Cento über die Messe
Pierre Viret
Einführung: Kevin Bovier (deutsche Übersetzung: Clemens Schlip). Version: 29.04.2025.
Entstehungszeitraum: In einem Brief an Guillaume Farel erklärt Pierre Viret, er habe im Winter 1550-1551 einen Traktat über die Messe verfasst (De adulterata coena Domini et de tremendis sacrae missae mysteriis, Teil der Sammlung De vero verbi Dei; s. unten unter «Ausgabe») und beabsichtige, sie seiner Schrift über die Sakramente beizufügen; auch wenn der Cento über die Messe hier nicht explizit erwähnt wird, kann man das Datum dieses Briefs wohl als den terminus post quem betrachten. Den terminus ante quem liefert der Widmungsbrief des Werkes, mit Datum vom 1. Juni 1553.
Ausgabe: P. Viret, De vero verbi Dei, sacramentorum et Ecclesiae ministerio, lib. II. De adulterinis sacramentis, lib. I. De adulterato baptismi sacramento et de sanctorum oleorum usu et consecrationibus, lib. I. De adulterata coena Domini et de tremendis sacrae missae mysteriis, lib. VI. De theatrica missae saltatione cento ex veteribus poetis Latinis consarcinatus, Genf, Estienne, 1553, fol. 108ro-135vo, ici fol. 108ro-109ro; 109vo-110ro; 114ro; 117ro-vo; 118ro; 135ro-vo.
Metrum: Hexameter (Buch I), elegische Distichen (Bücher II-IV).
Leben und Werk des de Pierre Viret
Pierre Viret war einer der wichtigsten Reformatoren der Westschweiz, ist aber heute weniger bekannt als Johannes Calvin, Theodor Beza oder auch Guillaume Farel. Er wurde um 1509-1510 in Orbe als Sohn des Tuchscherers und Schneiders Guillaume geboren, der auch Mitglied des Rates der Vierundzwanzig von Orbe war. 1528 ging Pierre Viret nach Paris, um am Collège de Montaigu die humanistischen Wissenschaften zu studieren; in einer Schrift aus dem Jahr 1560 erwähnt er zum Beispiel eine öffentliche Vorlesung von Pietro Rossetti über Vergil.
Während seiner Schulzeit in Orbe flösste ihm sein aus Strassburg stammender Lehrer Marc Romain den «Geschmack am Evangelium» ein, doch erst in Paris schloss er sich der Reformation an. 1530 kehrte er in die Waadt zurück. Inspiriert von Guillaume Farel predigte er in Orbe, Grandson, Payerne, Neuenburg (Neuchâtel) und Genf. Im Mai 1536 führten seine Predigten zusammen mit denen von Farel dazu, dass Genf ins reformierte Lager übertrat. Im Oktober desselben Jahres nahm er zusammen mit Farel und Calvin an der Lausanner Disputation teil, der ebenfalls dazu führte, dass die Stadt zur Reformation übertrat. Viret liess sich dort nieder und lehrte Theologie an der neu gegründeten Akademie (1537). Nach einem Konflikt mit den Berner Behörden bezüglich der Kirchendisziplin verliess Viret 1559 Lausanne und ging nach Genf, wo er zu den Gründungsmitgliedern der Genfer Akademie gehörte. Zwei Jahre später ging er nach Frankreich, möglicherweise aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit Calvin und Theodor Beza. Er wurde Pastor in Nîmes und Montpellier und leitete die Synode der reformierten Kirchen Frankreichs in Lyon (1563). Den Rest seines Lebens verbrachte er im Béarn, wo er gemäss dem Willen der Königin von Navarra, Jeanne d’Albret, die Reformation verbreitete. Er verstarb am 4. April 1571.
Viret verfasste mehrere Dutzend Werke, die meisten davon in französischer Sprache. Es handelt sich dabei hauptsächlich um theologische Abhandlungen und religiöse Polemik, was angesichts von Virets intensiver reformatorischer Tätigkeit kaum verwundert. Das Gedicht, das wir hier vorstellen, ist in einer Sammlung von Texten gegen die Messe enthalten, einer der wenigen Veröffentlichungen Virets in lateinischer Sprache.
Der Cento über die Messe
1553, als Viret Pastor in Lausanne war, erschien in der Offizin von Robert Estienne in Genf ein Band mit vier polemischen Abhandlungen aus seiner Feder: De vero verbi Dei, sacramentorum et Ecclesiae ministerio, De adulterinis sacramentis, De adulterato baptismi sacramento et de sanctorum oleorum usu et consecrationibus und De adulterata coena Domini. Dies sind die ersten Werke, die Viret zunächst in Latein verfasste; einige dieser Abhandlungen wurden später ins Französische übersetzt. In der Widmung des Bandes begründet Viret seine Wahl des Lateinischen damit, dass seine Kritik an der katholischen Messe in einer antiken Sprache besser zur Geltung kommt, da er die Messe mit den Riten der Heiden der Antike vergleicht. Ausserdem fürchtete er die Zensur der Theologen in Rom und Paris, die sie bereits zuvor gegen seine französischen Werke ausgeübt hatten, obwohl diese Theologen sie laut Viret nicht einmal gelesen hatten. Das Ziel des Autors ist es, das wahre christliche Amtsverständnis zu etablieren und das der römischen Kirche zu verdrängen, indem er die wahren Sakramente von den falschen unterscheidet. Auf diese Abhandlungen folgt ein Cento mit 2591 Versen in vier Büchern, der darauf abzielt, die Messe zu diskreditieren, indem er zeigt, dass sie von den heidnischen Riten der Antike abstammt. Das erste Buch ist in Hexametern verfasst, die folgenden drei in elegischen Distichen.
Ein Cento ist prinzipiell ein Gedicht, das aus diversen Versen besteht, die aus einem anderen Gedicht entlehnt und so angeordnet sind, dass ihr ursprünglicher Sinn sich verändert. Ein berühmtes Beispiel für dieses literarische patchwork ist der Cento nuptialis der Ausonius, den dieser aus Versen der Bucolica, der Georgica und der Aeneis von Vergil zusammenstellte. Nun ist aber Virets Cento, wie Daniel Mouron feststellt, «aus lateinischen Versen zusammengesetzt, die von verschiedenen Dichtern stammen, was, wie es scheint, in der Geschichte dieser literarischen Gattung einzigartig ist». Viret listet übrigens die von ihm verwendeten Dichter in chronologischer Reihenfolge auf (mit Ausnahme von Ausonius, der zwischen Martial und Claudius hätte stehen müssen): Ennius, Lucilius, Lucretia, Catull, Vergil, Horaz, Tibull, Manilius, Cornelius Gallus, Properz, Ovid, Persius, Lucan, Statius, Silius Italicus, Valerius Flaccus, Juvenal, Martial, Claudius, Paulinus von Nola, Ausonius. Anzumerken ist, dass der Name Cornelius Gallus, dessen Fragmente erst 1978 entdeckt wurden, in dieser Liste auftaucht, weil man ihm damals die Elegien des Maximianus zuschrieb. In der Praxis ist Ovid der bei weitem am häufigsten verwendete Dichter im Cento, wahrscheinlich weil er mehrere poetische Gattungen praktizierte und sich mit einer grossen Vielfalt an Themen auseinandersetzte.
Aus Gründen der Lesbarkeit verzichtete Viret darauf, seine Quellen für jeden Vers anzugeben; wir geben sie jedoch im Apparatus fontium unserer Ausgabe an. Die Verse wurden manchmal vom Autor angepasst, wie er selbst in einem Hinweis (admonitio) vor dem Gedicht mitteilt. Einige Abweichungen zwischen Virets Versen und den antiken Vorlagen lassen sich auch dadurch erklären, dass die damaligen Ausgaben andere Lesarten boten als die modernen Ausgaben.
Randanmerkungen, die die wir in den Apparatus Marginalium unserer Ausgabe aufnehmen, weisen den Leser auf das Thema hin, das in den entsprechenden Versen behandelt wird. Da diese annotationes helfen, den manchmal unklaren Text des Cento zu verstehen (Viret betrachtet sie als «kurzen Kommentar»), haben wir sie übersetzt und auch in die Anmerkungen unserer Übersetzung aufgenommen.
In seiner admonitio begründet Viret seine Wahl der Cento-Form: Da die lateinischen Dichter heidnische Themen wie gottlose Kulte, frevelhafte Magie und unzüchtige Leidenschaften behandeln, eignen sich ihre Verse seiner Meinung nach hervorragend, um die Messe zu beschreiben. Und da die Messe laut Viret ebenfalls aus einer bunten Mischung resultiert, scheint der Cento die geeignetste literarische Form zu sein, um sie zu beschreiben. Der Autor betont mehrfach den innovativen Charakter seines Cento. Wie er selbst zugibt, hält er sich nicht strikt an die von Ausonius in seinem Vorwort zum Cento nuptialis aufgestellten Regeln des Genres. Während also der antike Dichter bestrebt ist, zwei Hemistichen aus zwei verschiedenen Passagen oder anderthalb Verse und die Hälfte eines einer anderen Stelle entnommenen Verses aneinanderzufügen, befreit sich Viret bisweilen von dieser Regel und entleiht dem Original zwei aufeinander folgende Verse, vor allem in den elegischen Distichen.
Wir haben hier die Passagen aus dem Vorwort ausgewählt, in denen der Autor seine Vorgehensweise erläutert. Danach folgen die ersten Verse des Cento, die dem Thema des Werkes, der ironischen Anrufung der alten Götter und dem Auftritt des Erzählers gewidmet sind. In den folgenden Auszügen setzt der Dichter die Messe mit einem Theaterstück gleich, macht sich über die Verwendung der lateinischen Sprache lustig, die die Gläubigen nicht verstehen, parodiert das Gebet zur Jungfrau Maria und macht sich am Ende des Gedichts über das eucharistische Sakrament lustig. Unsere Übersetzung kann jedoch nicht annähernd den eigentlichen Witz des Cento wiedergeben, der auf dem Kontrast zwischen der Trivialität des Inhalts (dem Spott über die Messe) und der Feierlichkeit der gewählten Form (den Versen der antiken Dichter) liegt.
Angesichts der Beherrschung des Lateinischen und der Metrik, die eine solche poetische Übung erfordert, stellt sich die berechtigte Frage, wie Viret bei der Komposition dieses Cento konkret vorgegangen ist. Dominique Troilo argumentiert, dass der Autor ein phänomenales Gedächtnis besass und viele griechische und lateinische Autoren gelesen hatte, aus denen er ganze Passagen zitieren konnte. Es ist allerdings wenig wahrscheinlich, dass sich der Waadtländer Humanist bei der Ausarbeitung dieses Gedichts ausschliesslich auf sein Gedächtnis verlassen hat. Da Humanisten die ihnen zur Verfügung stehenden Textausgaben zu kommentieren pflegten, ist es denkbar, dass Viret einige Gedichte gelesen (oder wieder gelesen) und die für sein Thema relevantesten Passagen herausgesucht hatte. Vielleicht hatte er sogar thematisch geordnete Notizensammlungen angelegt, ähnlich wie ein Conrad Gessner oder ein Theodor Zwinger. Wenn man sich die im Cento verwendeten antiken Passagen ansieht, stellt man fest, dass sie nicht zufällig ausgewählt wurden: Die meisten sind thematisch mit dem verbunden, was Viret in seinem Gedicht ausdrücken will. Um beispielsweise zu zeigen, dass die katholische Vorstellung von der eucharistischen Kommunion der Anthropophagie ähnelt, zieht der Dichter das mythologische Beispiel des Königs Lykaon heran, der Zeus Menschenfleisch serviert, sowie das des Zyklopen Polyphem, der die Gefährten von Odysseus verschlingt, und das des Thyestes, der unwissentlich das Fleisch seiner Söhne isst. Und wenn es darum geht, den verdorbenen Zustand der antiken Sprachen in der katholischen Messe anzuprangern, entlehnt Viret zwei Verse aus Ovids Tristien, in denen der lateinische Dichter bedauert, dass die Geten (ein thrakisches Volk, zu dem er verbannt wurde) eine Sprache sprechen, die so weit vom Griechischen entfernt (mit anderen Worten: so unzivilisiert) ist.
In seinem Cento begnügt sich Viret nicht damit, heidnische und katholische Riten auf eine Stufe zu stellen. In Wirklichkeit entschuldigt er die Naivität der Alten, die nur auf die Unkenntnis der göttlichen Offenbarung zurückzuführen ist, verspottet und verurteilt aber die Dummheit der Papisten, die nur die heidnische Religion nachahmen und sie dabei ihres Sinns berauben. Diese Argumentation taucht in Virets Werken häufig auf, zum Beispiel in seinem Dialog La cosmographie infernale, in dem er die katholische Sicht der Hölle in Frage stellt:
Car quand Virgile et les autres poètes proposent leurs songes et fictions, ils ne les proposent pas comme choses vraies, mais veulent bien qu’un chacun entende que ce sont fictions. Mais quand nos cafards [= les papistes] nous proposent les leurs et leurs songes, ils veulent qu’on y ajoute foi sous peine du feu, voire plus qu’à la parole de Dieu […].
Denn wenn Vergil und die anderen Dichter ihre Träume und Fiktionen darstellen, so stellen sie sie nicht als wahre Dinge dar, sondern wollen, dass ein jeder verstehe, dass sie Fiktionen sind. Wenn aber unsere Kakerlaken [= die Papisten] uns ihre eigenen und ihre Träume darstellen, wollen sie, dass man ihnen bei Strafe des Feuers Glauben schenkt, ja sogar mehr als dem Wort Gottes […].
Wie andere Centonen-Autoren in der Renaissance war Viret der Ansicht, dass sein Werk einen moralischen und pädagogischen Nutzen habe, da es dem jungen Leser die Möglichkeit biete, die lateinische Poesie in einem christlichen Rahmen zu erlernen, ohne mit der als problematisch empfundenen (Un-)Moral der antiken Gedichte konfrontiert zu werden.
Rezeption
Pierre Virets Cento über die Messe wurde nie neu aufgelegt und hatte einen eher bescheidenen Erfolg. Der Basler Drucker Johannes Oporin hinterliess eine handschriftliche Kopie mit eigenhändigen Anmerkungen. Henri II Estienne zitiert einige Verse in seinen Centonum exempla von 1575, ohne den Autor zu nennen. Er bekräftigt den originellen Charakter dieses Cento, derzu den wenigen Centonen gehört, die nicht strikt vergilianisch sind (was auch Viret selbst hervorhebt).
Theodor Beza hat sich möglicherweise in der Satyre V seiner Satyres chrestiennes de la cuisine papale (1560 anonym erschienen) von Viret inspirieren lassen, in der er mit theatralischer Übertreibung eine Messe inszeniert. Wie im Cento Virets wird die katholische Eucharistie dort als «Theophagie» [Gottesfresserei] dargestellt:
Pis il y a, o Theophages,
Que pour vostre dernier renfort
Vous mengez dieu comme un refort [= raifort].
[Und dazu kommt noch, ihr Gottesfresser,
Das ihr zu eurer letzten Stärkung
Gott wie einen Meerrettich verspeist.]
Zu Beginn des 17. Jahrhunderts veröffentlichte der niederländische Schulmeister Jacobus Verheiden ein Buch mit Lebensbeschreibungen protestantischer Theologen. Der Eintrag über Viret enthält eine Würdigung seines Cento:
Forte inter sinceriores theologos nullus fuit, qui mysticum illud Romani Iovis regnum ita aperuit et perlustravit atque hic Viretus, quod vel uno illo Centone (ut alia multa mittam) de theatrica missae saltatione, ex veteribus poetis consarcinato, probari potest; qui lectorem, praecipue in poetis versatum, novo genere voluptatis […] perfundit et recreat.
Vielleicht hat es unter den ernsthaften Theologen keinen gegeben, der jenes Mysterium des römischen Jupiters so offengelegt und erhellt hat wie dieser Viret, was man anhand jenes einen Cento über den theatralischen Messe-Tanz (um vieles andere hier nicht zu erwähnen) beweisen kann, den er aus den antiken Dichtern zusammengeflickt hat; er erfüllt den Leser, besonders den, der sich in den Dichtern auskennt, mit einer ganz neuen Art von Vergnügen und erquickt ihn […].
Olivier Pot sieht, sich allgemeiner ausdrückend, in Virets antipapistischen Schriften zwischen 1542 und 1556 (zu denen der Cento über die Messe gehört) «einen Gründungsmoment in der Entstehung der vergleichenden historischen Religionswissenschaft» («un moment fondateur dans l’émergence du comparatisme en matière d’histoire des religions»), denn indem der Waadtländer Humanist die Analogien zwischen der heidnischen Religion und dem päpstlichen Aberglauben aufzeigen wollte und erstere gegenüber letzterem favorisierte, legitimierte er das Studium der Mythen und Riten der Antike.
Bibliographie
Bavaud, G., Le réformateur Pierre Viret (1511-1571): sa théologie, Genf, Labor et Fides, 1986 [Erstausgabe: Saint-Amans, Carayol, 1911].
Bruening, M. W. (Hg.), Epistolae Petri Vireti. The previously unedited letters and a register of Pierre Viret’s correspondence, Genf, Droz, 2012.
Higman, F., «Viret, Pierre», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 27.05.2015. https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011333/2015-05-27/.
Mouron, D., «Classiques latins et polémique réformée», Études de Lettres 2 (1991), 89-106.
Pot, O., «Viret aux origines des sciences religieuses: de la mythologie à l’ethnographie», in: K. Crousaz/D. Solfaroli Camillocci (Hg.), Pierre Viret et la diffusion de la Réforme: pensée, action, contextes religieux, Lausanne, Antipodes, 2014, 101-125.
Troilo, D.-A., L’œuvre de Pierre Viret: l’activité littéraire du réformateur mise en lumière, Lausanne, L’Age d’homme, 2012.