Die Verfolgung der Locarner
Traduction (Allemand)
Traduction: Clemens Schlip (französischer Originaltext der Anmerkungen von David Amherdt)
Ein kurzer und wahrheitsgemässer Bericht über die Verfolgung der Locarner und über das ihnen ihrer Religion halber auferlegte Exil, von einem Augen- und Ohrenzeugen und Genossen ihres Exils verfasst zur Erbauung der Kirche Christi, beginnend mit dem Jahre des Herrn 1540, fortgeführt bis zum Jahr 1555, von dort aus aber bis 1602.
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4. Es gab zu jener Zeit einen papistischen Priester bzw. Presbyter, Giovanni Beccaria, hinreichend ausgebildet in den edlen Wissenschaften, der auch aus Büchern, die hier und da erwarb, die ersten Fundamente der christlichen Religion erlernte; dennoch zelebrierte er damals noch die Messe. Die Locarner machten ihn zum Direktor ihrer Schule, da sie ihn für geeignet hielten, die Jugend in den humanistischen Studienfächern zu unterrichten, und er lehrte seine älteren und besser unterrichteten Schüler auch, was er aus der Heiligen Schrift erlernt hatte. Und er lehrte unaufhörlich und förderte das Wachstum der Kirche auf jede mögliche Weise, bis er ins Exil geschickt wurde. In der Zwischenzeit erduldete er mit unbesiegtem und starkem Geist viele Kümmernisse, Verfolgungen, Verluste, Verleumdungen und andere Widernisse, um Christi willen. Er bekehrte und gewann aber nicht nur viele seiner Schüler, sondern auch erwachsene Männer und Frauen, nachdem er schon die Messe und allen papistischen Schmutz und Abschaum abgelegt hatte. Zwei seiner Schüler aber liebte Beccaria in einzigartiger Weise vor den übrigen, Lodovico Ronco und Taddeo Duno, mit denen er in brüderlicher und vertraulicher Weise alles besprach, was er aus den heiligen Quellen des Gotteswort geschöpft und für unvereinbar mit dem perversen, schrecklichen und unsäglichen Papismus erkannt hatte. Diese beiden und der Jurist Martino Muralto, ein Mann aus dem Adel, kümmerten sich zusammen mit dem Lehrer Beccaria eifrig um das Gebäude der Kirche, und die Zahl der Gläubigen wuchs stark an bis zum Jahr 1550, als das Konzil von Trient unter Papst Paul III. schon begonnen hatte, hierauf unter Papst Julius III. und Pius III., der das Konzil am 4. Dezember 1563, als es vom Jahr 1545 an gerechnet 18 Jahre lang gedauert hatte.
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12. Auf der Tagsatzung in Baden stritten im Jahr 1554 die zwölf Orte der Schweizer heftig miteinander und rangen in gegenseitiger Feindseligkeit um die Locarner Angelegenheit. Diejenigen, die verbissen am sogenannten alten Glauben festhielten und immer noch festhalten, drohten den Locarnern, die ganz andere religiöse Anschauungen hatten als sie, alle möglichen harten Dinge an, gerade so als ob sie darauf sännen, sie von Grund auf zu vernichten. Dagegen waren die, die sich zum sogenannten neuen Glauben bekannten, bestrebt, alles zu ihrem Schutze zu versuchen. Daher brachen unter ihnen derart schwerwiegende und erbitterte Streitereien und Auseinandersetzungen aus, und so verwirrt und erregt waren aller Gemüter, dass es den Anschein hatte, man müsse den Beginn eines neuen Bürgerkrieges fürchten, weil beide Parteien beschlossen hatten, für ihren Glauben und ihre Religion zu kämpfen. Da man deshalb diese Kontroverse als gefährlich einschätzte, schritten die Gesandten der Glarner und Appenzeller als Unparteiische, Schiedsrichter und Unterhändler ein, in dem Bestreben, jene scherwiegende Angelegenheit gütlich beizulegen, den Streit zu schlichten und einen Frieden zu vermitteln, und sie schlugen einige Artikel bzw. Kapitel bzw. Bedingungen vor, von denen sie überzeugt waren, dass sie beide Parteien zufriedenstellen könnten. Und während die übrigen alle zustimmten und den vorgeschlagenen Frieden akzeptierten, lehnten ihn nur die Zürcher Gesandten ab, weil sie es für frevelhaft hielten, mit ihrer Stimme die zu verurteilen, von denen sie wussten, dass sie dieselbe Religion pflegten wie sie selbst. Die wichtigsten Hauptpunkte dieser Vereinbarung waren aber die folgenden:
1. Wenn Anhänger der neuen Religion wieder die alte annehmen wollen, sei ihnen dies gestatte ohne Furcht vor Strafe.
2. Diejenigen, die sich weigern, das zu tun, sollen auf ewige Zeiten mit ihren Frauen und Kindern exiliert werden.
3. Alle ihre Güter indes sollen in ihrem Besitz bleiben, so dass sie Profit daraus ziehen, sie verkaufen oder anderen Locarner Bürgern zur Verwaltung anvertrauen können.
Diese Hauptpunkte wurden mit vielen anderen auf der Badener Tagsatzung in dem genannten Jahr beschlossen: Am 1. Januar 1555 wurden sie auf der Burg öffentlich in Anwesenheit einer grossen Zahl von Männern, Frauen und Kindern, Anhängern beider Religionen, verlesen. Weil aber die Winterzeit für eine Reise, besonders über die Alpen, wegen der Frauen und Kleinkinder nicht geeignet war, setzte man als Tag für die Auswanderung den kommenden 3. März fest. Es war aber ein bewundernswertes Beispiel für Gottes Vorsehung, dass, derweil ja tüchtige und unbescholtene Männer aus ihrer Heimat vertrieben werden sollten, in dem ganzen Friedensvertrag nirgends der Name Gottes stand, auch wenn es darin um die Religion und um höchst wichtige Angelegenheiten ging. Man schaue sich die Autographen und die nach ihnen angefertigten Kopien an. Was das bedeutet oder anzeigt, werden kluge Männer leicht beurteilen können.
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17. Nachdem ihre Verbannung schon verkündet worden war, beschlossen die Locarner vor Verlassen ihrer Wohnsitze zunächst Gesandte nach Zürich zu schicken und danach zu den Rhätern, die in jenem Januar in Chur ihre Tagsatzung abhielten, um sie um Hilfe und gastliche Aufnahme zu bitten, und zwar derart, dass die Rhäter sie auf die Empfehlung der Zürcher hin bei sich aufnähmen, mit Rücksicht auf ihre räumliche Nähe und ihre gemeinsame Sprache. Man schickte also Taddeo Duno und mit einem anderen der Brüder. Als sie nach Zürich kamen und dem Rat ihre Sache vortrugen, hatten jener Magistrate Mitleid mit dem Unglück der Locarner und gab gütig zur Antwort, dass ihre eigene Stadt ihnen offenstände (wenn sie andernorts kein passendes Aufnahmeland finden sollten), und schickte mit jenen zusammen zwei Gesandte zu den Rhätern. Auch wenn aber jene der Bitte der Zürcher umgehend zustimmten und den Locarnern freien Zugang in ihr Gebiet zugestanden, beschlossen jene, die von mannigfachen Beschwernissen und Ängsten gedrückt wurden, nachdem sie gehört und recht bedacht hatten, was der Zürcher Magistrat, ausgezeichnet durch seine Erhabenheit und Frömmigkeit, ihnen vorgeschlagen hatte, voller Freude und Jubel, direkt die von jenen angebotene Gastfreundschaft anzunehmen, und nur wenige gingen nach Rhätien, und auch diese zogen nach kurzer Zeit nach Zürich.
18. Am 3. März verliessen sie ihre Wohnsitze, wie es ihnen vorgeschrieben worden war, so dass man singen konnte: Wir haben unsere Heimat und unsere lieblichen Felder verlassen. Sie zogen aber in die nächstgelegene rhätische Stadt, Roveredo, etwas oberhalb von Bellinzona gelegen, und blieben dort zwei Monate, da sie immer noch für zu gefährlich hielten, ihre Frauen und Kinder den vor Eis und Schnee starrenden Bergjochen anzuvertrauen. Im Mai aber zogen sie aus der Stadt, überwanden innerhalb einer Woche die Alpen und alle Hindernisse und erreichten glücklich und erfolgreich Zürich, dank Gottes Gnade; ohne Schaden zu nehmen hatten nämlich alle Männer, Frauen und Kinder die Reise zu Fuss, zu Pferde, im Wagen und zu Schiff hinter sich gebracht, so dass nicht einmal ihr Gepäck irgendeinen Schaden nahm. Während ihrer Reise aber waren sie so heiter, so fröhlich, als ob sie zu einer Hochzeit oder irgendeinem Fest eilten, so wie die Apostel von den Juden weggingen, nachdem man sie gegeisselt hatte, mit Freude, weil sie für würdig erachtet worden waren, für den Namen Christi etwas zu erleiden. Als sie in die Stadt kamen, empfingen alle ihre Magistrate, durch menschliche Gesinnung, Nächstenliebe und Grossherzigkeit ausgezeichnete Männer, die sie bei der allgemeinen Tagsatzung immerzu zu schützen bestrebt gewesen waren, obwohl das mit der Gefahr eines Krieges verbunden gewesen war, und die von den Vermittlern vorgeschlagenen Friedensbedingungen tapfer abgelehnt hatten, sie mit wunderbarem Jubel und Fröhlichkeit und erwiesen ihnen Wohltaten, wie sie einer derartigen Stadt würdig waren.
19. Die in der Stadt wohnenden Locarner fürchteten sich am Anfang nicht wenig vor der fremden Sprache, Lebens- und Kleidungsart und den Volkssitten, die sich von denen in ihrer Heimat sehr unterschieden, was nicht zu verwundern war, besonders mit Blick auf die Armen, auch wenn zu jener Zeit alles sehr billig war, so dass man mit wenig Geld leben konnte. Mit Standhaftigkeit, tapferem Durchhaltevermögen und im Vertrauen auf Gott (der sie gleichsam aus dem chaldäischen Ur oder aus Ägypten ins Gelobte Land geführt hatte), beachteten sie allmählich in ihrer Art, zu leben und sich zu kleiden, die gewohnten Regeln und Sitten der Stadt und erlernten die Sprache. Die Zahl der exilierten Männer, Frauen und Kinder betrug 130; nicht wenige andere waren zuhause geblieben, da sie es nicht vermochten, jene schwere Last, den dauerhaften Verlust der Heimat, nicht ertragen konnten. Sie hatten sich lieber von neuem der Tyrannei des Antichristen unterwerfen als ihr Kreuz nehmen und Christus nachfolgen wollen. Von den Exilierten aber waren die einen Doktoren der Jurisprudenz und der Medizin, edle Männer, andere Chirurgen und Notare, andere Handwerker (Zierde und Schmuck ihrer Heimat), es gab auch andere hervorragende Männer, die keinem Gewerbe nachgingen, aber dennoch durch ihre Autorität herausragten. Sie alle führten ihre Frauen und Kinder mit sich, wenige ausgenommen, die um Christi willen ihre Frauen oder ihre Ehemänner oder ihre Eltern oder ihre Söhne um Christi willen verlassen hatten. Zusammenfassend gesagt waren es derartige Männer, so ehrbar und so nützlich und teuer für ihre Heimat, dass auch ihre papistischen Widersacher, ja sogar von den Herren empfohlen wurden, so weit war man davon entfernt, dass man sie jemals irgendeiner Schändlichkeit oder eines Verbrechens oder gar der Rebellion angeklagt hätte. Nur Glaube und Religion, die sie angenommen hatten, schuf ihnen schwerwiegende Gefahr und grosses Unglück. Das gereichte diesen redlichen Männern zur Ehre und war für sie mit keinem geringen Trost verbunden, da sie Verfolgung und Exil nicht als Übeltäter erlitten, sondern wie Jünger Jesu Christi, auf den allein sein Vater, der allerhöchste Gott, hören mag, nicht auf den römischen Papst, dessen Kirche nicht auf einen Felsen, sondern auf Sand und Staub erbaut ist.
20. Nach ihrer Wohnsitznahme in Zürich führten jene Locarner viele äusserst fruchtbare Künste in die Stadt ein, derer sie zuvor entbehrte, ich spreche von Künsten, die Stoffe schaffen, Seidenstoffe, Wollstoffe, Baumwollstoffe, viele Arten davon, Stoffe, mit denen sie den Gewinn erzielen, der zum Leben notwendig ist, denn mit ihrer Vervollkommnung haben sie schon viele Jahre eifrige Arbeit verbracht. Der Profit und der Nutzen dieser Künste und des Handels vermehrt nicht nur das Vermögen der Locarner, sondern auch vieler Bürger und Bauern. Ja, auch der Stadthaushalt hat bedeutende Einkünfte aus den Zolleinnahmen, wenn die Waren importiert und exportiert werden.
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24. Das, was ich schon genannt habe, war die eine schwerstwiegende Plage, mit der Gott die Locarner züchtigte; die andere folgt nun. Im Jahr 1584 befiel eine heftig tobende Pest das Volk und sie verbreitete sich viel heftiger als jemals zuvor. Kaum der dritte Teil des Volkes entging ihr, so grausam war sie, und die Ansteckung war gefährlich. Die Krankheit aber wurde durch eine wahrhaft diabolische Kunst bewirkt: Mit Ölen und Salben wurden nämlich die Türpfosten, Schlösser, Wände und Gesimse der Häuser und die Kleider der Leute heimlich infiziert, so dass pestkrank wurde, wer diese Salben berührt hatte. Ausser dem schrecklichen Sterben der Menschen brachte jene Pest auch viel anderes Übel und Schaden mit sich, wie ein ungeheures wildes und furchterregendes Untier; Möbel, viel Nahrung, Geld und Schriften wurden heimlich geraubt, weil die Hausherren selbst äusserst günstige Rahmenbedingungen für den Diebstahl schufen. Denn aufgrund der unglaublichen Furcht vor der Krankheit wagten (wie es in Italien häufig der Fall ist) die Gesunden nicht, zu den bettlägerigen Kranken zu gehen, ganz egal ob es sich dabei um Väter und Mütter, Söhne und Brüder, Ehefrauen und Ehemänner handelte. Ja, wenn sie sie besuchten, wurden sie sofort vom sozialen Verkehr ausgeschlossen. Sie liessen daher die Kranken sterben, da sie ihnen weder Essen noch irgendeine Medizin brachten und ihnen auch keinen Trost zuteilwerden liessen, ja, ich spreche es aus, sie verweigerten ihnen in ihren grössten Ängsten und Schmerzen alles, wozu sie verpflichtet gewesen wären, denn sie waren Männer, denen jede Art von Menschlichkeit, Nächstenliebe und Frömmigkeit fehlte; später aber wurden sie dennoch von den gleichen Qualen befallen und gingen daran zugrunde. Sie entfernten sich also weit von ihren infizierten Häusern und gaben lieber ihren Besitz verloren und dem Raube preis als sich mit der Pest zu infizieren. Die Leute, die dazu angeworben waren, den Kranken das Lebensnotwendige zu liefern und die Toten zu bestatten, sahen, dass die Häuser von ihren Herren aufgegeben worden waren raubten und stahlen nach Kräften alles und plünderten die Häuser, zum grossen Schaden jener wenigen, die gerettet wurden, um als Samen zu dienen. Und doch hat weder diese Plage noch die vorherige sie genug gezüchtigt, so dass sie sich um ihr Seelenheil bekümmern und lernen würden, gerecht und fromm zu leben. Und so folgen sie immer ihren hergebrachten Sitten und rufenn immer mehr Gottes Zorn auf sich herab.