Rede über Sueton

Heinrich Glarean

Einführung: Lucie Claire (deutsche Übersetzung: Clemens Schlip). Version: 10.02.2023.


Entstehungszeitraum: terminus ad quem ist der 2. April 1554, der Tagm, an dem Glarean seine Rede über Sueton an der Universität von Freiburg i. Br. vortrug.

Ausgabe: C. Suetonii Tranquilli XII Caesares. Accesserunt Henrichi Loriti Glareani, Patricii Claronensis, in eundem Annotationes, nunquam ante hac editae, Basel, Heinrich Petri, 1560, 58-70 (für die vollständige Oratio), 60-65 (für den vorliegenden Auszug).

 

In der Nachfolge Petrarcas interessierten sich humanistische Leser leidenschaftlich für die Zwölf Kaiserviten des Biographen Sueton. Als der Basler Heinrich Petri im März 1560 in seinem Verlag eine lateinische Ausgabe der Viten erscheinen liess, hatten bereits mehr als 90 Editionen dieses Werks das Tageslicht erblickt: Petri musste sich auf diesem heissumkämpften Markt von seinen Mitbewerbern absetzen. Die Anmerkungen zu Sueton von Glarean, die der Ausgabe von 1560 beigegeben waren, der dritten Ausgabe aus der Offizin Petris seit 1532, boten dem Drucker ein solides Verkaufsargument. Mit einem Umfang von 70 Seiten bilde sie den Abschluss eines dicken Oktavbandes mit fast 550 Seiten; auf sie folgt eine ebenfalls von Glarean stammende Rede über Sueton. In dem diesen zwei Texten vorangestellten Widmungsbrief gibt der Schweizer Humanist wichtige Auskünfte darüber, wie sich sein Interesse an Sueton schrittweise entwickelt hat: Kurz vor seinem Tod im Jahr 1536 vertraute ihm Erasmus eine aus der Bibliothek des Abtes von Saint-Martin in Tournai stammende Handschrift der Viten an, die er selbst für seine eigene Suetonausgabe verwendet hatte (Basel, Johann Froben, 1518). Fast vierzig Jahre nach dieser Edition ging Glarean daran, an der Universität von Freiburg i. Br. öffentlich eine Suetonvorlesung zu veranstalten; parallel zu seinem Unterricht erstellte er seine Anmerkungen, die 1560 im Druck erschienen. Ausser der Handschrift des Erasmus besass Glarean noch mindestens drei lateinische Ausgaben der Kaiserviten, von denen sich zwei derzeit in der Münchner Universitätsbibliothek befinden: die Ausgabe von Guy Morillon (Paris, Gilles de Gourmont, Denis Roce und Poncet Le Preux, 1509), die er 1509 in Köln als Geschenk erhalten hatte, eine Neuausgabe der Edition des Erasmus (Köln, Eucharius Cervicornus, 1527) und eine Lyoner Edition (Jean Frellon, 1548). Auf der Titelseite der letztgenannten Edition findet sich ein eigenhändiger Eintrag Glareans darüber, dass er Sueton zuerst vom 14. November 1550 an «privat» (privatim) gelesen habe, das heisst für einige Studenten, die er bei sich zuhause beherbergte und unterrichtete, und sodann ab dem 2. April 1554 «öffentlich» (publice), das heisst in der Universität. Seine pädagogische Tätigkeit ist übrigens gut dokumentiert dank eines Exemplars einer Edition der Kaiserviten (Basel, Heinrich Petri, 1560), das eigenhändige Anmerkungen eines seiner Freiburger Studenten, Johann Egolph von Knöringen, enthält und ebenfalls in München aufbewahrt wird. So hat sich Glarean seit seinen Kölner Studententagen bis zu seiner universitären Unterrichtstätigkeit in Freiburg konstant mit Sueton beschäftigt. Dem Humanisten liegen ausserdem sehr vollständige Informationen zur exegetischen Literatur über den lateinischen Biographen vor: sein Exemplar der Ausgabe von 1509 enthält eine Einführungsvorlesung (praefatio) von Angelo Poliziano, Randnoten von und einen Auszug aus dem Kommentar des Philippus Beroaldus d. Ä. zur Etymologie des Namens Caesar; das der Edition von 1527 enthält die Anmerkungen von Erasmus und Giovanni Battista Egnazio; das der Edition von 1548 die Arbeiten des Poliziano, des Erasmus, des Egnazio, des Beroaldus d. Ä. und des Marcantonio Sabellico.

Auf der Titelseite eines seiner persönlichen Exemplare lässt Glarean seine Universitätsveranstaltungen zu Sueton am 2. April 1554 beginnen: Dieses Datum stimmt mit dem zu Beginn der Rede über Sueton angegebenen überein; diese Rede steht ganz am Ende der 1560 bei Petri gedruckten Rede und folgt dort auf die Anmerkungen. Gemäss einer in zahlreichen Universitäten der Renaissance bezeugten Tradition beginnt der Unterricht eines Professors mit einer feierlichen Sitzung, in der er vor einem ausgewählten Publikum eine Rede über den untersuchten Autor hält; die Zuhörerschaft besteht sowohl aus Notabeln wie aus Studenten: Von den ersten Zeilen seiner Rede über Sueton an wendet Glarean sich an «höchst ehrenwerte Männer» (ornatissimi viri) und «sehr bemerkenswerte junge Leute» (adolescentes optimi). Der Text der Rede, dem die musikalischen Noten und die Worte der zu Beginn der Veranstaltung gesungenen Danksagung vorausgehen, umfasst zwölf Seiten. Seine lateinische Bezeichnung schwankt zwischen oratio (so der am Anfang des Textes abgedruckte Titel) und praefatio (so der Titel in den Kopfzeilen), wobei Glarean selbst im Text der Rede zwischen praefatio und praelectio oszilliert.

Das exordium nimmt die originelle Form eines Widerspruchs an, den Glarean gegen einen fiktiven Gegner richtet, der ihm nicht nur vorwirft, dass er einen heidnischen Autor ausgewählt hat, sondern auch, dass er eine Periode behandelt, die kurz vor der Geburt Christi beginnt. Glarean antwortet auf diese Anklage, indem er sich das Terrain seines imaginären Kritikers begibt; mithilfe des zweiten Kapitels des Buches der Weisheit begründet er, dass der Hochmut und die Eifersucht des Teufels in die Welt eingetreten sind und die Menschen blind machen, was so weit geht, dass manche von ihnen sich für Götter halten. Glarean lässt diesen Gedankengang unvollendet, schliesst sein exordium und widmet sich einigen obligaten Redepartien, einem Erbe der mittelalterlichen accessus, der Inauguralvorlesungen, die sich gleichermassen dem Lobpreis und der Aufforderung zum Studium widmen. Die Lobrede folgt häufig einem festen Schema, das der Byzantiner Johannes Argyropoulos in seiner Vorlesung zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles festgelegt hat; es besteht aus folgenden acht Punkten: der Intention des Autors, seiner Nützlichkeit, der Frage, ob es sich um einen authentischen Text dieses Autors handelt, dem Titel, der inneren Ordnung des Textes, seiner Gliederung, der Vorgehensweise des Autors und der philosophischen Richtung, der das Werk angehört. Ohne diesem rhetorischen Regelwerk buchstabengetreu zu folgen, behandelt Glarean zunächst den Titel des Werks und dann aus einer pädagogischen Perspektive heraus die Legitimität der Lektüre solcher Biographien: Die zwölf Kaiser, die er aufzählt und deren Schändlichkeiten er in groben Zügen nachzeichnet, bieten a priori Beispiele für ein wenig empfehlenswertes moralisches Betragen. Abrupt greift Glarean die Argumentation wieder auf, die sich im exordium schon angedeutet hatte, und erklärt, dass das Kommen Christi auf die Erde die Macht des Teufels zuschanden gemacht und die Botschaft der Apostel den Menschen die Augen geöffnet hat. Die Rede erinnert sodann an vier Vorläufer Glareans in der Suetonlektüre: Poliziano, Beroaldus d. Ä., Sabellico und Erasmus, der einzige, der über den Biographen gesprochen hat. Darauf folgt eine weitere Szene in Dialogform zwischen Glarean und einem Gegner Suetons, die es dem Professor gestattet, darzulegen, dass Sueton mit seinem Bericht über die Laster der Kaiser kein anderes Ziel verfolgt, als seine Leser von solchen Übeln fernzuhalten. Ihre Ausschweifungen müssen als abschreckendes Beispiel verstanden werden. Diese ziemlich banale Idee ist beispielsweise auch schon in dem Brief vorhanden, den Erasmus an den Anfang seiner Edition der Kaiserviten (Basel, Johann Froben, 1518) stellte, um die Aufmerksamkeit der Herzöge Friedrich und Georg von Sachsen auf sich zu ziehen. Glarean wagt sich dennoch noch weiter hinaus als der Humanist aus Rotterdam und geht so weit, zu  behaupten, dass Gott den Sueton beim Verfassen seiner Viten inspiriert habe. Schliesslich wendet sich Rede dem Ausgangspunkt der Vorlesung zu – dem von Erasmus übermittelten Manuskript – und ihren Zielen – der Vervollständigung der Arbeiten seiner Vorgänger. In der peroratio kündigt Glarean die bevorstehende (1560 dann tatsächlich erfolgte) Publikation seiner Anmerkungen an und verleiht seiner Hoffnung Ausdruck, ein nützliches Werk vollbracht zu haben.

Die hier edierte und übersetzte Passage entspricht dem Gedankengang Glareans in dem Moment, als er im Anschluss an das exordium die Frage nach dem Titel des Werkes stellt (oder vielmehr danach zu fragen vorgibt) und dann vor seinen Zuhörern die zwölf Caesaren vorbeimarschieren lässt, die er mit im Befehlston gehaltenen Redewendungen der Reihe nach herbeizitiert. In der Rede des Professors ist alles darauf ausgerichtet, nachzuweisen, dass die Männer, die die traditionell als zwölf Caesaren bezeichnet werden, einen Namen tragen, der nicht ihrer wahren Natur entspricht. Die affektierte Unsicherheit bezüglich des genauen Werktitels gestattet es Glarean, einen Topos der Inauguralvorlesungen abzuwandeln und den Titel Zwölf Kaiser bzw. Caesaren in burlesker Weise und mit steigendem Eskalationsgrad zu variieren (sie werden zu zwölf Schlingeln, schliesslich zu zwölf Monstern), um eine Idee einzuführen, die er dann in der Rede weiter ausführt: Diese Wesen sind Monster und sogar «Übermonster». Um die in ihrer Identität vorliegende Steigerung des Monströsen zu illustrieren, stützt sich Glarean auf Berichte des Sueton, den er zum Gewährsmann für die Schändlichkeiten der römischen Kaiser aufbaut: In der chronologischen Übersicht über die zwölf Caesaren, von Julius Caesar bis Domitian werden in groben Zügen einige ihrer Verbrechen und Ausschweifungen aufgezählt, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf Julius Caesar und Augustus gelegt wird. Desto weiter Glarean zeitlich voranschreitet, desto weniger lässt er sich Zeit: Während Tiberius und Caligula noch einige Zeilen erhalten, müssen sich Claudius und Nero mit einem Satz begnügen. Die folgenden Kaiser werden noch hastiger abgehandelt in einem Satz, der Galba, Otho und Vitellius und anschliessend Vespasian und Titus vereint. Domitian, der letzte Caesar, wird zwar auf eine individuelle Weise abgehandelt, aber dies fast ebenso rasch wie sein Vater und sein Bruder. Um die Monstrosität der von den Kaisern veranstalteten Untaten zu untermauern, schmückt Glarean seine Rede durch Vergleiche mit furchterregenden und todbringenden Kreaturen aus: dem kalydonischen Eber, dem nemeischen Löwen, Charybdis und Skylla, Kerberos und Alastor. Die historische Realität begibt sich auf das Niveau der mythologischen Masslosigkeit. Sie erreicht sogar tragische Intensität (tragica illa exempla): Im julisch-claudischen und im flavischen Kaiserhaus greifen die Verbrechen der einzelnen Generationen wie Kettenglieder ineinander, so wie bei den Atriden oder den Labdakiden. Der Auszug präsentiert nur einen einzigen Vergleich mit einem Wesen aus Fleisch aus Blut: mit Alexander dem Grossen, dessen hybris und Unmässigkeiten ihn zu einem Modell machen, das man nicht nachahmen sollte,

Die Verve, die Glarean in dieser Passage seiner Rede über Sueton an den Tag legt, ist beeindruckend. Ohne Umschweife imaginiert er sich einen Widerredner, einen Caesarenanhänger, der in Erinnerung ruft, dass mehrere von ihnen vergöttlicht wurden und darauf hinweist, dass manche ihrer Taten keinen Tadel verdienen – es handelt sich also nicht um denselben, dem Sueton feindlich gesinnten Widerredner, dem der Redner zu Anfang das Wort erteilt hatte. Dieses Verfahren schafft Abwechslung und bietet Glarean die Möglichkeit, die Idee zurückzuweisen, irgendetwas könne die zwölf Caesaren retten: Nicht nur usurpieren diese das Epitheton des Göttlichen, sondern auch jene, die sie verehren, stellen damit eine staunenswerte Verblendung unter Beweis, die auf den Einfluss des Teufels zurückzuführen ist (magna et occulta aliqua tenebrarum potestas). Die seltenen Wohltaten, die man mit bestimmten Kaisern wie Augustus verbindet, haben in Wirklichkeit nichts mit ihnen zu tun: Sie sind durch den Willen des christlichen Gottes zu erklären, dessen Ankunft auf Erden gemäss der Vision des Propheten Jesaia in einer Welt stattfinden musste, wo «sie nicht das Schwert erheben, Nation gegen Nation». Es fällt auf, wie sehr Glarean im gesamten Verlauf seiner Rede die Kohärenz der göttlichen Botschaft unterstreicht, was so weit geht, dass er kurz nach dem Ende unseres Abschnitts Sueton als einen heidnischen Abgesandten des Herrn darstellt: «Zusammenfassend ausgedrückt, verdanken wir dem besten und grössten Gott auch dies, dass er in seiner Milde gegen uns auch einen Heiden für würdig erfunden und ihn dazu angeregt hat, einen wütenden Kampf gegen die Sitten jener Caesaren zu führen » (Deo optimo maximoque omnino hoc quoque debemus, quod pro sua in nos clementia suscitare dignatus est etiam ethnicum, in illorum Caesarum mores debacchari ausum). Suetonlektüre steht also keineswegs in Widerspruch zum christlichen Glauben.

Im Übrigen hindert ihn die Frömmigkeit nicht daran, die üblen Taten der zwölf Caesaren und ihrer Angehörigen in ihrer ganzen Grausamkeit zu schildern, so tadelnswert diese auch sein mögen. Mit keinem Wort versucht er die moralische Scheusslichkeit ihrer Taten und ihres Betragens abzumildern. Julia? Eine «Prostituierte». Caligula? Ein «Scheisskerl». Claudius? Ein «dummes Schwein». Glarean nimmt kein Blatt vor den Mund und fügt zur Stärke seiner Wortwahl noch copia hinzu: Zwei Listen werden den Ohren des Publikums dargeboten; die eine umfasst Laster, die andere pejorative Wertungen – und die erste wird nur unterbrochen, weil dem Redner der Atem ausgeht. Glarean greift auf eine ganze Palette rhetorischer Vorgehensweisen zurück, um die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zu gewinnen. Die sehr klangvolle Rede ist reich an Paronomasien (angustus ille Augustus) und Homoioteleuta  (helluones, bibones, comedones, lurchones). Der Redner versteht sich auf Ironie, etwa wenn er Julius Caesar als «Stern» bezeichnet oder sich nicht scheut, die universitären Praktiken seiner Zeit ins Lächerliche zu ziehen, besonders, indem er in seine Rede einige deutsche Begriffe einstreut, was dem üblichen Brauch widerspricht, der das Lateinische zur Sprache der Wissenschaft macht. Glarean geniesst die Freiheit, die er sich mit den akademischen Konventionen erlaubt: Er hebt die Torheit einiger seiner Kollegen hervor, die ihre Vorlesungen mit griechischen Begriffen ausschmücken, die den meisten ihrer Zuhörer unverständlich sind, indem er diese Praxis in eine andere Richtung lenkt und das Griechische durch das Deutsche ersetzt. Ganz nebenbei bekräftigt er so den Adel der deutschen Sprache und illustriert insgesamt viermal, dass sein lexikalischer Reichtum und sein Aussagevermögen nicht geringer sind als das des Lateinischen.

 

Bibliographie

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