Vorrede zu Jacob Ceporins Pindarausgabe

Übersetzung (Deutsch)

Fol. 2ro-vo

Ulrich Zwingli grüsst die Kandidaten der Sprachstudien.

«Wer auch immer sich bemüht (um mit einem Gedicht des Horaz zu beginnen), Pindar zu» empfehlen, der «schwebt mit dem wachsgeformten Gefieder des Daidalos in der Luft», vortrefflicher Leser. Da man das Lob für ihn aus den Himmelsgefilden und den Abgründen der Unterwelt zusammensuchen muss, wohin die Stimme seiner Lyra gedrungen ist, wird das aus weichem Wachs mit Leim zusammengeklebte Federwerk weder den Glanz der himmlischen Welt noch die Fackeln der unterirdischen aushalten. Daher wird jemand, der einen so ungeheuren Ruhm zu erfassen versucht, «einem kristallenen Meer seinen Namen geben». Ich gestehe frei heraus, dass er, der leicht als der Fürst aller Lyriker, noch lieber möchte ich sagen: aller Dichter anzusehen ist, es nicht verdient, von jemand anderem gelobt zu werden als von einem sehr hochstehenden und beredten Mann, geschweige denn von mir, der ich kaum über so ein bisschen Talent verfüge, dass ich ein so extrem hoch angesiedeltes Gedicht auch nur von unten betrachten kann. Da aber Jakob Ceporin, ein Mensch, der zu nichts anderem geboren ist als uralte und höchst kultivierte Autoren auszugraben und ans Licht zu bringen, mich mit einer derart ungerechten Strenge bedrängte, in seinem Auftrag eine Vorrede zu den olympischen, pythischen, nemeischen und isthmischen Gedichten zu verfassen, die Cratander, ein sehr wachsamer Mann, gedruckt hatte: so konnte ich das dem vortrefflichen Mann nicht verweigern, weil er mich so inständig bat, auch wenn ich durchaus wusste, dass ich mich dadurch dem Risiko der Verspottung aussetzte. Er meinte nämlich, es würde einen sachdienlichen Beitrag leisten, wenn vor dem Erklingen der pindarischen Lyra, zu deren Klang die Musen über alles glücklich und dankbar einen Chor bilden, irgendein Vortänzer einen ganz tollen Blödsinn anstellt und dabei dennoch meint, in allem den Nagel auf den Kopf zu treffen, damit dann der ungewohnte und unbeschreibliche Glanz dieses Dichters mehr Bewunderung findet. Er ist wahrhaft jemand, der sich bemüht, den Zuschauern einen Gefallen zu tun; ohne unser Spiel nämlich hätte Pindar schon so viel Reiz verbreitet, dass es mühsam gewesen wäre, ihn in sich aufzunehmen. Aber durch welche Überlegung auch immer er uns überzeugt hat, wir haben ihm jedenfalls gehorcht; ja sogar wenn er uns befohlen hätte, nackt zu tanzen, hätten wir uns ihm gefügt.

 

Fol. 3vo

Man kann daher über Pindar sagen, wenn man das über irgendjemanden sagen kann, dass er sich charakterlich sehr um Aufrichtigkeit, Heiligkeit und Ehrsamkeit bemühte und ganz davon durchdrungen war: in diesen ganz klaren Strudeln wälzt sich der Fluss des pindarischen Liedes. In seinem ganzen Werk gibt es keine Stelle, die nicht gelehrt, reizvoll, heilig gewandt, altehrwürdig, klug, ernsthaft, angenehm, überlegt und in jeder Hinsicht vollendet wäre. Mag er auch in einem grossartigen Stil von den Göttern sprechen, so denkt er dennoch nicht grossartig von ihrer vulgären Vielzahl, sondern bringt die Rede oft auf diese einzigartige göttliche und himmlische Kraft. Ja, die Ansicht, die der heilige Augustinus an einigen Stellen und Origenes in Contra Celsum hinsichtlich der Philosophen und Dichter vertreten: dass sie, auch wenn dem Wortlaut und den Namen nach von einer Mehrzahl von Göttern zu singen scheinen, in Wirklichkeit aber durchaus wussten, dass die Kraft, die Gott ist, nur eine einzige sein darf, trifft auch hinsichtlich unseres Dichters zu; wir sehen, dass er, auch wenn er Götter anruft, dennoch nur an einen einzigen Gott glaubt.

 

Fol. 4ro

Was aber glaubst Du, was es bedeutet, vortrefflicher Leser, dass nach meinem Dafürhalten kein griechischer Autor so sehr zum Verständnis der Heiligen Schrift beizutragen scheint wie dieser unser Autor, besonders wenn man die ganz schwer verständlichen Lieder und Hymnen der Hebräer vollständig verstehen möchte, wie etwa die Psalmen, die Lieder Hiobs und andere hier und da eingestreute Lobgesänge in metrischer Formung? Es gibt nämlich bei ihnen himmlische Gesänge, die, wie sie an Frömmigkeit und Geisterfülltheit alle anderen übertreffen, so auch an Gelehrsamkeit, Ernsthaftigkeit und Reiz keinem Gedicht, nicht einmal denen unseres Autors, unterlegen sind. Das gilt für fast alle Gedichte Davids, besonders aber für Psalm 103 und Psalm 43 (zur Unterrichtung der Korachiten); das sind Gesänge von einer solchen Qualität, dass man sie nicht genug bewundern kann.

 

Fol. 4vo-5vo

Mögen sie über die christliche Religion noch so ungeheure Kommentare schreiben, sie sollen sich dennoch nicht vermessen, von Dingen zu sprechen, von denen sie geradewegs nichts wissen. Ich möchte nämlich wagen, mit Blick auf die Gedichte der Hebräer zu bekräftigen, dass in ihnen so viel Gelehrsamkeit und Anmut steckt, wie auch in Pindar und Horaz. Da wir aber von der Wissenschaft des Altertums so weit entfernt sind, da wir lieber wollen, dass unsere eigenen Texte gelesen werden, als dass wir aus fremden Texten lernen, so kommt es, dass wir drei Tage alten Dohlen (ich wollte sagen: Griechlein) den hochheiligen hebräischen Dichtern Bedeutungen auspressen, die ihrem Geist ganz fernliegen. Damit wir uns eines Tages von diesem durch unsere Vermessenheit und unsere Unwissenheit verursachten Schaden befreien können, wollen wir uns an diesen unseren Dichter wenden und ihn bitten, uns Gold, Silber und Kleidung auszuleihen, an denen er Überfluss hat und die er auch uns nicht missgönnt, damit wir durch seine Vokabeln eines Tages lernen, die Wahrheit richtig zu bezeichnen und ihre Einkleidung so zu erkennen, dass wir sie, auch wenn uns von oben her ihre vollständige Kenntnis verweigert wird, dennoch besser erkennen, weil wir ihre Einkleidung richtig erkannt haben. Ich lasse mich nicht von denjenigen Kritikern beeindrucken, für die diese Reinheit unrein ist, und die es für eine riesige Schande halten, wenn man einen heidnischen Dichter liest; denn ich schlage nicht jeden beliebigen Autor zur Lektüre vor, sondern einen, der keine Gefahr mit sich bringt, sondern aus dem man vielfältigen Nutzen ziehen kann, und der alleine zur Erforschung der hebräischen Schriften mehr beiträgt als alle Textdenkmäler aller übrigen griechischen und lateinischen Dichter. Das Altertum hatte nämlich Eigentümlichkeiten wie jedes Zeitalter sie hat, die man sich nicht unbesehen zu eigen machen soll, wenn man nicht mit den Alten persönlichen Umgang gehabt hat: es verschwindet nämlich alles, nicht nur Sprachen, Kleidung, Talent, sondern auch der ganze Mensch. Da aber dieser unser Autor nicht nur Ausdrucksformen, sondern auch eine geistige Haltung zu haben scheint, die der der hochheiligen Epoche ähnlich ist (wir werden dazu am Ende des Buches noch ein wenig sagen), senden wir den frommen Hörer gefahrlos zu ihm; ja, wir bekräftigen sogar, dass man die Frömmigkeit unbeschadet zu ihm schicken kann, so heilig und keusch ist alles bei ihm. Du aber ziehe in der Zwischenzeit Nutzen aus der Sorgfalt unseres Freundes Ceporin und der schweisstreibenden Arbeit unseres Freundes Cratander: Pindar erscheint hier in einer stärker emendierten Form als bisher; vielleicht stösst Du auf kleine Fehler, die in dem einen oder anderen falschgedruckten Buchstaben bestehen; doch das soll Dich nicht aufregen; die Augen sehen über solche Kleinigkeiten manchmal von selbst aus hinweg, solange nur der Geist den Sinn erfasst. Lebe wohl, trefflicher Leser, und der vortreffliche und überaus grosse Gott schenke es Dir, die Wahrheit unter der Anleitung eines heidnischen Lehrmeisters zu lernen, sie sowohl bei den Hebräern zu verstehen als auch sie besonders bei den Heiden auf eine reizvolle Weise darzustellen. Zürich, den 23. Februar 1526.