Über den Nutzen der Lektüre von Geschichtswerken; von Simon Grynaeus für seinen Leser.

Traduction (Allemand)

Wenn jeder so in der Lage wäre, Lehren aus der Geschichte zu ziehen und sie sich zu eigen zu machen, wie es gewiss ist, dass sie lebensrelevante Beispiele bietet, dann wären wir dafür, dass alle Sterblichen unverzüglich und auf direktem Wege in die überaus reichen und fruchtbaren Felder der Geschichte einfallen sollten.

Was kann man sich nämlich Angenehmeres oder Nützlicheres denken, als dass man in diesem Theater des menschlichen Lebens, das sie in allen Details wunderbar für uns hergerichtet hat, sitzt, und dabei durch die Gefahren, denen andere ausgesetzt sind, vorsichtig und weise wird, ohne selbst Gefahr zu leiden; und dabei Beispiele jeder Art wahrnimmt, die man auf nutzbringende Weise sich auf jedem Gebiet zu seinem eigenen Nutzen dienstbar machen kann; wenn man an den bedeutendsten Ratsversammlungen hochbedeutender Menschen teilnimmt, in denen äusserst wichtige Angelegenheiten beredet werden (etwas, das wir Menschen uns sehr begierig wünschen) und wenn man auch an ihren Erfolgen Anteil hat; und wenn man, was aufgrund der Beschränktheit des menschlichen Lebens anderswo unmöglich ist, in seinem Gedächtnis ganze Jahrhunderte miteinander verknüpfet; wenn man den Anfang, den Fortschritt und das Ende der grössten Reiche mitansieht; wenn man die Ursachen für privates und öffentliches Unglück klar erkennt; wenn man in jeder schwierigen und wichtigen Angelegenheit einen Vorgänger hat, der das Risiko auf sich nimmt, der sich der Gefahr aussetzt; und wenn man niemals ohne einen zuverlässigen Erfahrungsschatz dasteht; um es zusammenzufassen: wenn man auf der Basis dessen, was früher geschehen ist, kundig alles voraussieht, was geschehen wird und über das Gegenwärtige urteilt (das ist die eigentliche Aufgabe eines weisen Mannes).

Aber da man sich der Geschichte mit umso mehr Vorbereitung nähern muss, je mehr sie an reichen Früchten Fülle trägt; da es ebenso schwierig ist, über sein eigenes Leben zu urteilen wie das der anderen; und keiner richtig auf ein fremdes Leben blicken kann, der nicht richtig auf sein eigenes Leben zu blicken vermag, mögen wir in dem erstgenannten auch noch so scharfsinnig sein; das leuchtet beides ein, auch, dass hierin die grösste Schwierigkeit liegt, und dass wir, noch lange bevor wir uns der Geschichte widmen, nicht nur eine gewisse bürgerliche Klugheit erworben haben müssen, sondern unser ganzes Leben durch einen festen Vorsatz in Ordnung gebracht haben müssen; wenn wir denn nicht geistig ins Schwimmen geraten und von nichtigen Schattenbildern des echten Lebens in die Irre geführt werden wollen.

Wie es nämlich bei einem sehr reichhaltigen und vielfältigen Mahl, auf dem es alle Arten von Speisen gibt, so ist, dass zwar jedem etwas anderes gefällt, wenigen das Gleiche, jedem das Seine, den Gefrässigen aber alles, und jeder von dem zur Verfügung stehenden reichen Angebot so beeindruckt wird, wie es seinem Gaumen entspricht; und es doch es ein bestimmtes rechtes Mass gibt, das die Natur aufgestellt hat, und es dennoch eine sichere, einfache und unverdorbene Art von Nahrung gibt, die für die Körper besonders gut ist; wer von diesen beiden Massstäben abweicht und es sich übermässig oder über das von der Natur für richtig Beurteilte hinaus gutgehen lässt, wird durch diese vergnüglichen Dingen mehr Unannehmlichkeit als Vergnügen haben.

So ist es auch in der Mannigfaltigkeit des gesamten menschlichen Lebens: obwohl es tausend Erscheinungen und tausend Vorsätze gibt, und jeder über sein Leben und das der anderen so denkt, wie es seiner Geisteshaltung und seinem Urteilsvermögen entspricht; dennoch gibt es nur einen wahren Tugendpfad, und nur wer auf ihm klug die Wegrichtung hält, macht den rechten Gebrauch von seinem Leben; mit den anderen verhält es sich wie mit jenen Leuten bei einem Mahl, wo alles einladend wirkt; sie können weder in ihrem eigenen Leben noch in dem der anderen jemals zu einer Entscheidung darüber kommen, welches Ziel sie vor allem verfolgen sollen und wonach sie streben sollen.

Aber wenn dem Menschen von Natur aus etwas geschenkt ist, das er richtig oder falsch benutzen kann, dann muss er sich dieser Sache mit höchster Umsicht bedienen. Wie viele aber gibt es, wahrlich, die die Richtschnur ihrer Tugend an all ihr Sprechen und Tun oder das der anderen anlegen und dabei mehr Acht geben als bei den ihnen vorgesetzten Speisen, und die nicht glauben, sie seien in dieser Hinsicht gelehrt genug? Es ist erstaunlich, wie die Menschen sich in dieser Frage täuschen, indem sie glauben, die Geschichte belehre den, der sie nachliest; wo sie doch nur Belehrungsmaterial bietet, so wie auch das erwähnte Gastmahl jedem nur so viel Nutzen bringt, wie seine Geisteshaltung ihn dafür disponiert.

Wir werden also Zeuge, wie die einen sich von der Annehmlichkeit der Lektüre auf Abwege bringen lassen und sich ihrem Vergnügen hingeben und so jener allerschönsten Früchte verlustig gehen. Sie suchen in der ganzen Geschichte nicht mehr als das, was die zu haben suchen, die ihre Ruhezeit mit dem Kitharaspiel verbringen; sie vertreiben sich damit die Langeweile und werden bald von noch grösserer Langeweile befallen. Ohne Respekt vor der Tugend gibt es nämlich kein Vergnügen.

Andere interessiert nur jenes glänzende Erscheinungsbild des Ruhmes und formt sie vergeblich (weil der Geist ja übrigens sehr lenkbar ist) zum Abbild jedes nur denkbaren herausragenden und vortrefflichen Verstorbenen um, weil sie dabei vergessen, dass die Schriftsteller uns zu keinem anderen Zweck herrliche Exempel vor Augen stellen, als damit wir den darin enthaltenen Beispielen tugendhaften Verhaltens folgen, den Ruhm aber für nichts achten (wenn es für uns keine Möglichkeit gibt, ihn zu erwerben); und wenn er sich doch zur Tugend beigesellt, damit wir ihn dann aushalten können, ohne übermütig zu werden. Und obwohl nur Dummköpfe nach gleichem Ruhm streben, ohne dabei die gleiche Tugend an den Tag zu legen, sehen wir dennoch sehr viele, die in völliger Arroganz meinen, weiss Gott was zu wissen, nur weil sie über etwas von herrlichen Taten gelesen haben; sie sind darin den Tragödiendichtern ähnlich, die den Charakter ihrer bedeutendsten Rollen auch dann noch nachspielen, wenn sie ihr Kostüm schon abgelegt haben.

Es gibt auch Leute, und zwar nicht wenige, die nur an neuen und erstaunlichen Dingen Vergnügen haben, Menschen mit plebejischem Gemüt, die nach Art von Ungebildeten sich sehr oft mehr aus dem Purpur als aus dem Mann und mehr aus dem äusseren Zierrat als aus dem Werk selbst machen. So eine erstaunliche Wirkung entfaltet die Geschichte in den Gemütern derer, die über sie lesen.

Obwohl nun aber das wichtigste Ziel der Geschichte doch wohl darin besteht, die menschliche Sorglosigkeit aufzurütteln und sie gegen Gefahren zu wappnen, und auch die Wirkung der Exempel (die mehr Überzeugungskraft besitzen als alles andere) besonders darauf abzielt, bewirkt es die Sorglosigkeit der Menschen, die glauben, die Gefahren, denen andere ausgesetzt sind, hätten nichts mit ihnen zu tun, dass man sich höchst denkwürdige Geschichtsereignisse nur mit einem tauben Ohr anhört und liest.

Schliesslich gibt es auch Leute, die, was man kaum glauben mag, bei ihrer Lektüre den ernsteren Teil auslassen, so als ob man die geschichtlichen Dinge nicht so niederschreiben sollte, wie sie sich ereignet haben, sondern so, wie sie sich am besten ereignet hätten.

Teilweise aus dieser Sorglosigkeit, teilweise aus dem Katzenjammer einer regellosen und zufälligen Lektüre resultiert es, wie aus dem Genuss verdorbener Flüssigkeiten, dass Zurückhaltung im Urteilen und falsches Urteilen (obwohl doch das Urteil über das Leben ganz besonders zutreffend und gesund sein muss) bedenkliche Lebensziele nach sich zieht; und wie Masslosen ihre Nahrung nicht nutzt, so ziehen wir aus der Lektüre überhaupt keinen Nutzen.

Ich denke, du siehst, auf welche Weise es fast aufs Gleiche hinauskommt, ob man etwas über die Geschichte liest oder ob man sein eigenes Leben betrachtet. Und die erste Schwierigkeit liegt, wie ich sagte, in unserem schlechten Urteilsvermögen; daraus resultiert, dass wir uns nicht dorthin treiben lassen, wo die Exempel schicklicherweise am meisten aus sich selbst heraus wirken, sondern dorthin, wozu unser Geist von selbst am meisten neigt. Die zweite Schwierigkeit ist nicht geringer, und sie besteht darin, dass die Schriftsteller uns die historischen Ereignisse nicht nur so präsentieren, dass sie sich dadurch beliebt machen, sondern dass sie dabei ihrem eigenen Geschmack folgen und, wie manche Oberkellner, ihr eigenes Urteil einbringen und manche Dinge rühmen und meinen, wir müssten dieselben Ansichten haben wie sie. Wenn sie das freilich unverstellt täten, fiele es uns leichter, ihnen beizupflichten oder nicht zuzustimmen.

So wie Köche nun manchmal mehr auf die Genusssucht ihres Herrn als auch auf seinen Vorteil blicken, so gerade soll nun ein Historiker seinen Leser bitte nicht hauptsächlich für sich einnehmen!

Also werden wir nach zwei Seiten hin in die Irre geführt, sowohl durch unser Urteilen als auch durch das Vorurteil der Schriftsteller, weil sie nicht einfach die nackten Fakten niederschreiben; ein Historiker ist nämlich ein Interpretator historischer Ereignisse, und wenn sein Urteilsvermögen krank ist, geschieht das Gleiche, wie wenn ein eigentlich wertvoller und edler Wein durch sein Gefäss einen ekligen Geruch annimmt oder irgendwie durch Panschen verdorben wird; es handelt sich entweder um Verstellung oder um riesige und nicht tolerierbare Unwissenheit. Nur ein Beispiel macht schon deutlich, was für einen Unterschied das kritische Urteilsvermögen des Schriftstellers macht.

Ein Weltling, der die Ergebnisse bedeutender historischer Vorgänge auf den Ratschluss und die eifrigen Bemühungen der Menschen zurückführt (obwohl er aufgrund so vieler Ereignisse weiss, dass er lügt), verdummt die Menschen im äussersten Grade; derart, dass einer von denen, deren gesammelte Kenntnisse kaum hinreichen, um über die ihnen unmittelbar vor Augen liegenden Dinge nachzusinnen, und deren Kraft kaum die von Würmchen übertrifft, aufgrund eines unbedeutenden Erfolgs für sich die Verwaltung des Erdkreises beansprucht.

Anders aber jener Eingeweihte; er lehrt, dass historische Ereignisse zwar aus menschlichen Beschlüssen resultierten, dass aber Gottes Ratschluss sie lenke, und so befreit er die Menschen von Dummheit und dem Aberglauben, der kein geringeres Übel ist. Im Übrigen darf es trefflichen Leuten (deren Studien immer auf das Heilige zielen) nicht unbekannt sein, dass sie unterschiedliche Arten von Pflichten haben.

Daran erinnere ich zuerst deshalb, dass die jungen Leute – auch wenn ich der Ansicht bin, dass man Autoren dieser Art besonders wegen der immensen Wirkkräftigkeit ihrer unzähligen Exempel lesen soll – auch daran denken sollen, wie sie diese umsichtig und eifrig lesen, da diese Lektüre für sie potentiell so viel Früchte, aber auch Gefahren mit sich bringen kann.

Wenn jemand die Geschichte nur oberflächlich liest oder meint, er solle ein zielloses Leben ohne exakte Pflichterfüllung führen, dann geschieht ihm das, was einigen Bauern geschah; als sie bei der Plünderung einer Nachbarstadt eine sehr gut ausgestattete Apotheke ausraubten, liessen sie sich durch die Süsse der lieblichen Aromen, auf die sie zuerst gestossen waren, verführen und glaubten, der Rest sei genau so beschaffen; sie tranken, schlürften, verschlangen und soffen alles; die einen wurden krank, die anderen wahnsinnig, die meisten starben, keiner von ihnen hatte nicht auffallend zu leiden; und das ganze Heer brach darüber in Gelächter aus.

Die Geschichte als Abbild des Lebens ist ebenso reich an Vorteilen und Nachteilen wie das Leben selbst; im rechten Gebrauch des Lebens alleine liegt die Klugheit des ganzen Lebens. Lebewohl, und profitiere von den obenstehenden Ausführungen.