Über den Nutzen der Lektüre von Geschichtswerken

Simon Grynaeus

Einführung: Kevin Bovier (deutsche Übersetzung: Clemens Schlip). Version: 22.03.2023.


Entstehungszeitraum: 1539 oder ein wenig früher.

Erstausgabe: Iustini ex Trogo Pompeio historia: diligentissime nunc quidem supra omneis omnium hactenus aeditiones recognita, et ab innumeris mendis, vetusti exemplaris beneficio repurgata […], Basel, Isengrin, 1539, fol. δ2ro-δ4vo.

Übersetzungen und Adaptationen ins Englische (16.-17. Jahrhundert): A. Golding, «A preface of Simon Grineus to the Reader as concerning the profite of reading histories», in: Thabridgemente of the histories of Trogus Pompeius, gathered and written in the Laten tung, by the famous historiographer Iustine […], London, Marshe, 1570, fol. Aro-[Aiiii]ro; Th. Lodge, «To the courteous reader as touching the use and abuse of Historie», in: The famous and memorable workes of Iosephus […], London, Short, 1602, fol. ¶iiiro-[iiii]ro; G. Wilkins, «A Preface of Simon Grineus to the Reader, concerning the Profit of reading Histories», in: The historie of Iustine Containing a narration of kingdoms […], London, William Iaggard, 1606, A4ro-[A5]vo.

 

Simon Grynaeus (1493-1541) war ein bedeutender Repräsentant der bonae litterae in Basel. Der gebürtige Deutsche besuchte die Schule in Pforzheim und studierte anschliessend an der Universität Wien, wo er 1512 den Magistergrad erlangte. Er besuchte dort Vadians Poetikvorlesung und interessierte sich ausserdem für Mathematik und Astronomie. Hierauf war er mehrere Jahre lang Schulrektor und Bibliothekar in Buda. Nach seinem Übertritt zum Protestantismus im Jahr 1523 erhielt Grynaeus den Griechischlehrstuhl an der Universität Heidelberg (1524), wo er auch Mathematik und Latein lehrte. 1529 boten die Basler Behörden auf Betreiben Ökolampads hin Grynaeus den Griechischlehrstuhl an ihrer Universität an; ab 1536 lehrte er dort Theologie. Er ist einer der Verfasser des Ersten Helvetischen Bekenntnisses (1536). Abgesehen von einem Aufenthalt in England (1531) und einem in Tübingen (1534-1535), verbrachte Grynaeus den Rest seines Lebens in Basel, wo er am 1. August 1541 an der Pest starb, kurz nachdem er Rektor der Universität geworden war. Seine Kenntnis der antiken Sprachen und seine vielfältigen Interessen werden in den zahlreichen Editionen antiker Texte deutlich, die hinterlassen hat: der Abhandlung des Proklos über die Bewegungen der Gestirne (1531), die Elemente des Euklid (1533, editio princeps), griechische Abhandlungen zur Veterinärmedizin (1537) oder auch der Almagest des Ptolemaios (1538). Grynaeus ist unter Philologen auch dafür bekannt, dass er die Bücher 41-45 des livianischen Geschichtswerks in der Benediktinerabtei von Lorsch wiederentdeckte; daraus resultierte eine Liviusedition, die 1531 bei Froben erschien. Davon abgesehen interessierte sich Grynaeus auch für die Neue Welt und veröffentlichte zu diesem Thema eine Sammlung mit Texten von zeitgenössischen Seefahrern und Reisenden (Alvise Cadamosto, Christopher Columbus, Pedro Alonso, Vincente Pinzón, Amerigo Vespucci, Ludovico de Verthema, etc.), mittelalterlichen Autoren (Burchardus de Monte Sion, Marco Polo, Hethum von Korikos) und Humanisten (Paolo Giovio, Petrus Marty von Anghiera, Maciej Miechowita, Erasmus Stella).

Der Text, der uns hier interessiert, ist ein Hinweis an seine Leser, den Grynaeus erstmals in einer Ausgabe der Epitoma Historiarum Philippicarum des Justin veröffentlichte (dabei handelt es sich um eine gekürzte Fassung des verlorenen Geschichtswerkes des Pompeius Trogus), die 1539 in Basel erschien. De utilitate legendae historiae ist aber nicht einfach nur ein Begleittext zu dem antiken Werk, es handelt sich vielmehr um eine eigenständige und vollwertige Abhandlung über den Bildungswert der Geschichte. Wie andere Humanisten vor ihm erklärt Grynaeus, dass die Geschichte einen praktischen Nutzen hat, der darin besteht, dass sie es ermöglicht, «Klugheit» (prudentia) zu erwerben, das heisst die Fähigkeit, sich unter allen Umständen besonnen zu verhalten. Es ist dabei zu bedenken, dass in der Renaissance noch ein zyklisches Geschichtsbild verbreitet ist; dieses impliziert, dass gleiche Ursachen gleiche Effekte hervorbringen und dass die Kenntnis der Fakten der Vergangenheit auch in der Gegenwart dabei hilft, adäquate Entscheidungen zu treffen, und sogar dabei, zukünftige Ereignisse vorauszusehen. Aus dieser Perspektive heraus betrachtet man die Geschichte als einen Bericht über Erfahrungen, die ein anderer für einen durchgemacht hat; sie bietet Beispiele und Gegenbeispiele für richtiges Verhalten, gemäss dem berühmten Wort Ciceros, der von der «Geschichte als Lebenslehrerin» gesprochen hatte (historia magistra vitae). Grynaeus hebt dabei auch hervor, dass es weniger gefährlich ist, sich «Klugheit» durch Lektüre als durch persönliches Erleben zu erwerben.

Nichtsdestoweniger beharrt Grynaeus auf der Tatsache, dass eine oberflächliche Lektüre der Geschichte nicht ausreicht, um sich die derart gesuchte Klugheit anzueignen; darüber hinaus muss man «Urteilskraft» (iudicium) unter Beweis stellen, was ganz und gar nicht einfach ist; es ist eine seltene Fähigkeit, einen klaren Blick auf sein eigenes Leben oder das eines anderen zu werfen. Man muss also bei der historischen Lektüre mit Strenge vorgehen, um Früchte aus ihr ziehen zu können, denn das Urteilsvermögen des Lesers kann durch Vorurteile getrübt sein, es kann aber auch durch den Historiker selbst getrübt werden, der seine Meinung über die von ihm berichteten Fakten deutlich werden lässt. Grynaeus warnt auch vor einer profanen Haltung, die den Erfolg grosser Unternehmungen nicht der göttlichen Vorsehung, sondern menschlicher Kraft zuschreibt; umgekehrt befreit der wahre Historiker seine Leser von Dummheit und Aberglauben.

Auf formaler Ebene fällt auf, dass der Text des Grynaeus nur wenige (explizite oder implizite) Bezüge zu antiken Autoren aufweist, was angesichts des von ihm behandelten Themas überrascht. Die Erklärung dafür liegt vielleicht darin, dass sein Essay sich an ein grosses Leserpublikum richtet und nicht an einen gelehrten Widmungsträger; daraus resultieren auch die relativ nüchterne Ausdrucksweise (abgesehen von einigen Metaphern, die vor allem kulinarischer Natur sind!) und eine bisweilen befremdliche Ausdrucksweise im Lateinischen (zum Beispiel arduum quiddam sapere, wörtlich: «einen Berg kennen»).

In den folgenden Jahren und Jahrzehnten wurde Grynaeus’ De utilitate legendae historiae oft in den Editionen antiker Historiker abgedruckt, ausserdem in Textsammlungen über die ars historica. Besonderen Erfolg hatte die Abhandlung bei den englischen Humanisten, die sie übersetzten oder adaptierte englische Fassungen erstellten, um sie ihren Übersetzungen von Justin und Flavius Josephus voranzustellen.

 

Bibliographie

Bietenholz, P. G., «Simon Grynaeus», in: P. G. Bietenholz (Hg.), Contemporaries of Erasmus, Bd. 2, Toronto, Toronto University Press, 1986, 142-146.

Bursian, C., «Grynäus, Simon», Allgemeine Deutsche Biographie 10 (1879), 72-73, Onlineversion, https://www.deutsche-biographie.de/pnd11690240X.html#adbcontent.

Kuhn, Th. K., «Grynaeus, Simon», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 05.11.2009, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010646/2009-11-05/.

Landfester, R., Historia magistra vitae. Untersuchungen zur humanistischen Geschichtstheorie des 14. bis 16. Jahrhunderts, Genf, Droz, 1972.

Pendergrass, J. N., «Simon Grynaeus and the Mariners of Novus orbis (1532)», Medievalia et Humanistica: studies in medieval & Renaissance culture, new series 19 (1993), 27-45.

Streuber, T., «Simon Grynaeus», Basler Taschenbuch 4 (1853), 1-43.

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