Paraphrasen zum Hymnus Omni die dic Mariae
Johannes Barzaeus
Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt). Version: 05.08.2025
Entstehungszeitraum: Teile des Omni die dic Mariae entstanden vor 1648, bis zur zweiten Ausgabe von 1651 kamen weitere Partien hinzu (vgl. die untenstehende Einführung).
Ausgaben: Omni Die Dic Mariae Mea Laudes Anima Hymnus metrice redditus a Ioanne Barzaeo Canonico Clarowerdensi, [Luzern, ohne Druckerangabe], 1651; es handelt sich dabei um eine erweiterte und veränderte Neuauflage der Erstausgabe Hymnus Beatissimae Virginis Genitricis Dei Mariae, Quem A Regio Polonorum Principe Sancto Casimiro Eleganti Prosa Compositum Versibus Latino-Germanicis Conscripsit Ioannes Barzaeus, Luzern, Hautt, 1648. Wir präsentieren den Text gemäss der Ausgabe von 1651.
Metrik: Das Werk ist metrisch vielseitig; zu Einzelheiten s. unten in der Einführung.
Einen Gesamtüberblick zu Leben und Werk des Johannes Barzaeus bieten wir auf diesem Portal an anderer Stelle. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf sein Werk Omni die dic Mariae. Dieses erschien erstmals 1648 und drei Jahre später, 1651, erneut und in erweiterter Gestalt, beide Male in Luzern. Die Reaktionen auf die erste Ausgabe scheinen also positiv genug ausgefallen zu sein, um den Dichter nicht von einer Weiterbeschäftigung mit dem Stoff abzubringen.
Der mittelalterliche Hymnus Omni die dic Mariae gilt heute allgemein als Schöpfung des in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts lebenden Benediktiners Bernhard von Morlas (um 1140, manchmal auch fälschlich von Morlaix genannt) und stammt aus dessen umfangreichen Werk Mariale. Barzaeus und seine Zeitgenossen hielten das Gedicht allerdings für ein Werk des als Heiligen verehrten Kasimir von Litauen (auch: von Polen; 1458-1484). Das hartnäckige Missverständnis resultierte wohl daraus, dass man bei einer Graböffnung im Umfeld der öffentlichen Heiligsprechung Kasimirs im Jahr 1602 in seinem Sarg neben dem Leichnam auch einen Zettel mit dem Text des Hymnus vorfand. Heinrich Bone erstellte im 19. Jahrhundert auf Basis barocker Vorarbeiten eine 16-strophige deutsche Nachdichtung, von der man mehrere Strophen bis heute in deutschsprachigen katholischen Gesangbüchern findet.
Wie Barzaeus mit dem Hymnus bekannt wurde, erfährt man aus seinen eigenen Äusserungen (an denen zu zweifeln es unserer Ansicht nach keinen vernünftigen Grund gibt). In seiner auf den 19. März 1648 (Fest des hl. Joseph) datierten Vorrede zur ersten Ausgabe seines Werkes erklärt Barzaeus (fol. A 2ro-vo), er sei im Oktober 1647 bei einem Besuch in Solothurn mit einer von einem dortigen Bürger erstellten deutschen Übersetzung des Hymnus Omni die dic Mariae bekannt geworden, die ihm gefallen und ihn angeregt habe, sich selbst in den Wintermonaten 1647/48 poetisch mit dem Hymnus auseinanderzusetzen, das heisst diesen zu paraphrasieren. Zwischen dieser Vorrede und der poetischen Bearbeitung des Omni die dic Mariae fügt er noch eine Ode auf die Jungfrau Maria ein (Ad Beatissimam Virginem Mariam Ode). Die erwähnte erste Ausgabe von 1648 ist den Solothurner Schultheissen Mauritz Wagner (1597-1653) und Johann Schwaller von Ammannsegg (1589/90-1652) – beide, besonders letzterer, Förderer kirchlicher Angelegenheiten – gewidmet; die zweite Ausgabe von 1651 dem Solothurner Stiftsprobst und lokalen Repräsentanten des Lausanner Bischofs im Solothurner Teil dieses Bistums, Johannes Eichmüller. Barzaeus wandte sich also in beiden Fällen selbstbewusst jeweils an die lokale (weltliche, bzw. geistliche) Elite. Eichmüller war im Übrigen auch als bischöflicher Vertreter für ihn kein Vorgesetzter, da das Stift Schönenwerd zum Bistum Konstanz gehörte (die dritte auf Solothurner Boden präsente Diözese war übrigens Basel).
In der zweiten Ausgabe von 1651 gibt es ein Frontispiz mit Titelbild, welches alleine schon zur Meditation anregen kann. Darauf folgt die bereits erwähnte Widmungsvorrede an Johannes Eichmüller (p. 1-5), die wir auf diesem Portal präsentieren. In der Ausgabe von 1651 schliesst sich daran auf p. 6-10 ein Anagramma an (letztlich nur ein anderer Name für Epigramm) betiteltes und aus 84 elegischen Distichen bestehendes Gedicht auf Maria als Helvetiorum Patrona (wie sie im Titel genannt wird) und vom katholischen Volk verehrten Herrin der Wallfahrtsstätten Einsiedeln, Wertenstein, Hergiswald, Gormund, Oberdorf und Mariastein. Anschliessend folgen ein Programma ad Lectorem (p. 11-12), das wir in unserer Auswahl präsentieren, ein kurzes Syncharisma Poeticum (p. 12; Anagramm bzw. Epigramm) für Daniel König, den Propst von Schönenwerd, sowie Gedichte anderer Autoren (p. 13-14) auf das vorliegende Werk des Barzaeus von Werner Gotardus (Plebanus Solodorensis) und Michael Furrer aus Sursee, Kaplan am St. Ursusstift.
Im Zentrum beider Ausgaben, der von 1648 und der von 1651, steht die poetische Paraphrase des Hymnus Omni die dic Mariae in verschiedenen lateinischen Versmassen, wobei den Paraphrasen der einzelnen Strophen jeweils die Originalstrophe und eine deutsche Übersetzung derselben vorangestellt ist (in der von uns für die Präsentation herangezogenen Edition von 1651: p. 15-130; 1648: «0»-64). Zum besseren Verständnis lohnt sich eine genauere Beschreibung ihres Aufbaus: Auf eine jeweils acht Verse umfassende Strophe des in vierfüssigen Trochäen verfassten und gereimten mittelalterlichen Hymnus (Binnenreime) folgt eine ebenfalls acht deutsche Übersetzung im jambischen Versmass, wobei Vierheber mit weiblicher Kadenz mit Dreihebern mit weiblicher Kadenz abwechseln. In der Edition von 1651 hat Barzaeus übrigens eine andere deutsche Übersetzung verwendet als in der von 1648; die Übersetzung von 1651 ist deutlich näher am lateinischen Text. Im Original sind die deutschen Passagen in beiden Editionen in Fraktur gedruckt und heben sich dadurch auch typographisch von der Antiqua des lateinischen Textes ab. Darauf folgt eine ebenfalls acht Verse umfassende und gereimte (Schema abab cdcd) Paraphrase des Stropheninhalts in Jamben (abwechselnd vier- und dreihebig), anschliessend vier elegische Distichen und acht Hendekasyllaben. Nach vier weiteren elegischen Distichen ist in der Erstausgabe von 1648 Schluss. In der erweiterten Ausgabe von 1651 folgen danach noch drei sapphische Strophen, an die sich die zwei asklepiadeische Strophen (Asclepiadeum alterum) und ein Skazon (acht reimlose Verse in Hinkjamben). Den Abschluss bilden vier elegische Distichen. Dieses Muster wird für jede Strophe des Hymnus, insgesamt dreissigmal, wiederholt. Abgesehen von den Jamben sind diese Paraphrasen in der Regel reimlos, allerdings gibt es auch Ausnahmen, ohne dass sich dabei eine Systematik erkennen liesse. Wir präsentieren die Paraphrase der ersten Strophe des Hymnus gemäss der Ausgabe von 1651. Es fällt dabei auf, dass der Dichter an verschiedenen Stellen zu erkennen gibt, welches Metrum er gerade verwendet: Sappho (d. h. die sapphische Strophe), Elfsilbler und Skazon (Hinkjamben) werden direkt angesprochen und dazu ermuntert, am Lob der Gottesmutter mitzuwirken.
In der Ausgabe von 1651 folgt unmittelbar auf die Paraphrase der 30 Strophen ein sangbarer Abdruck der verwendeten deutschen Übersetzung (mit Noten; p. 131-132), darauf eine Ode (Asclepiadeum quartum) auf den heiligen Kasimir als Lobpreiser Mariens (p. 133-134) und eine umfangreiche, in sechs Kapitel (bzw. Einzelcarmina) aufgeteilte, Hexameterparaphrase (Hymnus Casimiromarianus Carmine Hexametro productus; p. 135-197); letztere existierte schon in der Ausgabe von 1648 (dort p. 65-114) und folgte dort direkt auf die Paraphrase. 1651 schliesst sich daran eine Coronis Parthenia an (p. 197-199), ein Lobgedicht in elegischen Distichen auf das Marienbild der Kirche in Schönenwerd, also an Barzaeus’ eigener Wirkungsstätte. Am Ende steht 1651, ebenfalls in elegischen Distichen, eine Protestatio Auctoris (p. 199-201), in der er sein vorliegendes Werk der Autorität der Kirche unterstellt (für den Fall, dass er sich darin irgendwie in dogmatischer oder stilistischer Hinsicht verfehlt haben solle) und seine Vaterlands- und Friedensliebe ebenso formuliert wie seine Glaubens- und Kirchentreue. In der Erstausgabe von 1648 folgten auf die Hexameterparaphrase dagegen noch kurze Lobgedichte von Michael Furrer aus Sursee (seinem Neffen), damals noch Philosophiestudent in Luzern, und Ursus Ritter, Kandidat der Philosophie und Moraltheologie in Werden.
Barzaeus’ Werk stellt eine Verknüpfung von Paraphrase und interpretierender Amplifikation dar. Letztlich handelt es sich um eine Art poetischer Meditation. Man kann davon ausgehen, dass Barzaeus sich an jesuitischen Vorbildern orientierte, doch eine genaue Spurensuche steht in dieser Frage noch aus: Hermann Wiegand verweist etwa auf die 1648 erschienene Olympia Sacra, in der mehrere jesuitische Dichter lateinische Paraphrasen auf (ausnahmsweise deutsche) Verse ihres als Poeten ungleich berühmteren Ordensbruders Jacob Balde zu Ehren der Gottesmutter Maria vorlegen. Wir unsererseits möchten auf Jacob Baldes Werk De vanitate mundi von 1638 hinweisen, das unserer Ansicht nach noch stärkere strukturelle Ähnlichkeiten mit dem Werk des Barzaeus aufweist: Auch dort werden lateinische Verse zunächst deutsch nachgedichtet und dann auf Lateinisch in verschiedenen Versmassen paraphrasiert (u. a. gibt es dort ebenfalls Hinkjamben, wie bei Barzaeus und anders als in Olympia Sacra). Aber derartige Vorschläge müssen bis zu einem gewissen Grad notwendigerweise assoziativ bleiben, und es ist immer auch mit gemeinsamen Vorbildern zu richten. Die poetischen Omni die dic Mariae-Paraphrasen des Barzaeus gehören zu einer Textgattung religiöser Dichtung, die mit Blick auf das 17. Jahrhundert bislang schlecht erforscht ist.
Auch zur Rezeptionsgeschichte des Werkes lässt sich, abgesehen von seinem Vorhandensein in diversen Bibliotheken, derzeit wenig sagen. Ein bezeichnendes Detail ist vielleicht, dass der anonyme Verfasser des noch heute wichtigen biobibliographischen Artikels im Solothurner Wochenblatt von 1821 diesem Werk, anders als Barzaeus’ Schweizer Heldenbriefen, wenig abgewinnen konnte und es als «Mönchspfeffer» abqualifizierte. Dass er mit diesem Urteil, in dem vielleicht ein bestimmter Typ der Vulgäraufklärung des 18. Jahrhunderts nachschwingt, der eminenten intellektuellen und sprachkünstlerischen Leistung des Barzaeus in seinem Omni die dic Mariae nicht gerecht wird, dürften die Präsentation dieses Textes auf unserem Portal und vielleicht auch schon die obenstehende Einführung hinreichend deutlich machen.
Bibliographie
[Anonymus], «Lebensumriß des Dichters Johannes Barzäus», Solothurnisches Wochenblatt vom 21. April 1821, 153-169.
Dreves, G. M., «Bernhard von Morlas, Mönch von Cluny, um 1140», in: Ders.: Ein Jahrtausend lateinischer Hymnendichtung. Erster Teil. Hymnen bekannter Verfasser, Leipzig, O. R. Reisland, 1909, 217-218 (zugänglich auch hier: http://hymnarium.de/vitae/163-bernhard-von-morlas; letzter Aufruf am 25.04.2025).
Egger, E., Joannis Barzaei Heroum Helvetiorum Epistolae (1657). Untersuchung zur Erforschung der neulateinischen Epik, Diss. Freiburg i. Ü., 1947.
Marti-Weissenbach, K., «Bärtschi, Johann», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 28.03.2001, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/025836/2001-03-28/.
Schmidlin, L., «Die Solothurner Schriftsteller im 17. Jahrhundert», Zeitschrift für Schweizer Kirchengeschichte 6 (1912), 1-26, 116-138 und 291-304, hier: 122-126.
Wiegand, H., «Johannes Barzaeus», Verfasserlexikon – Frühe Neuzeit in Deutschland 1570-1620 1 (2019), 470-477 (open access: https://www.degruyterbrill.com/database/VDBO/entry/vdbo.vl17.B09/html).
Kasimir wurde am 3. Oktober 1458 als zweiter Sohn des polnischen Königs Kasimir IV. geboren. 1471 wurde er zum König von Ungarn gewählt, konnte sich aber nicht gegen Matthias Corvinus durchsetzen. 1483 wurde er dessen Statthalter in Wilna. Er starb am 4. März 1484 in Grodno. Der grosse Marienverehrer mit tadellosem Lebenswandel wurde schon 1521 durch Leo X. heiliggesprochen, diese Kanonisierung wurde aber erst 1602 von Clemens VIII. öffentlich bekanntgegeben und durch eine Bulle bestätigt. S. zu ihm (sehr rudimentär) W. Grosch, «Kasimierz v. Polen», Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (1992), 1202; ausführlicher: S. Suziedélis, Der heilige Casimir. 1458-1484. Zum Gedächtnis seines 500. Todestages, hg. von C. Senkus im Auftrag des Komitees zum Jubiläumsjahr des heiligen Casimir, Stein am Rhein, Christiana, 1984. Aufschlussreich zu den Hintergründen von Kasmirs Biographie, Kanonisierung und seiner Verehrung im 17. Jahrhundert auch P. M. Ryczkowski, «The Triumph of the Saint: St Casimir Jagiellon and Militant Motifs in Baroque Hagiographical Poetry», in: J. Glomski/G. Manuwald/A. Taylor (Hgg.), Baroque Latinity. Studies in the Neo-Latin Literature of the European Baroque, London u. a., Bloomsbury, 2023, 51-67, hier: 51-53.