Vorreden zum Liviuskommentar und zur Chronologia
Heinrich Glarean
Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt). Version: 10.02.2023.
Entstehungszeitraum: vor 1540.
Ersterscheinung: In omneis, quae quidem extant, T. Livii… decadas, annotationes, cum eiusdem chronologia in totam Romanam historiam, nunc primum non sine foenore recognita…, Basel, Isengrin, 1540, hier: fol. A 2ro-2vo; 3ro [Widmungsbrief an Karl]; C 3ro [Widmungsbrief an Ferdinand].
Die hier wiedergegebenen Texte repräsentieren die philologisch-antiquarischen Interessen Glareans, die nicht nur in seiner Unterrichtstätigkeit, sondern auch in den von ihm verfassten Kommentaren und anderen Hilfsmitteln zum Studium der antiken Literatur zum Ausdruck kamen; den Schwerpunkt legte er dabei auf die Dichter und Historiker. Es handelt sich bei den hier dargebotenen Texten um Ausschnitte aus den auf das Jahr 1540 datierten Widmungsbriefen Glareans an Kaiser Karl V. (der seinem Liviuskommentar vorangestellt ist) und an dessen Bruder, König Ferdinand, den späteren Kaiser Ferdinand I. (dieser Brief ist Glareans Chronologie zur römischen Geschichte vorangestellt).
Die Anmerkungen zu allen erhaltenen Dekaden des Livius (Annotationes in omneis, quae quidem extant T. Livii Patavini clarissimi historici decadas) von 1540 gehören zu den Höhepunkten von Glareans humanistisch-philologischer Publikationstätigkeit. Mit dem römischen Historiker (59 v. Chr.-17 n. Chr.) hat sich Glarean auch in seiner akademischen Unterrichtstätigkeit immer wieder beschäftigt. 1559 trug er gegen Ende seiner Freiburger Lehrtätigkeit zu Beginn einer Liviusvorlesung seine bemerkenswerte Autobiographie in Versform vor.
Der Widmungsbrief an Karl V., aus dem hier Ausschnitte geboten werden, datiert vom 1. Mai 1540. Die dem Liviuskommentar neben anderen Zusätzen aus fremder Feder beigegebene Chronologia hatte Glareans bereits 1531 zum ersten Male veröffentlicht und 1535 ein weiteres Mal, in verbesserter und erweiterter Form. Hatte es sich ursprünglich um eine Chronologie nur zum Werk des Livius gehandelt, so wurde der behandelte Zeitraum 1535 auf die gesamte römische Geschichte bis Kaiser Justinian ausgedehnt; diese Erweiterung ab Kaiser Tiberius stammte von Gregor Haloander und wurde als Nachtrag gekennzeichnet. Begonnen wurde jetzt beim Fall Trojas. Die Ausgabe von 1535 enthielt bereits einen Widmungsbrief an König Ferdinand, datiert auf den 15. Oktober 1535. Der neue Widmungsbrief der Edition von 1540, datiert auf den 1. September 1540 wiederholt teilweise Formulierungen und Sätze dieses ersten Widmungsbriefes, ist aber grundsätzlich dennoch ein neues Produkt. Die in der Edition von 1540 mit leichten Verbesserungen abgedruckte Chronologia gibt in tabellarischer Form einen Überblick über die Ereignisse der römischen Geschichte in ihrem korrekten zeitlichen Ablauf; parallel daneben gestellt werden teilweise – soweit es möglich war – die Geschichtsverläufe anderer Völker des Altertums (Hebräer, Meder, Makedonen, ...). Solche synchronistischen Tabellen waren ein in der Epoche des Humanismus gängiges Genre, dessen Wurzeln in der Antike lagen (besonders der Einfluss der Chronik des Eusebius verdient hier Erwähnung). Sowohl die Annotationes als auch die Chronologia wurden in den folgenden Jahrzehnten mehrfach nachgedruckt und in Liviusausgaben integriert.
Die hier wiedergegebenen Passagen aus dem Widmungsbrief an Kaiser Karl V. belegen eindrücklich Glareans selbstständige Geisteshaltung. Dieser erstarrt nicht in Ehrfurcht vor einem klassischen antiken Autor wie Livius, sondern wagt es, diesen durchaus offen zu kritisieren, wenn er Defizite an ihm feststellt; auch hat er keine Scheu, sich gegen eine Überschätzung der römischen und eine Unterschätzung der griechischen Historiker auszusprechen, obwohl er diese als Mehrheitsmeinung der Gelehrten wahrnimmt. Seine Hochschätzung des Dionysios von Halikarnassos wirkt freilich im Nachhinein übertrieben, war aber zeittypisch. In der hier wiedergegebenen Eingangspassage aus dem Widmungsbrief an König Ferdinand zur Chronologia findet Glarean schöne Worte für die Bedeutung der korrekten Zeitrechnung für die historischen Studien und bietet das Bild eines Mannes, der seine Leistungen mit selbstbewusstem Stolze herausstreicht.
Dass Glarean sich für seine Widmungsbriefe so hochrangige Adressaten suchte, sollte nicht ohne Frucht bleiben. Auf dem Reichstag von Speyer wurde er 1544 von Karl und Ferdinand empfangen und erhielt von ihnen den Ehrentitel eines familiaris Caesaris; beide werden von ihm in seinem schon oben erwähnten grossen autobiographischen Gedicht von 1559 gerühmt (Ferdinand aber deutlich stärker und aufrichtiger als Karl).
Bibliographie
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