setzte sich in Zürich energisch gegen dergleichen Verbindungen mit dem Ausland ein und trat als Gegner der frankreichfreundlichen Partei in Zürich auf; er trug entscheidend dazu bei, dass der Rat 1521 einen der Stadt vom französischen König Franz I. angetragenen Bündnisvertrag ablehnte. Dieser historische Hintergrund ist mitzudenken, um die frankreichfeindliche Stossrichtung des Textes zu verstehen. In der Polemik gegen den Papst vermischen sich der politische Aspekt (Reisläuferei) und der religiöse (geistliche Knechtung).

In unserem Auszug geht es um Wilhelm Tell, die Revolution Bruns (1336) sowie um die Mordnacht von 1350. Sprecherin ist die Freiheit; zu Beginn des Gedichts erklärt sie, dass Brun ihr Vater ist (V. 11: Me genuit Brunus quondam).

Das Gedicht besteht aus insgesamt 474 Versen. Die Struktur des Gedichts, das sich als poetische Epistel präsentiert, sieht ungefähr so aus, wie untenstehend skizziert. Sprecherin ist immer die Freiheit, die in die Gefangenschaft ihrer Feinde geraten ist; in V. 27-93 gibt sie in direkter Rede wieder, was ihre Mutter Fides/Pistis ihr einst mit auf den Weg gab:

1-10: einleitende Worte an Zwingli

11-96: ihre Eltern, Brun und Pistis (der Glauben)

11-26: Bruns Verdienste (z. B. die Bestellung guter Vormünder bei seinem Tod)

27-96: Mahnrede der Pistis an ihre Tochter: Warnung vor militärischer Gefahr und vor Dekadenz.

97-118: die Freiheit lobt ihren tugendhaften Lebenswandel

119-140: Nachstellungen der Feinde, Vertreibung der Pistis

141-156: einige fürstliche Feinde der schweizerischen Freiheit

157-184: das Geld als Feind der Freiheit

185-310: bedeutende Feinde der Freiheit

185-266: der Papst und die Mönche und die Kardinäle

186-196: der Papst als Unterdrücker

197-218: die Mönche bzw. verschiedene Mönchsorden

219-224: die Kardinäle

225-266: weitere Papstkritik

z. B. 233-240 unvorteilhafter Vergleich mit dem armen Petrus

z. B. 247-248: Reislaufen

267-310: der französische König als Bedrohung für die Freiheit

z. B. 269-274: die Schweizer sind blind für die Gefahr

z. B. 295-310: Reislaufen

311-416: Klagen der Freiheit und argumentative Vorbereitung eines Hilfeappells

311-350: Klagen   

351-416: historische Vorbilder für Freiheitskampf

z. B. 353-356: aus der Antike

z. B. 357-416: aus der Schweiz (359: Wilhelm Tell; darin eingebettet der Bericht über die Mordnacht)

417-474: Appell an Zwingli, der Freiheit zu Hilfe zu kommen

Der 1519 geborene Gwalther macht in diesem Gedicht deutlich, wie er sich die Verhältnisse im Zürich der vorzwinglianischen Epoche vorstellte, die er (Jahrgang 1519) gar nicht mehr bewusst miterlebt hatte. Es sind die Verhältnisse jener Tage, wie Gwalther sie sah, über die er die Libertas Tigurina sich hier beklagen lässt. Aus Gwalthers Perspektive und der Perspektive jedes ihm gleichgesinnten reformierten Lesers war klar, dass Zwingli den Hilferuf der Zürcher Freiheit gehört und sie aus ihrer Knechtschaft gerettet hatte. Und so hatte er zugleich das Zürich geschaffen, in dem Gwalther lebte und wirkte und dieses Gedicht verfasste.

Es verdient abschliessend Erwähnung, dass auch Fabricius Montanus sich als Dichter der Revolution des Brun und der Ereignisse der Mordnacht angenommen hat: in seinem unvollendeten kleinen Epos über die Konsuln der Stadt Zürich (De consulibus Tigurinis liber primus). Es handelte sich also um einen Stoff, der im reformierten Zürich des 16. Jahrhunderts, das sich stolz seiner Identität vergewisserte, gleichsam in der Luft lag.