Physicarum meditationum liber V: Vorrede über die Träume

Conrad Gessner

Einführung: Kevin Bovier (deutsche Übersetzung: Clemens Schlip). Version: 10.02.2023.


Entstehungszeitraum: zwischen 1541 (Anfang von Gessners naturgeschichtlichen Vorlesungen) und 1565 (sein Tod).

Ausgabe: Physicarum meditationum liber V, Zürich, Froschauer, 1586, 185 («In librum de divinatione per somnium praefatiuncula»).

 

Träume begegnen schon in antiken Texten wie dem Alten Testament und den homerischen Gedichten. Ein wenig später entstehen auch schon Traumtheorien, besonders bei Hippokrates, dann auch bei Plato und besonders bei Aristoteles in drei kurzen Abhandlungen (Über Schlafen und Wachen, Über Träume, Über die Weissagung im Schlaf). Der Stagyrite geht vor allem davon aus, dass es zwischen Träumen und Gedanken keinerlei Verbindung gibt; er legt auch eine physiologische Erklärung für Träume vor. Die Traumdeutung hält er für eine delikate Kunst, und er geht davon aus, dass nicht alle Träume von den Göttern geschickt werden. Im römischen Bereich verwirft Cicero in De divinatione jede Art von Traumweissagung (z. B. 2,148). Die Traumdeutung wird im Altertum dennoch sehr ernst genommen, wie das Werk Oneirokritika des Artemidoros von Daldis (2. Jh. n. Chr.) belegt. Dieses Interesse bleibt auch in der Spätantike erhalten: der Neuplatoniker Synesios von Kyrene verfasst eine Traumabhandlung, in der er die paganen und christlichen Vorstellungen zu diesem Thema zu vereinen versucht; ein wenig später etabliert Macrobius in seinem Kommentar zum Somnium Scipionis eine Taxonomie der Träume (1,3). Die mittelalterlichen Autoren zeigen sich gegenüber diesem Erbe der Antike teilweise offen, teilweise aber auch misstrauisch. Albert der Grosse denkt – inspiriert vom Aristotelismus und der arabischen Wissenschaft – dass Träume aus dem Einfluss der denkenden Seele oder des Körpers sowie aus der Leuchtenergie der Gestirne resultieren (z. B. De somno et vigilia 3,1,7). Sein Zeitgenosse Thomas von Aquin unterscheidet in einem Kapitel über die Traumweissagung zwischen physiologisch verursachten Träumen und prophetischen, gottgesandten Träumen; er gibt aber auch zu bedenken, dass manche Träume einen teuflischen Ursprung haben können (Summa Theologiae 2-2,95,6). Das Traumstudium besitzt also schon eine lange Tradition, als sich auch die Humanisten ihrerseits dafür interessieren. Einer der ersten Humanisten, der sich dazu äussert, ist Marsilio Ficino in seiner Schrift Theologia Platonica de immortalitate animae (13,2).

Seit der Antike ist der Traum ein relevantes Thema sowohl für die Theologie als auch für die Medizin. Es gibt körperliche Träume, die mit den vier Säften in Verbindung gebracht werden (Blut, gelbe Galle, schwarze Galle, Schleim und Schleim) und spirituelle Träume, die durch eine Erleuchtung des Geistes ausgelöst werden. Der Traum ist ein Resultat der während des Schlafs wirkenden Vorstellungskraft (imaginatio), denn in diesem Moment nimmt die Seele die Aussenwelt nicht mehr wahr und zieht sich, genährt von den Körpersäften, in sich selbst zurück. Die Seele erlabgt auf diese Weise ein Bewusstsein, das im Falle einer direkten Verbindung mit dem Übernatürlichen höher eingeschätzt wird als das, das man mithilfe der fünf Sinne erlangt, wenn diese in Kontakt zur Welt und den vier Elementen stehen. In der Nachfolge des Thomas von Aquin unterscheiden die mittelalterlichen Theologen zwei Arten des Denkens: der Verstand urteilt entweder aufgrund einer intuitiven Wahrnehmung (ratiocinari) oder aufgrund rein intellektueller Kriterien (intelligere), das heisst ohne die Hilfe der fünf Sinne. Diese intellectio basiert auf Visionen und gottgesandten Träumen. Allerdings gewähren nicht alle Träume einen Zugang zur göttlichen Sphäre. Während also manche Träume nach Art der biblischen Träume eine Botschaft übermitteln und als prophetisch eingeordnet werden können, hängen andere mit physiologischen Erscheinungen zusammen (wie der Verdampfung der Säfte während der Verdauung) und geben bloss Hinweise auf den Gesundheitszustand des Träumers. Im 16. Jahrhundert findet die Diskussion über Träume –oder mehr generell über den Schlaf – Eingang in die konfessionelle Polemik. Auf diese theologische Debatte gehen wir hier nicht weiter ein.

Von 1541 bis zu seinem Tod 1565 hielt Conrad Gessner Vorlesungen über Naturgeschichte an der Schola Tigurina ab. Aus dieser Lebensperiode ist eine grosse Anzahl von Vorlesungsnotizen, handschriftlichen Anmerkungen und vielfältigen und verschiedenartige Papieren erhalten. Nach seinem Tod gingen seine Besitztümer an Kaspar Wolf (1532-1601), seinen Nachfolger im Amt des Zürcher Stadtarztes. Zwischen 1566 und 1587 veröffentlichte Wolf mehrere Werke, die Gessner nicht mehr hatte vollenden können, vor allem die Physicarum meditationum annotationum et scholiorum libri, die seine naturgeschichtlichen Vorlesungen zusammenführten. Für ihre Publikation griff Wolf auf Auszüge, Notizen und Dokumente zurück, ferner auch auf die handschriftlichen Anmerkungen, die sich in Gessners Büchern fanden. Das fünfte Buch der Physicae meditationes, das ein eigenes Titelblatt und im Unterschied zu den übrigen Büchern eine eigene Seitenzählung besitzt, enthält die Kommentare Gessners zu den Werken des Aristoteles. Was das Thema der Seele angeht, unterscheidet ihn sein Aristotelismus vom Neoplatonismus des Synesios von Kyrene und des Ficino, obwohl der Zürcher auch die entsprechenden Werke des Porphyrios und des Proklos übersetzt hatte. Ausserdem besass er mehrere Abhandlungen von antiken Autoren zu dieser Frage. Hier interessieren wir uns für das kurze Vorwort, das der Zürcher für ein kleines Werk des Stagiriten, Über die Weissagung im Schlaf, verfasst hat. Bevor er den Text des griechischen Autors genau seziert (mithilfe von Schemata und Anmerkungen), bringt Gessner das Traumthema unter einem christlichen Gesichtspunkt zur Sprache; dies kommt am Anfang seiner Vorrede zum Ausdruck (Hominem christianum…). Er adaptiert auf diese Weise die Reflexionen des antiken Autors an die zeitgenössische Wirklichkeit; um den Sinn dieser Vorrede zu verstehen, ist besonders zu bedenken, dass er sich an Schüler wendet. Auch den üblichen Vergleich zwischen Schlaf und Tod kann man hier vorfinden. Die Unterscheidung, die Gessner zwischen den unterschiedlichen Arten von Träumen vornimmt, lässt sich ebenfalls auf eine lange Tradition zurückführen. Dann präsentiert sich der Zürcher im Kostüm des Arztes und empfiehlt dem Leser als Mittel für einen guten Schlaf und angenehme Träume ein gesundes Leben und eine gesunde Ernährung. Aber das genügt nicht: man muss zu Gott beten, damit die Träume nicht dem Einfluss des Teufels unterliegen. Wie der abschliessende Vergleich zeigt, geht Gessner von einer engen Verbindung zwischen körperlicher und seelischer Gesundheit aus.

 

Bibliographie

Gantet, C., «Le rêve dans l’Allemagne du XVIe siècle. Appropriations médicales et recouvrements confessionnels», Annales. Histoire, Sciences Sociales, 65/1, 2010, 39-62, Onlineversion, https://www.cairn.info/revue-annales-2010-1-page-39.htm.

Gantet, C., Une histoire du rêve: les faces nocturnes de l’âme (Allemagne, 1500-1800), Rennes, Presses universitaires de Rennes, 2021.