Theatrum humanae vitae
Traduction (Allemand)
Traduction: Clemens Schlip (französischer Originaltext der Anmerkungen von David Amherdt)
1. Geschichte und Theorie (Bd. I, fol. *3ro)
Der Mensch ist ein göttliches Lebewesen, das, soweit es Recht ist, das perfekte Erreichen seiner Idealgestalt anstrebt, und durch die Erkenntnis der Wahrheit und das Tun des Guten misst und definiert er im Allgemeinen alle Dinge. Das sind die beiden Flügel, gemäss der Ansicht der Akademie, von denen getragen der Philosoph in sein himmlisches Vaterland zurückkehrt. Das Handeln freilich wird durch die Kraft des Geistes in Angriff genommen und durch den Dienst des Körpers umgesetzt, und mag es auch der Norm der Erkenntnis folgen, ist es dennoch ganz empirisch und besteht und erstrahlt in einer einzigartigen Erfahrung, in Überlegung und wirksame Tun. Die Erkenntnis aber, die gleichsam fest auf zwei Kriterien wie auf Beinen fest steht, und deren Kraft bei jedem Versuch und jeder notwendigen Wirkung erforderlich ist, stützt sich aufgrund der Verschiedenheit des Subjekts, das entweder durch sich und ausserhalb des Intellekts existiert oder im Intellekt existiert, bald mehr auf die Hilfe von jenem oder von diesem zurückgreift, und zwar derart, dass sie unter dem Schutz der Sinneswahrnehmungen, unter denen der Sehsinn den wichtigsten Platz einnimmt, auf Geschichte, das heisst die Wahrnehmung einzelner Dinge, abzielt; mit Hilfe des Verstandes beschäftigt sie sich intensiv mit der Theorie bzw. der Natur des Universalen. Letztere beschäftigt sich mit Lehren, erstere mit Beispielen.
2. Über das Thema des ganzen Werkes (Bd. I, fol. *6vo)
Es steht fest, dass Philosophen zwei Arten von Studium betreiben müssen, ein theoretisches und ein historisches. In diesem Werk aber, das ein Monument unserer Nachtwachen darstellt und das anderen nützlich sein können wird, geht es uns nicht um Lehren, sondern um Beispiele. Daher ist diese ganze Abhandlung mit der zweitgenannten Gattung in Verbindung zu bringen, in der es um das einzelne Gute und Schlechte bei Menschen geht (zu welcher Art philosophischer Überlegung es auch in Verbindung stehen mag) und nicht um ewige Wesen oder unbelebte Dinge, die durch Kunst oder Natur entstanden sind, oder um Pflanzen oder Tiere.
3. Über die Auswahl der Schriftsteller (Bd. I, fol. **1ro)
Die Autoren, auf deren Zeugnisse wir zurückgreifen, sind entweder Dichter, das bedeutet, sie berichten Erzählstoffe, und Fiktion ist ihnen nicht fremd, oder sie sind Historiker und berichten die Wahrheit darüber, wie eine Sache ist oder gewesen ist. Zur ersten Klasse gehören nicht nur die, die man allgemein als Dichter bezeichnet, weil sie sich in metrisch gebundener Sprache ausdrücken (und darunter besonders die epischen Dichter, die ganze Geschichten, oder die Bühnendichter, die unter der Bezeichnung Tragödie und Komödie historische Beispiele aus dem alltäglichen Leben behandeln), sondern auch diejenigen, die in Prosa Geschichten überliefern, die mit poetischen Versatzstücken gewürzt haben. In dieser Gruppe gebührt der erste Platz, egal ob man auf den sprachlichen Ausdruck oder auf die Kunst in der Anordnung des Stoffes blickt, sicher den Aithiopika des Heliodor, eines Bischofs von Trikka. Zur zweiten Gruppe rechnen wir aber die, die entweder in zusammenhängender Rede die Taten anderer dargestellt oder zumindest Exempel wie Emblemata und Blümchen mitten aus Geschichtswerken gepflückt haben. Jene nennt man aufgrund ihrer Exzellenz Historiker, diese aber historische Rhapsoden.
4. Die Geschichte beschäftigt sich mit allen menschlichen Handlungen aus allen Zeiten (Bd. I, fol. **3vo)
[…] Nicht nur durch ihr hohes Alter, sondern auch durch ihre Mannigfaltigkeit und ihre Menge empfehlen sich Geschichtsberichte, und wie man sagt, dass die ganze Menschheit nicht nur aus den Menschen besteht, die gelebt haben, und nicht nur aus den Menschen besteht, die nun leben, und auch nicht nur aus den Menschen besteht, die dereinst leben werden, sondern aus allen zusammen, so wird dieses Theatrum (was man freilich mehr wünschen als hoffen kann) alle Taten und Leidenschaften aller Menschen, die vom Beginn der Welt bis zu ihrem Ende gelebt haben, in einem Werk versammeln und schliesslich in seiner vollendeten Gestalt jene grosse sittenrichtende Veranstaltung vor dem gerechtesten Richter nachahmen.
5. Über das Ziel und den Nutzen dieses Werkes (Bd. I, fol. ***6ro)
Sokrates, den das Orakel des Apoll für den Weisesten hielt, war der Ansicht, man müsse sich so weit mit der Geometrie beschäftigen, bis man die Ländereien in seinem Besitz von denen der Nachbarn unterscheiden könnte; und gleicherweise so weit mit der Arithmetik, dass man seine Reichtümer, Handelsgüter und Sklaven zu zählen verstehe. So sehr bezog er jede Form von Theorie auf die alltägliche Lebenspraxis; zu ihr muss man, wie das Übrige, besonders auch diese Studien in Beziehung setzen. Bereits weiter oben haben wir festgestellt, dass einzelne Beispiele Abbilder universaler Lehren sind.
Also hat die Geschichte dasselbe Ziel wie die Theorie: Teilweise trägt sie zur Wahrnehmung der Wahrheit, teilweise zum Besitz des Guten bei. Die Beispiele aus der menschlichen Geschichte, die dieses Theatrum in 29 Bänden enthält, dienen zuvörderst dem philosophischen Nachdenken, hierauf dem physischen und medizinischen, sodann dem metaphysischen bzw. theologischen, sodann dem mathematischen, dann dem mechanischen und grösstenteils ethischen, politischen oder ökonomischen Nachdenken; daher tragen die Experten auf diesen Gebieten ihren Namen, wie man sie aufgrund ihrer Kenntnis der Lehren Weise nennt. Zum zweiten dienen sie dem Handeln, insofern als diejenigen, die man mit diesen Beispielen unterrichtet hat, durch einen logischen Schluss zu ähnlichen physischen, medizinischen, mathematischen, theologischen, ethischen und mechanischen Handlungen geführt und angestachelt werden und man aufgrund dieser Handlungen sagt, sie hätten Gutes oder Böses getan. Die menschliche Geschichte trägt also beim Erkennen zur Erfahrung und beim Handeln zur Kunstfertigkeit bei. Das sind, kurz definiert, die beiden Ziele, die einen sehr grossen und breiten Nutzen mit sich bringen.
6. Der Reiz der Geschichte: die exempla als sprechende Gemälde (Bd. I, fol. ****2vo)
Zum Abschluss möchten wir zur Nützlichkeit dieses Werkes noch seinen ergötzlichen Charakter hinzufügen, da es aufgrund seiner hervorstrahlenden und bemerkenswerten Mannigfaltigkeit die Gemüter von Philologen mit einem mehr als mittelmässigen Vergnügen erfüllen kann, besonders derer, die aufgrund ihrer ernsten Beschäftigungen keine Gelegenheit zur fleissigen Lektüre von Geschichtswerken haben. Exempel verschaffen sich nämlich wie Bilder und Embleme zuerst Eingang in die menschliche Sinneswahrnehmung und sodann auch in ihren Geist; sie sind daher das, was man verständig über die Poesie des Simonides sagt: Sprechende Gemälde.
7. Über den Titel dieses Werks (Bd. I, fol. ****2vo)
Nachdem die Prinzipien dieses Werkes festgesetzt und formuliert sind, ist, wenn ich mich nicht täusche, schon klar, warum wir diese Exempel-Rhapsodie Theatrum Vitae Humanae betitelt haben. Denn wenn man nur ihr Sachthema betrachtet, enthält sie τῶν ἀνθρωπίνων θεάματα (Szenen aus dem menschlichen Leben) und ἀπὸ τῆς θέας (vom Zuschauen) hat man einst den Theatern ihren Namen gegeben, mehr noch als man auf der Basis von ἀκροάσει (Hören) die Bezeichnung ἀκροατήρια (Hörsäle) gebildet hat. Wenn man über die Übersetzung des Begriffes nachdenkt, so wird – wie man in den Theater einst vor allem szenische Gedichte von Tragikern und Komikern zur Aufführung brachte, denen Zuzuschauen und Zuzuhören dem Publikum zugleich Vergnügen bereiten und es belehren sollten – auch in unserem hier vorliegenden Werk nicht nur eine Fabel, nicht die Taten eines einzigen Volkes, sondern alles, was von der Erschaffung der Welt bis in unsere Zeit hinein geschehen ist, zwar nicht komplett dargestellt, aber es kann potentiell dargestellt werden, da die entsprechenden Überschriften schon eingesetzt sind. Und was darüber hinausgeht: Aus den antiken Schauspielen konnten nur die Anwesenden Vergnügen schöpfen; die Schauspiele, die wir aufführen, werden dagegen vielleicht bis zu unseren späten Nachkommen gelangen und ihnen grossen Nutzen und nicht weniger Vermehrung ihres Besitzes bringen (wenn meine Lieder irgendetwas vermögen). Und wie man Dramen zunächst in Akte und hierauf in Szenen unterteilt, so haben auch wir (wenn man auf die Anordnung des Stoffes und die äussere Erscheinung des Werks blickt) dieses gesamte Werk, das die allgemeingültige Erzählung des menschlichen Lebens enthält, in seine Akte, das heisst in 29 Bände, gegliedert, und diese jeweils in ihre Bücher, wie in Szenen. Bewundernswert und aufwändig war einst das Theater des Curio, doch ihm war nur kurze Dauer beschieden. Dieses unser Theater indes, das unablässig neue Personen und neue Dinge vor Augen stellt, muss man, wenn nicht für prächtiger, so dennoch vielleicht für nützlicher halten, da es seine Zuschauer mit seiner wunderbaren Mannigfaltigkeit zu erfreuen vermag und diejenigen, die nicht durch und durch böse sind, dazu anregen kann, ehrbares Handeln nachzuahmen, und wenn wir das Menschliche mit dem Göttlichen, das Unvollendete mit dem Perfekten und Absoluten vergleichen wollen, stellt es gewissermassen ein Abbild jenes schauererregenden und herbeizuwünschenden Schauspiels dar, das vor dem höchsten Richter am Tage des Jüngsten Gerichts zur Aufführung kommen muss; freilich ist es weniger als ein Schattenbild.
8. Über den Tod und seine Begleitumstände (Bd. I, Volumen secundi liber VII, p. 486-487)
Durch medizinische Instrumente. Wie
[…]
Ein Medikament, ein Klistier
Kaiser Konrad, Sohn Friedrich II. wurde nach der Einnahme Neapels durch eine List seines Bruders Manfred durch ein vergiftetes Klistier ums Leben gebracht, im Jahre des Heils 1252. Johannes Villanus, Buch 6, Kap. 45.
Durch Nadeln
Die häretischen Montanisten produzierten aus dem Blut eines einjährigen Säuglings, den sie mit Nadeln durchbohrten, ihre Eucharistie und schickten sie ihren Gefährten. Wenn der Säugling starb, war er ein Märtyrer; wenn er überlebte, hielt man ihn für einen Magier und Priester.
Durch eine Zange
Bischof Walter von Hereford in England starb an einer Verletzung seiner Kehle durch eine Zange, die er sich beim Versuch zuzog, eine Frau zu vergewaltigen. Ranulfus im 7, Buch, Kapitel 2.
Durch einen Sportdiskus
Perseus, der Sohn des Danaë und Enkel des Königs Akrisios von Argos, des Sohnes des Abas, kam nach Larissa, wohin sich Akrisios zurückgezogen hatte, weil er seinen Grossvater mütterlicherseits sehen und sich mit ihm aussöhnen wollte. Dort tötete er den Akrisios unter der Einwirkung eines widrigen Geschicks, als er, von seiner Jugendkraft und dem Ruhm des von ihm erfundenen Diskus dazu angetrieben, seine Kunst im Diskuswerfen in einer Versammlung unter Beweis stellte. Pausanias im Buch über Korinth.
Auf der Insel Ägina befindet sich neben dem Grabmonument des Aiakos der von einer Ummauerung umgebene Grabhügel seines Sohnes Phokos. Auf dem Grab liegt ein rauer, ungeschliffener Stein, den seine Brüder, die ihn zum Fünfkampf aufgefordert hatten, als Diskus benutzten. Und mit demselben Stein soll Peleus, als er den Stein im Rahmen des Spiels zu werfen hatte, auf Anregung seiner Mutter, der Stiefmutter des Phokos, den Phokos absichtlich durchbohrt und getötet haben, weil sein Vater den Phokos allen anderen Brüdern vorzog. Pausanias in dem Buch über Korinth.
Durch Henkerinstrumente. Wie
Wüstendornen und Stechdisteln
Die Herren von Sukkot wurden von Gideon mit Wüstendornen und Stechdisteln niedergemetzelt, weil sie seine Soldaten bei der Verfolgung der Midianiter nicht mit Brot hatten versorgen wollen. Buch der Richter, Kapitel 8.
Ruten, Peitschen
Diejenigen, die die Schwestern Oculata (Vestalinnen), Varonilla und Cornelia, verführt hatten, wurden unter Kaiser Domitian im Comitium mit Ruten zu Tode geprügelt. Sueton.
Der pontificische Schreiber L. Caninius wurde mit Geisselhieben getötet, nachdem man ihn der Unzucht mit den vestalischen Jungfrauen Opimia und Floronia nachgewiesen hatte. Sabellicus im zweiten Buch der fünften Enneade; gemäss Plutarch, Leben des Fabius.
Im antiken Griechenland war der Rhapsode ein Künstler, der von einem anderen verfassten Werke deklamierte. Der Rhapsodenhistoriker (Zwinger selbst) ist also derjenige, der Auszüge aus historischen Werken, die von anderen verfasst wurden, nach seinem Belieben wiedergibt (siehe auch unseren letzten Auszug, in dem Zwinger das Theatrum als exemplorum rhapsodiam, als «Rhapsodie der Beispiele» bezeichnet). Zum rhapsodischen Historiker siehe insbesondere Blair (2005), 275-278, Kap. «History and Rhapsody», die sich insbesondere auf die Passage bezieht, in der Zwinger die jeweilige Rolle des Historikers und des rhapsodischen Historikers definiert (fol. ****2ro).
Caius Scribonius Curio (Curion; ca. 90-49 v. Chr.), der unter anderem Volkstribun war (50 v. Chr.). Um seinen verstorbenen Vater zu ehren, liess er 53 n. Chr. in Rom zwei hölzerne Theater errichten, die mit Hilfe von Scharnieren zu einem Amphitheater verbunden werden konnten. (Plin. nat. 36,116-120).
In Wirklichkeit 1254. Der 1228 geborene Konrad IV. war Deutscher König, König von Jerusalem, Herzog von Schwaben und König von Sizilien.
Pausanias 2, 16, 2 (das zweite Buch des Pausanias behandelt v. a. Korinth).
M. A. C. Sabellicus, Rhapsodiae historiarum Enneadum […] pars prima, Paris, Badin und Petit, 1513 (Erstausgabe 1598), Enn. 5, Buch 2, fol. Siiiro. Caninius ist die von Sabellicus verwendete Namensform, jedenfalls in der Ausgabe von 1513, wie auch im Fall des Livius (s. die folgende Anm.).
Plutarch, Leben des Fabius Maximus 18, 3, der nur den Tod der beiden Vestalinnen erwähnt; die eine wurde lebendig begraben, die andere gab sich selbst den Tod. Livius (22,57,2-3) dagegen erzählt die Geschichte detailliert; er nennt die Namen der beiden Vestalinnen, Opimia und Floronia, sowie den des pontificischen Schreibers Lucius Cantilius.