Brief an Oswald Myconius: Finanzielle Schwierigkeiten; Probleme mit seinen Schülern; Myconius und seine Frau
Heinrich Glarean
Einführung: David Amherdt (deutsche Übersetzung: Clemens Schlip). Version: 10.02.2023.
Entstehungsdatum: 22. Juni 1518.
Originalhandschrift: Staatsarchiv Zürich, E II 336, fol. 3.
Ausgabe: A. Büchi, Glareans Schüler in Paris (1517-1522) nebst 15 ungedruckten Briefen, Separatabdruck aus der Jubiläumsschrift v. Dr. Robert Durrer, Stans, Paul von Matt & Cie, 1928, Nr. 2, 398-400; auch in: Der Geschichtsfreund. Mitteilungen des Historischen Vereins Zentralschweiz 83 (1928), 150-209, hier: 176-178.
Zusammenfassung: O. Myconius, Briefwechsel 1516-1552, Regesten, hg. von R. Henrich, Bd. 1 (Briefe 1515 bis 1541), Zürich, Theologischer Verlag Zürich, 2017, 112.
Der uns erhaltene Teil der Korrespondenz zwischen Heinrich Glarean und Oswald Myconius besteht aus vierzehn Briefen Glarean und einem des Myconius; diese Schreiben wurden zwischen 1517 und 1524 verfasst. Alle Briefe Glareans wurden in Paris aufgegeben, ausgenommen die zwei letzten, die er nach seiner Rückkehr nach Basel 1522 verfasst hat. Der einzige Brief des Myconius stammt von 1517 und wurde aus Zürich abgesandt, wo er an der Kapitelschule des Grossmünsters unterrichtete. Diese Korrespondenz ist ohne Übersetzung schon von Albert Büchi (1928) veröffentlicht worden und wurde von Jean-Claude Margolin (1985) in einer Studie behandelt. Die Originale dieser Briefe, ausgenommen den des Myconius, finden sich im Staatarchiv in Zürich. Das gesamte Textkorpus liegt als Kopie in der Zürcher Zentralbibliothek in der «Simmlerschen Briefsammlung zur Kirchengeschichte des 16.-18. Jahrhunderts» vor.
Es handelt sich um eine sehr lebendige und persönliche Korrespondenz. Es handelt sich, um die Worte Margolins zu gebrauchen, auf den wir hier zurückgreifen, um «lettres intimes et affectueuses de deux amis du même âge, aimant leur patrie suisse, les belles-lettres, leur métier de professeur». Glarean – denn es geht hier vor allem um ihn – spricht sehr frei von der Leber weg über seine persönlichen (Gesundheit, sein Heiratswunsch), beruflichen (Unterricht, die Organisation seines Internats, Streiche seiner Schüler) und finanziellen Probleme (Paris ist teuer!). Es geht hier auch um Literatur (und vor allem um die Descriptio Helvetiae), um gemeinsame Freunde und um politische Neuigkeiten. Was die Religion angeht, so zeigt sich Glarean noch kaum erschüttert von den Vorzeichen der Reformation – Anfang 1524, als die Gegensätze klar geworden sind, werden die beiden Freunde aufhören, sich zu schreiben, da Myconius beschlossen hat, sich den neuen Ideen anzuschliessen. Schliesslich geht es in dem Briefwechsel um zeitgenössische Gestalten wie Luther, Vadian, Froben, Fausto Andrelini, vor allem aber um Erasmus, den Glarean als einen Freund und Lehrer ansieht, und seine Werke.
Ausserdem vermitteln diese Briefe, die in einem Latein geschrieben sind, das Margolin als «parfois incorrect, au style souvent rugueux et chaotique» bezeichnet, das Bild eines grosszügigen und humorvollen Glarean (er hat ohne Zweifel nie daran gedacht, seine Briefe zu veröffentlichen), der den schönen Wissenschaften und seinen Schülern dient. Diese Korrespondenz ist ohne Zweifel eine schöne Unterhaltung unter Abwesenden, und wenn man von einer neglegentia diligens sprechen muss, wird man von doch einer neglegentia sprechen müssen, die es immer schafft, den Leser auf einzigartige Weise in ihren Bann zu schlagen…und ihm eine harte Nuss zu knacken gibt, sobald er daran geht, den Glarner ins Deutsche oder Französische zu übersetzen.
Der hier veröffentlichte Brief ist der zweite des Korpus. Er ist auf den 22. Juni 1518 datiert; Glarean hält sich damals schon mehr als ein Jahr lang mit Unterstützung durch ein königliches Stipendium in Paris auf. Myconius unterrichtet seit 1516 in Zürich, das er 1519 für einen Umzug nach Luzern verlassen wird. Nachdem er Myconius von Oswald Elmer gegrüsst hat, spricht Glarean über einer Reise, von der er gerade zurückkehrt. Es handelt sich um eine mehrmonatige Reise, die er nach dem Tode seines Vaters im Januar 1518 unternommen hatte.
Er spricht im Folgenden von seinen finanziellen Schwierigkeiten, der Abwesenheit des Königs und seiner Weigerung, öffentlich zu unterrichten. Worum geht es hier? Am 25. Februar war der Humanist Publius Faustus Andrelinus (Fausto Andrelini) verstorben, der in Paris Poetik unterrichtet hatte. Mit der Unterstützung des René von Savoyen (den man den Grossen Bastard von Savoyen nannte), hatte Glarean vom König das Versprechen erhalten, er werde zum Nachfolger des Andrelinus ernannt werden. Es zeigte sich aber schnell, dass die Verwirklichung dieses Versprechens lange auf sich warten liess. Als Glarean den vorliegenden Brief schrieb, hoffte er noch, dass das Glück ihm lächeln würde, auch wenn der König (dem er nicht nachreisen wollte, weil die Reise zu lange gedauert hätte) im Moment für ihn unerreichbar sei und deshalb nichts vorankommen könne. Er weigert sich jedenfalls, mit dem Unterricht zu beginnen, bevor man ihn dafür bezahlt. Kurz danach wird man von Glarean verlangen, dass er sein Pensionat zugunsten des Poetiklehrstuhls aufgibt, was er kategorisch ablehnt; er wird deshalb niemals öffentlichen Unterricht in Paris erteilen.
Danach spricht Glarean von dem Ärger, den ihm einer seiner Schüler bereitet, der Glarner Fridolin Zopfi. Glarean beklagt sich über das unbedachte Verhalten Zopfis, der ihn in der betreffenden Angelegenheit gekränkt haben muss, ohne dass man die genaue Beschaffenheit dieser Vorwürfe kennen würde, auf die Glarean in seinem Brief vom folgenden 15. Oktober noch einmal eingeht. Derselbe Zopfi war ausserdem mit anderen Schülern Glareans (besonders auch Konrad Grebel) in den Tod zweier Franzosen in einer Schlägerei am 1. Mai 1519 verwickelt; die Affäre blieb ohne Folgen.
In der zweiten Hälfte des Schreibens geht es um Myconius und seine Frau; Glarean ermuntert seinen Freund, seine glückliche Ehe zu geniessen, auch wenn sie von finanziellen Schwierigkeiten belastet wird; er fügt hinzu, dass er bei der Lektüre des Encomium matrimonii des Erasmus an ihn denken musste. Am Briefende fordert er ihn auf, seine Schüler von ihm zu grüssen.
Bibliographie
Büchi, A., Glareans Schüler in Paris (1517-1522) nebst 15 ungedruckten Briefen, Separatabdruck aus der Jubiläumsschrift v. Dr. Robert Durrer, Stans, Paul von Matt & Cie, 1928.
Fritzsche, O. F., Glarean. Sein Leben und seine Schriften, Frauenfeld, Huber, 1890.
Margolin, J.-C., «Un échange ce correspondance humaniste à la veille de la Réforme: Henri Glaréan – Oswald Myconius (1517-1524)», in: La correspondance d’Érasme et l’épistolographie humaniste, Brüssel, Éditions de l’Université de Bruxelles, 1985, 145-181.
Stüssi, F., «Lebenslauf», in: R. Aschmann u. a. (Hgg.), Der Humanist Heinrich Loriti genannt Glarean (1488-1563). Beiträge zu seinem Leben und Werk, Mollis, Ortsmuseum Mollis, 1982, 30-41.
Zimmermann, J., «Sechs unbekannte Schreiben Glareans», Freiburger Geschichtsblätter 9 (1902), 157-178.
Signatur: E II 336, fol. 2-16 = fol. 12-26 (doppelte Nummerierung: die erste beginnt mit dem ersten Brief der Handschrift; die zweite am Beginn der Handschrift, die mit einem Index beginnt).
Signatur: S 3-6 und S 11.
Margolin (1985), 179 (auf Deutsch heisst das: «innige und herzliche Briefe von zwei gleichaltrigen Freunde, die ihre schweizerische Heimat, die Literatur und ihren Professorenberuf lieben».
Das ist ungefähr das, was er am 5. Juli seinem Protektor, Peter Falk, schreibt. Der Brief ist veröffentlicht in Zimmermann (1902), 160-163.
- Büchi (1928), Nr. III, 401: Rem Ζώφιος ille perditissimus perditissime perdidit (Zopfi, jener durchaus verdorbene Mensch, hat die Sache in ganz verdorbener Weise verdorben). In seinem Brief vom Januar/Februar 1519 an Zwingli scheint er verstehen zu geben, dass das Betragen Zopfis ihm Ärger bereitet und ihn so daran hindert, dem Myconius zu Hilfe zu kommen (Zwingli, Sämtliche Werke, Bd. 7 (Briefe 1), hg. von E. Egli u.a., Leipzig, Heinsius, 1911, Nr. 56, 150-151, hier: 151): Atque utinam fortuna mea a spe mea non deiecisset! Sensisset Osaldus non amicum modo, sed etiam Mecaenatem. Sed hoc Zophio τῷ ἀγερώχῳ debeo (Und hätte sich doch mein Glück nicht von der Hoffnung enttäuscht gesehen! Dann hätte mich Oswald nicht nur als Freund, sondern auch als Mäzen zu spüren bekommen. Aber das verdanke ich dem hochgemuten Zopfi).