Brief an Peter Gölin: Lebensrückblick und Freundschaftserklärung
Heinrich Glarean
Einführung: David Amherdt (deutsche Übersetzung: Clemens Schlip). Version: 10.02.2023.
Entstehungsdatum: 1. November 1560.
Kopie: Freiburg i. Br., Universitätsbibliothek, Hs. 489.
Ausgabe: O. F. Fritzsche, «Glareana», Theologische Zeitschrift aus der Schweiz 3 (1886), 114-115.
Ältere deutsche Übersetzung: J. Bütler, «Universitätsprofessor Heinrich Glarean, Lehrer und Erzieher», in: Ders., Männer im Sturm. Vier Lebensbilder mit ergänzenden Texten, Luzern, Rex, 1948, 15-88, hier: 87-88.
Dies ist der einzige Brief des Glarean an Peter Gölin, der uns erhalten ist. Wir wissen über diese Persönlichkeit fast nichts. Man muss ihn ziemlich sicher mit dem «Petr. Goelin de Engen [bei Konstanz in Baden-Württemberg], d. Const.» identifizieren, der in der Matrikelliste der Kölner Universität von 1510 erscheint; er war daher wahrscheinlich Schüler des jungen magister Glarean, erst in Köln, dann in Basel. Er erscheint in dessen Korrespondenz nirgendwo anders als hier. Das Ende des Briefes und die Adresse zeigen an, dass er Pfarrer von Welschingen ist, heute ein Viertel von Engen, seiner Heimatstadt.
Dieser Brief, den Glarean drei Jahre vor seinem Tod verfasste, ist besonders interessant, weil er eine Zusammenfassung der Laufbahn des Glarean bietet, der ab 1510 fünfzig Jahre lang sein Leben dem Unterricht gewidmet hatte. Und selbst als er von seinen universitären Aufgaben befreit war, fuhr der Professor fort, seinen Pensionären drei Stunden täglich Unterricht zu geben. Ungeachtet einiger Krankheiten hat er sich, wie er bekräftigt, im Ganzen einer guten Gesundheit erfreut, aber sein Temperament treibt ihn dazu, sein Leben wie eine Ilias zu schildern, das heisst wie eine Aufeinanderfolge von Unglücksfällen (vgl. miseria; dan angst, unnd nodt), die erst mit seinem Tod ein Ende finden wird (biss in den todt), der ihm das Tor zum Himmel öffnen wird, wo er bald zusammen mit Gölin zu sein hofft (Erimus simul in coelesti patria, et bene spero). Diese Überlegungen stimmen mit dem überein, was er sein ganzes Leben lang gepredigt und gelebt hatte.
In seinem Brief erwähnt Glarean zwei literarische Werke und drei Personennamen, die ihn vermutlich als Dichter alle positiv oder negativ beeinflusst haben. Was literarische Werke angeht, so erinnert er sich mit unzweifelhafter Rührung an seine ersten Kurse, die er über die Aeneis und die Georgica des grossen Vergil gehalten hatte, aus dessen Werk er an anderer Stelle im Brief eine Stelle zitiert und als Motto gebraucht. Was Personen angeht, so erwähnt er vor allem den Hebraisten Reuchlin, anlässlich dessen Verfolgung 1514 er Köln verlassen und sich nach Basel begeben hatte; hierauf Erasmus von Rotterdam, seinen Lehrer; und schliesslich Oekolampad, den er bei seiner Rückkehr aus Paris kennengelernt hatte und den er ironisch Schlampadius nennt, und dessen Lehre ihn gezwungen hatte, Basel zu verlassen und sich nach Freiburg im Breisgau zu begeben.