Gedicht über die Entstehung des Kartäuserordens
Heinrich Glarean
Einführung: Clemens Schlip (traduction française Kevin Bovier et David Amherdt). Version: 10.02.2023.
Entstehung: vor/um 1515.
Handschrift: Clm 28325, fol. 66ro-66vo, 71ro.
Ausgaben: im Appendix zu François Dupuy, Vita beati Brunonis confessoris primi institutoris ordinis Carthusiensis, [Basel, Froben], s. d., fol. i4vo-i5vo; D. Dionysii a Rickel Carthusiani, de perfecto mundi contemptu, ut pius ita utilissimus heptalogus: cuius opuscula versa pagella declarabit, Köln, M. von Neuss, 1530, fol. 201vo-203ro; D. Dionysii carthusiani in evangelium Ioannis enarratio, Paris, C. Guillard, 1542, fol. 282vo-283vo (= fol. Niivo-Niiivo); Paris, Oudin Petit, 1554, fol. Niivo-Niiivo; Ganz (2007), 53-56 (mit deutscher Übersetzung; s. Bibliographie).
Metrum: elegische Disticha.
Das Gedicht schildert die Ursprünge des Kartäuserordens, das heisst dessen Begründung durch den heiligen Bruno von Köln (ca. 1030-1101) und die damit verbundene Einrichtung der ersten Kartause, die wie der Orden ihren Namen nach der Gebirgskette Chartreuse nahe Grenoble erhielt (dieses Mutterkloster, La Grande Chartreuse/die Grosse Kartause, existiert noch heute). Das Gedicht entstand im zeitlichen Umfeld der ersten gekürzten Edition der aus 178 tituli bestehenden Totenrolle (Rotulus) Brunos aus den Jahren 1101-1103. Edition und Gedicht erschienen 1515 in Basel bei Froben im Appendix zu der von François Dupuy (1450-1521), dem Generalprior des Kartäuserordens, verfassten Vita Brunonis. Diese Edition stellt heute die älteste erhaltene Überlieferung des Rotulus dar. Sie entstand wahrscheinlich im Kontext der Entscheidung Leos X. von 1514, die Verehrung Brunos im Rahmen des Ordens zu autorisieren.
Glarean folgt in den Grundzügen seiner Erzählung relativ eng den 1510 in Basel erschienen Statuta ordinis, in denen der Bruno-Legende eine anschaulich gestaltete farbige Bildseite unter der Überschrift origo ordinis cartusiensis gewidmet ist. Diese Bildseite ist auch – allerdings nur schwarz-weiss, ohne Überschrift und ohne erläuternde Bildunterschriften – Dupuys um 1515 in Basel erschienener Bruno-Vita vorangestellt, in deren Appendix Glareans Kartäusergedicht erstveröffentlicht wurde. Man könnte sich zudem fragen, ob nicht auch Dupuys Vita Glarean als Vorlage gedient hat? Das mag nicht ausgeschlossen sein, es fallen aber schon bei oberflächlicher Betrachtung Punkte auf, in denen Glarean zwar mit der Bildergeschichte, aber nicht mit Dupuy übereinstimmt.
Schon die Anrufung der für epische Dichtung zuständigen Muse Kalliope zu Beginn (V. 1-2) macht deutlich, dass es sich bei dem Gedicht der Gattung nach um ein Epyllion handelt. Dieses besitzt einen aitiologischen Charakter, indem es die Existenz des Kartäuserordens durch die ihr zugrundeliegenden historischen Ereignisse begründen will.
Eine bemerkenswerte persönliche Zutat Glareans ist die der Leichenwundererzählung vorgeschaltete kurze Beschreibung von Paris und seine lobende Erwähnung der dortigen Intellektuellen (3-6). Noch vor seinem eigenen Parisaufenthalt (1517-1522) lässt er so seine Wertschätzung für das dortige geistige Leben erkennen.
Der erste Hauptteil des Gedichts (V. 3-40) ist unter literaturgeschichtlichen Gesichtspunkten besonders bemerkenswert. Hier greift Glarean die unhistorische Legende vom Wunder der redenden Leiche und der dadurch ausgelösten Bekehrung Brunos zu einem christlich-asketischen Lebensstil auf. Die Legende besagt, ein zu Lebzeiten hoch angesehener Pariser Gelehrter habe nach seinem Tode während seiner Aufbahrung dreimal das Wort an die Anwesenden gerichtet und ihnen dabei nacheinander zunächst seine Anklage vor Gottes Gericht, dann seinen Schuldspruch und schliesslich seine Verdammung mitgeteilt. Bruno sei als Augenzeuge von diesem Geschehen innerlich erschüttert worden. Auch Dupuys Vita greift diese Legende auf, der noch ein langes und glanzvolles Fortleben beschieden sein sollte.
Die Gesamtgliederung des Gedichts ist folgende:
1-2: Anrufung der Muse Kalliope
3-40: Das Wunder der redenden Leiche zu Paris
3-6: Kurze Parisbeschreibung
7-14: Tod und Begräbnis des gelehrten Mannes
15-40: Das Wunder der redenden Leiche
15-16: Erste Äusserung der redenden Leiche
17-24: Reaktion der Pariser
25-28: Zweite Äusserung der redenden Leiche
29-36: Reaktion der Pariser
37-38: Dritte Äusserung der redenden Leiche
39-40: Allgemeine Erschütterung
41-58: Bruno und seine Gefährten erwählen die Einsamkeit
41-44: Flucht in die Einsamkeit
45-56: Ratschläge des Einsiedlers
57-58: Religiöse Entflammung der Gefährten
59-98: Gründung der Grossen Kartause
59-68: Reise und Ortswahl
69-74: Prophetischer Traum des Bischofs Hugo
75-92: Dialog Bruno-Hugo
75-84: Bruno äussert sein Anliegen
85-86: Hugo erkennt die Erfüllung seines prophetischen Traums
87-92: Hugo gewährt das Anliegen Brunos
93-98: Aufbau der Grossen Kartause
99-100: Zusammenfassung und Verabschiedung der Muse
Bibliographie
Blüm, H. M., «Ursprung und Geschichte der Ordensstatuten der Kartäuser», in: M. Zadnikar (Hg.), Die Kartäuser. Der Orden der schweigenden Mönche, Köln, Wienand, 1983, 38-50.
Collins, D. J., «Background and Production of the Early Modern Print», in: Beyer H./Signori, G./Steckel, S., Bruno the Carthusian and his Mortuary Roll. Studies, Texts and Translations, Turnhout, Brepols, 2014, 11-23.
Ganz, J., «Die Bibliothek der Kartause Ittingen: Habent sua fata libelli», in: Liber Amicorum James Hogg. Kartäuserforschung 1970-2006, Bd. 1 (Analecta Cartusiana 210), Salzburg, Institut für Anglistik und Amerikanistik, Universität Salzburg, 2007, 41-56.
Signori, G., «Introduction: The Rotulus», in: Beyer H./Signori, G./Steckel, S. (Hgg.), Bruno the Carthusian and his Mortuary Roll. Studies, Texts and Translations, Turnhout, Brepols, 2014, 3-10.
Wienand, A., «Bruno, ein Sohn des ‘heiligen Köln’ – Eine Kurzbiographie», in: M. Zadnikar (Hg.), Die Kartäuser. Der Orden der schweigenden Mönche, Köln, Wienand, 1983, 203-214.