Theatrum humanae vitae

Theodor Zwinger

Einführung: David Amherdt (deutsche Übersetzung: Clemens Schlip). Version: 18.04.2024


Entstehungszeitraum: terminus ad quem ist Erscheinungstermin der Ausgabe im Jahr 1586.

Ausgabe: Theatrum humanae vitae […] tertiatione novem voluminibus locupletatum, interpolatum, renovatum […], Bd. 1, Basel, Episcopius, 1586, fol. *3ro, *6vo, **1ro, **2vo, **3vo, [***6ro], ****1vo und p. 486-487.

 

Theodor Zwinger (1533-1588) gehörte zur Basler Elite, insbesondere durch seine Mutter und seine Frau, die Tochter eines Zunftmeisters. Nach dem Tod seines Vaters heiratete seine Mutter Conrad Wolffahrt (Lycosthenes). Nachdem Theodor seine Familie ohne Vorwarnung verlassen hatte, arbeitete er in einer Druckerei in Lyon (1548-1551), studierte in Paris bei Pierre de La Ramée Philosophie (1551), in Padua Medizin (1553-1559), und kehrte dann nach Basel zurück, wo er Professor für Griechisch, Ethik und später für theoretische Medizin wurde. Er wurde zu einer zentralen Figur des Basler Gelehrtenmilieus und stand in Kontakt zu zahlreichen Humanisten in der Schweiz und im Ausland. Seine Arbeiten widmeten sich besonders medizinischen Fragen; er verteidigte beispielsweise die Methoden des berühmten Paracelsus.

Sein bekanntestes Werk ist das Theatrum humanae vitae. Die erste Ausgabe dieses monumentalen Werkes erschien 1565 und umfasste 1400 Seiten. Zu Zwingers Lebzeiten gab es drei weitere Ausgaben; die letzte stammt aus dem Jahr 1586 und umfasst 4500 Seiten in fünf Bänden. Im Jahr 1604 erschien eine posthume Ausgabe. Schliesslich wurde das Werk 1631 von Laurentius Beyerlinck unter dem Namen Magnum theatrum vitae humanae überarbeitet und erheblich erweitert (7468 Seiten mit einem Index von 600 Seiten; fünf Neuauflagen bis 1707). Für eine Untersuchung der verschiedenen Ausgaben des Theatrum und ihrer jeweiligen Besonderheiten (Aufbau, Konzept usw.) verweisen wir auf die untenstehende Bibliographie.  Wir beschränken uns hier auf die letzte zu Lebzeiten des Autors erschienene Ausgabe von 1586, aus der wir mehrere Auszüge aus dem Vorwort (Zwinger nennt es Proscenia, d. h. «Vorbühne») sowie einen kurzen Auszug aus dem Theatrum selbst als Beispiel anführen.

Das Theatrum ist «eine der umfang- und erfolgreichsten Wissenssammlungen der frühen Neuzeit», ein wirkliches «Theater des menschlichen Lebens», wie sein Titel angibt (zu diesem Titel s. Text 7). Und tatsächlich ist es Zwingers Ziel, dem Leser das gesamte Wissen über den Menschen zur Verfügung zu stellen, wobei er es streng logischen anordnet. Diese äusserst komplexe Ordnung wird dem Leser durch eine Vielzahl von Baumdiagrammen und Indizes verdeutlicht.

Die fünf Bände der Ausgabe von 1586 sind in 29 Bänden (volumina) gegliedert, die wiederum in Bücher unterteilt sind (libri; jeder Band enthält zwischen einem und elf Büchern). Ein Blick auf den umfangreichen «Index der Band- und Büchertitel» (titulorum […] voluminum et librorum […] catalogus) am Ende des letzten Bandes gestattet es, sich eine präzise Vorstellung vom Inhalt der Sammlung zu machen. Band I enthält drei Bücher, die verschiedene Aspekte des menschlichen Geistes (animus; nämlich Wille, Vorstellungskraft, Bewusstsein, Lüge, Schweigen etc.). Band II (sieben Bücher) handelt vom menschlichen Körper, von Gesundheit, Tod etc. In Band III (elf Bücher) geht es um Reichtum, Armut, Freundschaft etc. In Band IV (vier Bücher) geht es um Grammatik, Rhetorik, Poesie und Logik. Die Bände V-XIX (mit variabler Buchanzahl) beschäftigen sich mit Philosophie und verschiedenen Tugenden und Lastern (Klugheit, Habgier, Milde, Religion, Gottlosigkeit, Gerechtigkeit etc.). Band XX (drei Bücher) behandelt die mechanischen Künste. Band XXI (vier Bücher) behandelt die Natur. Band XXII (zwei Bücher) behandelt Glückseligkeit und Wohlergehen. Band XXIII (zwei Bücher) behandelt Orte (Flüsse etc.). Band XXIV (zwei Bücher) behandelt Zeitabschnitte (Monate, Tage etc.). Band XXV (ein Buch) behandelt das einsame Leben. Band XXVI (ein Buch) behandelt das akademische Leben. Band XXVII (fünf Bücher) behandelt das Phänomen der Religion (Christentum, Islam etc.). Band XVIII (fünf Bücher) behandelt das öffentliche Leben. Im Band XXIX geht es schliesslich um das Wirtschaftsleben.

Bereits in seinem Vorwort stellt Zwinger auf vier Seiten mithilfe eines Baumdiagramms die allgemeine Gliederung des Materials des Buches vor, das in Bände und Bücher unterteilt ist. Ausserdem wird jedem der 29 Bände ein Baumdiagramm (dispositio) vorangestellt, das kurz (etwa eine Seite Umfang) seinen Aufbau darstellt. Jedem Buch (liber) wiederum ist ein sehr detailliertes (z. B. 10 Seiten) Baumdiagramm vorangestellt, in dem der Inhalt des Buches dargestellt wird. Diese Gliederung wird im Text des Theatrum so weit wie möglich wiedergegeben.

Am Ende des fünften Bandes des Theatrum fügte Zwinger nach dem oben erwähnten Band- und Buchindex noch eine Tabelle der «Titel in alphabetischer Reihenfolge» (Titulorum ordine alphabetico digestorum elenchus) an, die etwa 40 Seiten umfasst und auf die Seite verweist, auf der sich der jeweilige Titel befindet (z. B. amarulentia, Corinthiorum reges, gloriam fugere, metallorum loca, praecones, scholae, victimae ethicorum, zona); «Index der grammatisch [d.h. alphabetisch] nach Eigennamen angeordneten Exempla» (Exemplorum secundum propria nomina grammatice dispositorum index) von über 200 Seiten Umfang, der auf die Seite verweist, auf der das jeweilige Exemplum steht; sowie eine «Liste der berühmtesten Autoren» (Auctorum magis illustrium nomenclator). Diese umfangreiche Ausstattung ermöglicht eine relativ einfache Navigation durch das Theatrum.

Der Text selbst besteht aus kurzen Absätzen, die in zwei Spalten organisiert sind. Es gibt keine Bilder. Jedes exemplum nimmt einen Absatz ein und steht allein oder zusammen mit anderen unter einer in Majuskeln gehaltenen Kapitelüberschrift. Es besteht in der Regel aus zwei bis zehn Zeilen, kann aber auch 40 oder mehr Zeilen lang sein. Das exemplum (d. h. das, was als Beispiel angeführt wird) ist der Mensch (oder die Menschen), dessen/deren Verhalten in dem Absatz beschrieben wird; der Name der betreffenden Person (oder Personengruppe) wird in Grossbuchstaben geschrieben. Jeder Absatz fasst eine Quelle zusammen oder paraphrasiert sie, die in der Regel am Ende des Absatzes in folgender Form angegeben wird: Autor (fast immer), Titel (oft), Buch- oder Kapitelnummer (manchmal).

Text 8 vermittelt einen Eindruck davon, wie Zwinger vorgeht. Er stammt aus dem siebten Buch von Band II, in dem es um den Tod und seine Begleitumstände geht (De morte eiusque accidentibus). Im Index am Ende des letzten Bandes (siehe oben) nimmt die Gliederung des Buches mit ihren zahlreichen Unterteilungen etwas mehr als fünf Seiten ein. Dem Buch VII ist auf 12 Seiten ein Baumdiagramm vorangestellt, in dem der Stoff noch feiner gegliedert ist. Unsere Passage befindet sich im Abschnitt «Organe [d. h. Werkzeuge/Instrumente] des Todes» (organa mortis), in der Unterabteilung «ausserhalb des Körpers befindliche Instrumente des Todes» (Extra corpus mortis instrumenta), Unterabteilung «materieller Gegenstand» (substantia quaedam), Unterabteilung «durch menschlichen Willen und menschliche Arbeit erzeugt» (voluntate et arte humana), Unterabteilung «Werkzeuge» (instrumenta); unser Text stammt aus der Passage, in der diese verschiedenen Werkzeuge aufgezählt werden. Man kann sich ein Bild von der sehr feinen Unterteilung dieses Schemas machen, indem man unter «Edition» die Seiten aufruft, die das gesamte Baumdiagramm über den Tod abbilden («Baumdiagramm De morte»).

 

Die Ziele des Theatrum

In den Proscenia erklärt Zwinger, dass das Wissen auf zwei Beinen steht (Text 1): der Geschichte, die in der Kenntnis der einzelnen Sachverhalte besteht und die exempla liefert, und der Theorie, das heisst den Regeln oder Geboten. Das Theatrum befasst sich mit der Geschichte (Text 2). In Buch I von Band VI, das sich mit der Moralphilosophie befasst, geht Zwinger so weit zu behaupten, dass die Beispiele den Prinzipien übergeordnet sind. In Text 5 stellt Zwinger klar, dass das Theatrum einen doppelten Zweck hat: Zum einen soll durch die exempla zur Betrachtung der Wahrheit, zum anderen aber auch zum Handeln (d. h. zum Besitz des Guten) führen. Für Zwinger bietet die Geschichte also Lektionen, wie man handeln soll; die exempla sollen helfen, die theoretischen Überlegungen der Moralphilosophie in die Praxis umzusetzen; das Theatrum ist also eine Bühne für moralische Beispiele. Zwinger hat die besten historischen exempla ausgewählt und sie so angeordnet, dass sie leicht zu finden sind, was, wie er sagt, für Menschen, die wenig Zeit haben und nicht alles lesen können, sehr nützlich und angenehm sein wird, z. B. für diejenigen, die ein öffentliches Amt bekleiden (Text 6)

Über diesen sehr praktischen Nutzen hinaus hat Zwinger das Ziel, Material zu sammeln, das jedermann über jede beliebige Frage belehren kann; er vergleicht sein Theatrum sogar mit dem Jüngsten Gericht, wo dereinst alle Taten der Menschen öffentlich gemacht werden (Text 4).  Zwinger bezeichnet das Theatrum sogar als «Naturgeschichte des Menschen».

Zwinger widmet einen Teil seines Vorworts dem Stil, der sich für die Historia eignet. Er sagt dort, dass man sich z. B. nicht zu sehr auf sprachlichen Schmuck versteifen sollte, und gibt an, für sich selbst nach einem Mittelweg zwischen übermässiger brevitas und Weitschweifigkeit gesucht zu haben. Sein Ziel ist es, die Dinge ohne Ausschmückung darzustellen (nudas res). Der Stil variiert je nach dem Stil der zitierten Autoren. Zwinger gibt in der Regel nicht den Kontext an, aus dem die Beispiele stammen, sondern interessiert sich dafür, wie man sie für seine eigenen Zwecke verwenden kann. Das Theatrum ist also eine Art Vorratskammer von exempla, die aus ihrem Kontext herausgelöst und mit Kapiteln verknüpft werden, die sich einem bestimmten Thema widmen. Das Theatrum kann somit auch als eine Zusammenstellung von Material zur Bereicherung der Rede (copia rerum) betrachtet werden.

Auf zehn Seiten erläutert Zwinger ausserdem seine Autoren- und exempla-Auswahl. Es handelt sich hauptsächlich um antike, mittelalterliche oder zeitgenössische Schriftquellen,  die sowohl von Historikern als auch von fiktionalen Autoren stammen (Text 3). Er verwendet auch unbekanntere oder neuere Autoren; anspruchslose und volkstümliche Autoren liefern oft Geschichten, die der Wahrheit näher kommen als die allgemein gefeierten (**3r). Zwinger ist ausserdem der Meinung, dass moderne Autoren den alten gleichgestellt werden sollten. Es sei darauf hingewiesen, dass etwa 5% seiner Beispiele keinem bestimmten Autor zugeschrieben werden. Zwinger häuft seine Beispiele an, ohne zu versuchen, ihre Plausibilität zu begründen oder in Frage zu stellen.

 

Bibliographie

Zwinger und sein Theatrum (Quellen)

Beyerlinck, Laurentius, Magnum theatrum vitae humanae, Köln, Hieratus, 1631.

Zwinger, Theodor, Theatrum vitae humanae, Basel, Oporin umd Brüder Froben (19 volumina mit 1428 Seiten).

Zwinger, Theodor, Theatrum vitae humanae, Paris, Chesneau, 1571 (19 volumina mit 2316 Seiten).

Zwinger, Theodor, Theatrum vitae humanae, Basel, Froben, 1571 (20 volumina mit 3455 Seiten).

Zwinger, Theodor, Theatrum humanae vitae, Basel, Episcopius, 1586 (29 volumina mit 4373 Seiten).

Zwinger, Theodor, Theatrum humanae vitae, hg. von Jakob Zwinger, Henricpetri, 1604 (29 volumina mit 4373 Seiten).

 

Sekundärliteratur

Blair, A, Too Much to Know. Managing Scholarly Information before the Modern Age, New Haven/London, Yale University Press, 2010.

Blair, A., «Historia in Zwinger’s Theatrum humanae vitae», in: Historia. Empiricism and Erudition in Early Modern Europe, Cambridge Mass., The MIT Press, 2005, 269-296.

Blair, A., «Reading Strategies for Coping with Information Overload ca. 1500-1700, Journal of the History of Ideas 64 (2003), 11-28.

Gilly, C., «Theodor Zwinger’s Theatrum humanae vitae: from natural anthropology to a ‘Novum Organum’ of sciences», in: C. Gilly/C. van Heertum (Hgg.), Magic, Alchemy and Science. 15th-18th Centuries. The Influence of Hermes Trismegistus, Bd. I, Florenz, Centro Di, 20052, 265-273.

Kühlmann, W., «Zwinger, Theodor, d. Ä.», Frühe Neuzeit in Deutschland 1520-1620 – Verfasserlexikon 6 (217), 684-692 (auch online, institutioneller Zugang erforderlich, https://www.degruyter.com/database/VDBO/entry/vdbo.vl16.0513/html).

Schierbaum, M. «Typen von Transformationen der Wissensspeicher in der Frühen Neuzeit – Zwischen Marktmacht, Praxisdruck und suisuffizienter Welterklärung. Am Beispiel der Reihen von Conrad Gesners Bibliotheca Universalis, von Theodor Zwingers Theatrum Vitae Humanae und Christoph Besolds Thesaurus Practicus [...]», in: M. Schierbaum (Hg.), Enzyklopädistik 1500-1650. Typen und Transformationen von Wissensspeichern und Medialisierung des Wissens, Münster, Lit, 2009, 249-345, hier: 283-305.

Schierbaum, M., «Paratexte und ihre Funktion in der Transformation von Wissensordnungen am Beispiel der Reihe von Theodor Zwingers Theatrum Vitae humanae», in: F. von Ammon/ H. Vögel, Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen, Berlin, Hopf, 2008, 255-282.

Steinke, H., «Zwinger, Theodor», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 03.03.2014, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/014707/2014-03-03/.

Zedelmaier, H., «Navigieren im Textuniversum. Theodor Zwingers Theatrum vitae humanae», in: F. Schock/O. Bauer/ A. Koller, Dimensionen der Theatrum-Metapher in der Frühen Neuzeit. Ordnung und Repräsentation von Wissen, Hannover, Wehrhahn, 2008, 113-135.