Vorrede des Arztes Conrad Gessner an die trefflichen Leser über die Nützlichkeit und Exzellenz der griechischen Sprache in jeder Gattung von Studien
Traduction (Allemand)
Traduction: Clemens Schlip (französischer Originaltext der Anmerkungen von David Amherdt)
1. Einleitung
Da ich im Begriffe stehe, eine Vorrede zu halten zu diesem Lexikonband, der eine sehr reichhaltige Vorratskammer der griechischen Sprache ist, und dies ganz besonders nun, da er so oft von vielen und hervorragend gelehrten Männern bereichert, gereinigt und durch die einzigartige Sorgfalt des Hieronymus Curio gedruckt worden ist: so möge er hinaus in die Hände der Lernbegierigen gehen; ich habe es für der Mühe wert gehalten, den Leser allgemein hinsichtlich des Gebrauchs und der Würde dieser Sprache zu ermahnen, weil es auch jetzt nicht wenige gibt, auch unter jenen Menschen, die etwas hermachen wollen, von denen sie entweder missachtet oder offen als unnütz angeklagt wird. Von allen Sprachen also, die es über den ganzen Erdkreis verbreitet so viele und verschiedenartige gibt, enthalten nur Griechisch und Latein vor den anderen jede Art von Weisheit, ich spreche von göttlicher und menschlicher, aber nicht mit der gleichen Kraft. Denn wie die Sonne unter den übrigen Gestirnen hervorragt und hierauf der Mond sich hervorhebt, der seinen Glanz von der Sonne borgt, so ist das Griechische die hervorragendste Sprache, und dann folgt das Lateinische, das dennoch von jenem nimmt, was es an Gutem besitzt; die übrigen Sprachen sind gleichsam mindere Gestirne.
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2. Das Pfingstwunder: ein Aufruf zum Erlernen der biblischen Sprachen
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Es ist gewiss, dass einst auf die Apostel (wie es bei Lukas in der Apostelgeschichte berichtet wird) Flammenzungen herabgeschickt worden sind, und wie eine Art Feuer auf die Einzelnen verstreut wurden und sie daher die Sprachen aller erdenklichen Völker gesprochen und verstanden haben; ich interpretiere, dass das nicht nur deshalb geschehen ist, damit sie allen menschlichen Nationen das Evangelium verkündigen können, und damit angezeigt werde, dass keinem Volke die Glaubenslehre nicht mitgeteilt werden sollte, das heisst, dass sie allen Sterblichen in gleicher Weise mitgeteilt werden sollte, auch wenn es hauptsächlich aus diesem Grunde geschah; sondern auch, damit die Sprachenkunde uns anvertraut werde, um die Heilige Schrift, ihre Ausdrücke und die natürliche, oder vielmehr: göttliche Kraft ihrer einzelnen Worte umfassender zu verstehen und für andere auszudeuten.
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3. Das Griechische ist unverzichtbar für das Studium der Heiligen Schrift
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Aber bis hierher sei die Rede von der Notwendigkeit der Sprachen, vorzüglich aber der Griechischen, für die Heilige Schrift: Ich übergehe nämlich die Zeugnisse gelehrter und frommer Menschen, zumal des heiligen Hieronymus und des Augustinus, die beredt verkünden, dass die Kenntnis der Sprachen notwendig sei. Wenn aber die griechische Sprache für die heiligen Wissenschaften und die Kirche notwendig ist, werden sich alle Lerneifrigen damit befassen müssen: Denn jeder von uns ist nicht für sich, sondern für die Kirche geboren, und wir müssen alle Tag und Nacht über das Gesetz des Herrn nachsinnen, welcher Kunst wir uns auch endlich verpflichtet haben, und dies kann ohne Sprachkenntnis nicht erfolgreich geschehen. Es ist also hinreichend klar, wie wichtig der Nutzen der griechischen Sprache für alle göttlichen und menschlichen Studien ist, zum Teil, weil sie ohne sie nicht zur Vollendung gelangen können, zum Teil, weil sie nicht ohne jene Künste bestehen können, die viel früher die griechische Sprache erforderten.
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4. Die Bedeutung Athens
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Aber nicht nur mit Worten wurde die Gelehrsamkeit der Griechen von den Römern gelobt, sondern sie sie schickten ihre Kinder nach Griechenland, besonders nach Athen, damit sie dort die geistige Kultur in sich aufnähmen, wo die Philosophie besonders florierte. Deshalb haben manche Griechen Athen auch das Museion Griechenlands genannt. Pindar nannte es ἔρεισμα, das bedeutet «Bollwerk»; Thukydides nannte es ἑλλάδος ἑλλάδα, das bedeutet «das Griechenland Griechenlands» Pythius nannte es «Herd und Stadthaus der Griechen.»
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5. Das Griechische wird sogar von Barbaren verwendet (fol. A6vo)
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Es steht nämlich fest, dass die Druiden, die weisen Männer der Gallier, in ihren öffentlichen und privaten Verzeichnissen die griechische Schrift gebraucht haben. Und in den Geschichtsbüchern wird allgemein bekanntgemacht, dass zur Römerzeit im Lager der Helvetier griechisch beschriftete Schreibtafeln gefunden wurden und zu Caesar gebracht wurden; auf diesen Tafeln war listenmässig erfasst, wie viele von ihnen ihre Heimat verlassen hatten, wie viele waffenfähig waren, und ebenso gesondert die Anzahl der Knaben, Greise und Frauen. Es wird berichtet, dass auch die Brahmanen (von denen besonders jener Kalanos berühmt war) und die Gymnosophisten, die weisen Männer der Inder, sie [sc. die griechische Schrift] verwendet haben, und der indische König Phraates sie beherrschte.
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6. Das Griechische, die humanistische Sprache par excellence?
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Aber abgesehen von den unzähligen Nützlichkeiten eignet der griechischen Sprache auch ein gewisses sinnliches Vergnügen, durch das rauere Gemüter besänftigt, milder gestimmt und zur Menschlichkeit zurückgeführt, mildere Gemüter aber emotional sehr aufgerührt, erfreut und zurückgehalten werden können. Die ganze Sprache nämlich ist passend, elegant, ausdrucksreich, festlich und gefällig, was wir nicht nur bei den Dichtern, sondern auch bei den übrigen Schriftstellern in Verbindung mit einer grossen Süsse erleben.
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7. Seine eigene Vorliebe für das Griechische
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Ich jedenfalls würde, wenn ich nur für mich und die Musen leben müsste und mir die Wahl gelassen würde, die eine Sprache ohne die andere zu wählen, das Griechische dem Lateinischen ohne Zögern vorziehen, weil mich seine Lektüre in der Einsamkeit mehr erfreuen würde und ich davon in jeder Philosophie einen grösseren Fortschritt erwarten würde. Denn was die allgemeine Konversation unter den Menschen angeht, so besteht für niemanden ein Zweifel, dass man das Lateinische vorziehen müsste, wenn man auf eine von den beiden verzichten müsste. Aber am besten wird immer der handeln, der beide miteinander verbindet; so nämlich wird die schönste Mischung von Gelehrsamkeit entstehen.
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8. Schlussfolgerung
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Was soll ich noch viele Worte machen? Wir wollen endlich unsere Rede beschliessen und Ruhe finden in der allgemeinen Ansicht der Gelehrten, die heute leben und derer, die einst gelebt haben, sowohl bei den ausserhalb wohnenden Völkern als auch bei den Römern: Es kommen nämlich alle darin überein, dass die griechische Sprache eine reich ausgestattete Vorratskammer der Weisheit ist und gleichsam ein Meer des Guten, aus dem man im Übermass die Methode schöpfen kann, alle Künste und das ganzen Altertum und die ganze Natur zu überblicken (in diesen dreien liegt nämlich die Kraft aller menschlichen Weisheit). Daher bekräftigt man auch mit einem Munde, dass man Beispiele für Gelehrsamkeit von den Griechen fordern muss, Beispiele für Tugenden von den Römern. Erkennt also an, ihr Jugendlichen, dass die griechische Sprache eine Gottesgabe ist und ein sehr erfolgreiches Instrument, durch dessen Gebrauch die göttlichen und menschlichen Studien viel besser und vollkommener gemacht werden. Lebt wohl und wälzt die griechischen Buchexemplare mit Eurer Hand bei Tag und bei Nacht.
Es handelt sich um den Drucker des Bandes. Er war Sohn des Buchdruckers Valentin Curio und wirkte von 1540 bis zu seinem Pesttod 1564 als Buchdrucker in Basel. S. zu ihm besonders J. Benzing, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet, Wiesbaden, Otto Harrassowitz, 1963, 37, Anm. 30.