Brief an Ulrich Zwingli: Hochschulverhältnisse in Paris
Valentin Tschudi
Einführung: Clemens Schlip (traduction française: Kevin Bovier). Version: 13.09.2023.
Entstehungsdatum: 21. Juni 1518.
Handschrift: Staatsarchiv Zürich, E II 339, fol. 15.
Ausgabe: Huldreich Zwinglis sämtliche Werke, Bd. 7, hg. von E. Egli/G. Finsler, Leipzig, Heinsius, 1911, Nr. 38, 87-90 (lat. Text ohne Anm. auch hier: https://www.irg.uzh.ch/static/zwingli-briefe/?n=Brief.38).
Valentin Tschudi wurde am 14. Dezember 1499 in Glarus geboren, wo er ein Vorzugsschüler Ulrich Zwinglis war, der damals (1506-1516) dort als Priester wirkte und nebenbei eine ganze Reihe junger Glarner auf den Universitätsbesuch vorbereitete. 1512-1513 studierte Tschudi bei Vadian in Wien, 1513 in Pavia, 1515 in Basel bei Glarean, schliesslich 1517-1521 in Paris, wo er wiederum Unterricht von Glarean erhielt. Ab 1522 bis zu seinem pestbedingten Tod am 8. Dezember 1555 wirkte er als Pfarrer in seiner Heimat. Seine pastorale Tätigkeit fiel damit in die Zeit von Reformation und katholischer Reform. In Glarus konnte anders als in anderen Orten der Eidgenossenschaft keine der beiden Religionsparteien einen endgültigen Sieg erringen; auch wenn die Katholiken zur Minderheit wurden, räumte ihnen der Erste Landesvertrag vom 21. November 1532 besondere Rechte ein. In den kriegerischen Auseinandersetzungen der alt- und neugläubigen Orte verhielt sich Glarus aufgrund seiner bikonfessionellen Verhältnisse neutral, im Inneren gab es aber immer wieder Unstimmigkeiten (Bilderstürme von 1528; Abschaffung des katholischen Kultus in einigen Gemeinden). Valentin Tschudi bemühte sich im konfessionellen Konflikt um eine ausgleichende Position (im Sinne einer via media) und predigte bis zu seinem Tod für Anhänger beider Konfessionen; bis zu seiner Heirat im Jahr 1530 und der daraus resultierenden Suspension vom Priesteramt zelebrierte er zudem für die Glarner Katholiken die Messe. Er verfasste eine annalistische Chronik über die glarnerischen Reformationsereignisse der Jahre 1522-1533, die ein wichtiges historisches Zeugnis ist. Nicht mehr miterleben musste er den massgeblich von seinem Cousin Aegidius Tschudi als Landammann (1558-1560) unterstützten Versuch einer Rekatholisierung des gesamten Glarus durch die bei der alten Kirche gebliebenen fünf inneren Orte, der 1559-1564 fast zu kriegerischen Auseinandersetzungen führte (Glarnerhandel), die erst durch einen Zweiten Landesvertrag verhindert wurden, der die Parität der beiden Religionsparteien festschrieb.
Den hier präsentierten Brief schrieb Tschudi am 21. Juni 1518 als Achtzehnjähriger während seiner Pariser Studienzeit an Ulrich Zwingli, der damals bereits knapp zwei Jahre als Leutpriester und Prediger in Einsiedeln wirkte. Es ist wohlgemerkt der Humanist Zwingli, an den er sich wendet; der Reformator Zwingli war noch nicht hervorgetreten. Dass Tschudi sich derart freundschaftlich und enthusiastisch an seinen früheren Lehrer schreibt, deutet darauf hin, dass dieser über pädagogisches Talent verfügte und der Unterricht Tschudi keineswegs in negativer Erinnerung geblieben war; auch mit anderen seiner früheren Studenten (darunter Glarean) hat Zwingli Briefwechsel geführt und sich von ihnen über ihre Studienfortschritte (oder schliesslich auch von ihnen selbst gehaltene Lehrveranstaltungen) an auswärtigen Hochschulen informieren lassen. Es sagt viel aus, dass das geistliche Amt Zwinglis in diesem Brief nicht einmal erwähnt wird: Tschudi adressiert ihn an «Ulrich Zwingli, einen eifrigen Rächer der Wissenschaft, seinen allerliebsten Lehrer»; diese Akzentsetzung verbindet dieses Schreiben mit den meisten Briefen, die frühere Schüler an Zwingli schrieben. Nur gegen Ende hin schlägt Tschudi leise prononciert christliche Töne an, wenn er den Pariser Scholastikern vorwirft, ihre Disputationen hätten nichts mit Christus zu tun, und sie vernachlässigten die Kirchenväter. Doch damit ist man schon beim Inhalt des Schreibens.
Am Beginn seines Briefes thematisiert Tschudi die Schwierigkeiten des Briefverkehrs. Dann dankt er Zwingli dafür, dass dieser ihm vom Erwerb des Magistertitels an der Pariser Universität abgeraten hat, den ihm sein Freundeskreis dagegen empfohlen hatte. Im Folgenden wird deutlich, wie abgeneigt der junge Humanist Tschudi dem scholastischen Hochschulbetrieb der Theologen in Paris ist, den er mit Ausdrücken grosser Verachtung und beissendem Spott karikiert und schilt. Sein besonderer Hass gilt dabei unverkennbar den scholastischen Disputationen und der ihnen inhärenten Dialektik, die er als lächerlich, inhaltsleer und belanglos empfindet. Gleichsam den Höhepunkt bildet sein Bericht über einen Franzosen, der ihn bei einem der Besuch der Kirche Saint-Germain-des-Prés von einer absurden Etymologie des Stadtnamens Paris zu überzeugen versuchte, wonach dieser von der Göttin Isis abzuleiten sei; Tschudi vermutet, dass sein Gesprächspartner das so an der Universität gelernt hatte. Der junge Glarner ergreift mit diesem Brief Partei in dem Konflikt zwischen den scholastisch gepredigten Gelehrten der Pariser Theologischen Fakultät und den Vertretern der humanistischen Bewegung, der die Universität damals prägte. Man darf humanistische Schmähungen der Gegenpartei, wie Tschudi sie hier äussert, natürlich nicht unbesehen für bare Münze nehmen, wie das in der historischen Forschung oft geschehen ist, sondern muss, um zu einem einigermassen vollständigen Bild zu kommen, auch die Perspektive der Theologen zu ihrem Recht kommen zu lassen. Man wird jedoch festhalten können, dass die Universität Paris und ihre Theologische Fakultät sich damals temporär in einer Krise befanden, zu der auch beitrug, dass die Scholastik ihre einstige geistige Dynamik verloren hatte und in Routine erstarrt war. Die hartleibige Resistenz, die das Establishment der Universität gegenüber dem Humanismus an den Tag legte, führte 1530 schliesslich dazu, dass König Franz I. einen neuen Lehrkörper von humanistischen lecteurs royaux schuf, eigens von ihm besoldeten Dozenten, deren Aufgabe in den Kollegien der Universität speziell in dem bis dahin an der Universität vernachlässigten Unterricht der alten Sprachen bestand; die ersten lecteurs royaux wählte der König auf Empfehlung des Humanisten Guillaume Budé aus. Die Einrichtung der lecteurs royaux wurde im Laufe der Zeit von der Universität als Collège royal selbständig, und so entstand daraus schliesslich das heutige Collège de France als weltweit einzigartiges Institut freier Forschung. Es sind solche grösseren Zusammenhänge, vor denen man die Klagen des jungen Valentin Tschudi über die intellektuelle Erstarrung und Unfähigkeit der Pariser Universitätsscholastiker betrachten muss.
Weder die ablehnende Haltung gegenüber der scholastischen Disputationskultur noch die bereits erwähnte Kritik, die scholastischen Theologen würden Christus und die Kirchenväter geringachten, sind originell. Die von Tschudi artikulierte Abneigung gegenüber dem aus dem Mittelalter stammenden herkömmlichen scholastischen Hochschulbetrieb war eine der Standardpose der humanistischen Bewegung nördlich der Alpen. Tschudis hatte sie sich sicher bei seinen Lehrern Zwingli, Vadian und Glarean abgeschaut. Der junge Briefschreiber darf selbstverständlich davon ausgehen, dass Zwingli an seiner Scholastikerschelte Gefallen finden wird und mit der darin zum Ausdruck gebrachten Weltanschauung zufrieden ist. Auch in sprachlich-stilistischer Hinsicht – das Bestreben nach einem gepflegten und ansprechenden lateinischen Ausdruck ist unübersehbar und durchaus erfolgreich – und mit zahlreichen gelehrten Spielereien heischt Tschudi sichtlich nach Zwinglis Anerkennung. Er spickt seinen Brief mit gelehrten Anspielungen auf die antike Mythologie, mit denen er seinem Adressaten unübersehbar seine Zugehörigkeit zur humanistischen community nachweisen möchte – und natürlich macht er Zwingli dadurch indirekt auch ein Kompliment, weil er diesem signalisiert, dass er ein problemloses Verstehen dieser Bezüge bei ihm voraussetzt. Das Schreiben sprüht vor jugendlichem Enthusiasmus für den Humanismus, und spürbar ist der Wunsch des Verfassers, durch die ausgeprägte Radikalität, mit der er seine Ablehnung der Scholastik zum Ausdruck bringt, das Wohlwollen seiner verehrten Lehrer zu gewinnen und als vollwertiges Mitglied Anschluss an die Gemeinschaft der an der Antike geschulten Humanisten zu finden. Man wird beides, die Radikalität ebenso wie den Wunsch nach einer festen Gruppenzugehörigkeit, als eine alterstypische Erscheinung ansprechen können. Man darf nicht vergessen, dass Tschudi beim Verfassen dieses Briefes erst 18 Jahre alt war.
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