Chronik
Gaspard Bérody
Einführung: Anne Andenmatten (deutsche Übersetzung: Clemens Schlip). Version du 30.06.2025.
Entstehungszeitraum: für das Gesamtwerk die Jahre 1610-1643; für die ausgewählten Passagen Oktober 1635 und Mai 1636.
Handschrift: AASM DIV 13/0/1 fol. 31vo-32ro, 36vo-38ro. Die Handschrift trägt folgenden Titel: Memorabilium rerum quaedam monimenta a me Gasparo Berodo Agaunensis gymnasii rectore expressa atque annotata annis seriatim hic inde sequentibus.
Ausgabe: P. Bourban (Hg.), Chronique de Gaspard Bérody. Le Mystère de saint Maurice et de la Légion Thébéenne, Fribourg, Impr. catholique suisse, 1894, 143, 147-148.
Das Leben des Gaspard Bérody
Gaspard Bérody (ca. 1585-1646) ist das dritte Kind von Jean-François Bérody, einem Notar und Bürger von Saint-Maurice, und Françoise Christini, dessen dritter Ehefrau. Wie sein Vater übt Gaspard zunächst den Beruf des Notars aus. Danach wird er Schulmeister und schliesslich, 1610, Rektor des Kollegs oder Gymnasiums von Saint-Maurice. Dort legt er grossen Eifer an den Tag, um seinen Schülern eine gute Ausbildung zu ermöglichen, indem er geistliche Theaterstücke verfasst. So schreibt er 1609 ein Drama in fünf Akten in lateinischer Sprache über das Martyrium des heiligen Mauritius und der Thebäischen Legion, und 1612 eine Tragikomödie, die sich mit den verdorbenen Sitten Hannibals und dem Krieg zwischen Mars und Apollo befasst. Im Jahr 1613 wird anlässlich seiner Hochzeit eine geistliche Tragikomödie über die Hochzeit zu Kana aufgeführt. Das Werk Mystère de Saint-Maurice et de la Légion Thébéenne bzw. Thébaïde sacrée wird 1618 in Freiburg gedruckt und am 16. August 1620 in Saint-Maurice aufgeführt. Das Thema ähnelt dem lateinischen Stück von 1609 über das Leben des heiligen Mauritius und seiner Gefährten, aber das 1618 gedruckte Stück ist in französischen Versen verfasst. 1632 verfasst er ein Drama in fünf Akten über die Geschichte des heiligen Sigismund und seiner Söhne und lässt es auf der öffentlichen Strasse vor dem Saint-Jacques-Hospital aufführen. Bérody inszeniert und organisiert gross angelegte Theateraufführungen, um die Jugend zu erbauen, die Tugend und Frömmigkeit nicht nur seiner Studenten, sondern der gesamten Stadtbevölkerung zu fördern, und gleichzeitig um den jungen Leuten eine Gelegenheit zu bieten, sich in der Redekunst zu üben und ihre Latein- und Französischkenntnisse zu vervollkommnen. Die Aufführung vom 16. August 1620 wird in der lateinischen Chronik, die Gaspard Bérody von 1610 bis 1643 führte, ausführlich beschrieben. Er listet die 188 Schauspieler auf, von denen die meisten Domherren, Notare und Einwohner von Saint-Maurice waren, darunter viele junge Leute. Ebenso zählt er die wichtigsten Zuschauer auf, beschreibt den Ort der Aufführung, im Obstgarten der Abtei von Saint-Maurice «en Chabloz», sowie die beeindruckende Dauer, von 10 Uhr morgens bis 4 Uhr nachmittags.
Wie bereits erwähnt, führt Bérody ab 1610 bis 1643 eine lateinische Chronik, in der er die wichtigsten Ereignisse in der Stadt Saint-Maurice und den umliegenden Orten festhält. Er vermerkt darin zahlreiche Todesfälle, wodurch wir die Auswirkungen der Pestepidemien abschätzen können. Er berichtet genau (und auch mit einer gewissen Angst) über die Ausbreitung der Krankheit in Saint-Maurice, im ganzen Wallis und in den Nachbarregionen. Er berichtet von aussergewöhnlichen meteorologischen oder astronomischen Phänomenen, wie dem Steinschlag auf die Abteikirche am 3. Januar 1611, der von sehr starken Winden begleitet wurde, die die Ziegel vom Dach rissen, oder dem Auftreten eines Kometen im Jahr 1618. Er berichtet auch von ungewöhnlichen Ereignissen, die heutzutage für Archäologen von Interesse sind, insbesondere dem Abriss der alten Kirche von Martolet zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Mit ihrem karolingischen Chor war diese Kirche gegen Ende des 16. Jahrhunderts bereits in einem schlechten Zustand und durch die Erdbeben der Jahre 1584 und 1595 geschwächt. Der Abriss ermöglichte den Bau der neuen Abteikirche, die am 20. Juni 1627 vom Apostolischen Nuntius Alessandro Scappi geweiht wurde. Von Bérody erfahren wir, dass Material aus der alten Kirche beim Bau der neuen Kirche wiederverwendet wurde. Er bezeugt, dass bei diesen Arbeiten in der Gegend von Martolet Knochen und eine Truhe mit Heiligenreliquien gefunden wurden:
Am Dienstag, dem 26. September [1624], entdeckte ein junger Maurer, der als Gehilfe für die Handwerker tätig war, beim Entfernen von Steinen aus der alten Magdalenenkapelle, auf der Seite der Marienkapelle, zu Füssen der Marmorsäule, die er gerade abriss, ein Monument, in dem sich in einer mit vielen Nägeln verschlossenen Holztruhe, die mittlerweile zu Asche verbrannt ist (die Nägel werden noch jetzt, von Rost durchdrungen, aufbewahrt, damals aber waren sie noch intakt), die Reliquien vieler Heiliger und, wie man frommerweise glauben soll, thebanischer Märtyrer aufbewahrt waren. Da erschien dem jungen Mann eine Fackel aus göttlichem Licht, die sich in die Mitte der alten Kirche zurückzog, wo, wie berichtet wird, weitere Reliquien der heiligen thebanischen Märtyrer verborgen waren, und dann verschwand.
Ebenfalls in seiner Chronik berichtet Bérody 1613 von seiner Heirat mit Annillie Odet de Saint-Maurice. Diese gebiert ihm fünf Kinder, von denen nur eine Tochter, Marie-Gaspard, überlebt, die Nonne wird. Nach dem Tod seiner Frau am 19. September 1625 beschliesst er, Chorherr der Abtei zu werden. Am 18. Mai 1626 verlässt er Saint-Maurice und reist nach Rom, wo er am 25. Oktober 1626 in der Kirche der heiligen Apostel Simon und Judas von Antonio Provana, dem Erzbischof von Durrës, zum Priester geweiht wird. Er unternimmt die lange Reise in Begleitung mehrerer anderer Einwohner von Saint-Maurice: dem Ritter Antoine de Quartéry, Pierre Torneri, Domherr von Sitten, Pierre und Barthélémy Quartéry sowie Antoine Burgalis. Nach seiner Rückkehr aus Italien tritt er als Chorherr in die Abtei ein und wird 1628 zum Rektor des Saint-Jacques-Hospitals in der Stadt Saint-Maurice ernannt.
Abgesehen von seiner Tätigkeit als Dramatiker und Chronist interessiert sich Gaspard Bérody in der zweiten Hälfte seines Lebens auch für die Geschichte der Abtei von Saint-Maurice. Mithilfe der paläografischen und diplomatischen Kenntnisse, die er sich bei der Ausübung seines Berufs als Notar angeeignet hatte, verfasst er ein achtbändiges Kartular der Abtei Saint-Maurice, in dem er Kopien von Hunderten von Urkunden und Akten über jeweils eine bestimmte Region sammelt. Diese Urkunden sollten als Beweismittel zur Verteidigung der Rechte der Abtei dienen, in Saint-Maurice selbst, aber auch in Salvan, im Trient-Tal, in Choëx, Bagnes, Vollèges, im Kanton Freiburg und im Waadtland, im Tal von Abondance und in anderen Orten, die der Abtei unterstanden.
Wir präsentieren hier Auszüge aus der lateinischen Chronik von 1610 bis 1643, wobei wir uns auf Ereignisse im Oktober 1635 und im Mai 1636 konzentrieren.
Kommentar zu den Auszügen aus der Chronik von Oktober 1635 bis Mai 1636
Die hier ausgewählten Auszüge aus der Chronik von Gaspard Bérody berichten von der Katastrophe, die am 11. Oktober 1635 durch den Sturz eines Teils des Dent de Novierroz, heute Cime de l’Est genannt, auf den Gletscher von Plan Névé ausgelöst wurde. Dieser krachende Einsturz einer riesigen Felsmasse wirbelte eine Staubwolke auf, die sich bis nach Aigle ausbreitete und an den Ufern des Genfersees, in Villeneuve oder in Vevey zu sehen war. Der von der Bergspitze herabgestürzte Gesteinshaufen bildet im Torrent de la Marre einen Damm. Als dieser bricht, kommt es zu einer schrecklichen Überschwemmung und zur Unterbrechung der Strasse nach Martigny, sodass Fussgänger und Reiter gezwungen sind, ihre Route zu ändern. Es muss eine Brücke gebaut werden, um die Passage wieder zu ermöglichen. Und um die Fürsprache der Schutzheiligen der Stadt Saint-Maurice, der Heiligen Mauritius und Sigismund, zu erlangen, werden die Schreine mit ihren Reliquien in einer grossen feierlichen Bussprozession (eine übliche Praxis bei Katastrophen) an den Ort der Katastrophe gebracht, und die Bevölkerung fastet. Im darauffolgenden Jahr, am 12. Mai 1636, der auf den Pfingstmontag fällt, werden die Bevölkerung von Saint-Maurice und die Bewohner des Weilers Les Rasses oberhalb von Évionnaz von einem erneuten Überlaufen desselben Baches erschreckt. Daher begeben sie sich in Begleitung des Klerus in einer Prozession zu dem kleinen Dorf Les Rasses. Als sie dort ankommen, zwingt sie ein erneutes Anschwellen des Wildbachs, eilig auf den Hügel Crêtes zu flüchten, wo Pater Marcel, der Guardian des Kapuzinerklosters Saint-Maurice, eine improvisierte Ansprache hält. Er schlägt vor, das Gelübde abzulegen, den zerstörerischen Strom von Torrent de la Marre in Torrent de Saint-Barthélemy umzubenennen, nach dem Apostel, dessen hebräischer Name «der, der die Wasser anhält» bedeutet, und auch den benachbarten Torrent de Vérolliez, heute Le Mauvoisin, in Torrent de Saint-Maurice umzutaufen. Die Kampagne zur Änderung geographischer Namen umfasst auch den Dent de Novierroz, der nach einem Exorzismus zum Berg Saint-Michel wird, benannt nach dem Erzengel, der Luzifer besiegt hat. Bérody weist jedoch darauf hin, dass die alten Namen in allen notariellen Urkunden beibehalten werden müssen, um Kontinuität und Rechtssicherheit zu gewährleisten und um Streitigkeiten zu vermeiden. Sind all diese Schlammlawinen, Erdrutsche und Überschwemmungen Naturkatastrophen, die auf den Klimawandel zurückzuführen sind, wie es heute der Fall ist? Die fromme Bevölkerung, die diese Ereignisse miterlebt hat, macht jedenfalls Dämonen, die sich in den Bergen verstecken, dafür verantwortlich.
Im Wallis beleben die immer wiederkehrenden Pestepidemien zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Volksfrömmigkeit. Die verängstigte Bevölkerung vertraut auf die schützende Fürsprache der Heiligen, sei es, um die epidemischen Wellen abzuwehren, oder, wie in diesem Fall, um Naturkatastrophen zu verhindern. Der Heilige Sebastian ist der bevorzugte Fürsprecher in Zeiten der Pest, und die Volksfrömmigkeit äussert sich nicht nur in Bruderschaften mit seinem Namen, sondern auch in Stiftungen, Kirchenpatronaten, Altären, Statuen, Bildern, Glocken und Spenden. In Saint-Maurice legt die Bevölkerung am 15. Januar 1629 das feierliche Gelübde ab, eine Messe zu Ehren des Heiligen zu feiern und in einer Prozession durch die Stadt zu ziehen. In der Kirche der Abtei wird wieder eine Bruderschaft der Heiligen Fabian und Sebastian gegründet. Im Jahr 1628 gewährt Papst Urban VIII. dieser frommen Stiftung einen vollkommenen Ablass, und 1629 wird unser Chronist zum Rektor dieser Bruderschaft ernannt. Ihm werden zwei Laien mit dem Titel Prior beigeordnet. In dem hier vorgestellten Auszug kündigt Bérody im Anschluss an die Erzählung der Katastrophe von 1636 und nach den Änderungen der Namen des Berges und der Wasserläufe als neue Massnahme zum Schutz vor solchen Katastrophen die Wiederherstellung der alten Heiliggeist-Bruderschaft. Diese dient demselben prophylaktischen Zweck wie die Wiederherstellung der Bruderschaft der Heiligen Fabian und Sebastian einige Jahre zuvor. Bérody nennt die Namen der beiden Prioren: den Notar Chrétien Franc, der auch eine Rede über den Heiligen Mauritius verfasst hat, und einen weiteren Notar, François Camanis. Diese waren bereits im Januar 1630 zu Prioren der Bruderschaft der Heiligen Fabian und Sebastian gewählt worden und hatten die Aufgabe, alle ihre alten Dokumente der Bruderschaft, einschliesslich der recognitiones, zu ordnen, die fälligen Abgaben einzutreiben und ausstehende Zahlungen einzufordern. Nun werden sie laut dem Auszug aus der Chronik mit derselben Aufgabe für die Bruderschaft des Heiligen Geistes betraut. Es war üblich, dass die Bruderschaft am Pfingstmontag Almosen verteilte, und dieser 12. Mai 1636 war eben ein Pfingstmontag. Zwei Berater werden ihnen zur Seite gestellt, Petermann Odet und Leutnant Odet. Bérody nennt die Namen aller Verantwortlichen dieser Bruderschaft: Hauptmann Antoine Quartéry ist der Propst, der Chorherr Henri Macogin de la Pierre der Rektor, und sein Berater ist Pierre Odet, ebenfalls ein Chorherr. Die Einwohner von Évionnaz und La Rasse geloben, die Kirche und die Kapelle wieder aufzubauen und sie zu weihen: die Kirche von Évionnaz dem Heiligen Bernhard, der gemäss der Legende den Teufel besiegte, und die Kapelle von La Rasse dem Heiligen Bartholomäus. Volksbräuche, die mit diesen Ereignissen zusammenhingen und aus diesen Gelübden hervorgingen, waren noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebendig.
Das von Gaspard Bérody in seiner Chronik verwendete Latein vermischt klassische Begriffe mit Wörtern aus der Volkssprache, die der Bezeichnung der sehr zahlreichen Orts- und Familiennamen dienen. Die Beschreibung des Einsturzes eines Bergteils auf dem Gletscher Plan Névé, des donnerähnlichen Krachens und der schwarzen Staubwolken zeichnet sich durch ein lexikalisches Feld mit einer bemerkenswerten visuellen und auditiven Beschwörungskraft aus: pulveres, fragor ingens, tonitrus, nubes subnigri et caerulei coloris, nubes instar carbonis nigrae, ingens tonitrus. Bérody vermittelt dem Leser das Gefühl des Schreckens und der Furcht vor dem Erdrutsch, den Staubwolken und den anschliessenden Überschwemmungen, die ein Schlachtfeld hinterlassen, auf dem alles nur noch Ruine und Verwüstung ist.
Was diese Chronik interessant macht, sind primär jedoch nicht ihre stilistischen oder literarischen Merkmale – auch wenn sie in einem nüchternen und gepflegten Latein mit einem reichen Wortschatz verfasst ist –, sondern ihr Inhalt, denn dieser Text ist eine Fundgrube für Informationen über historische Ereignisse, nicht nur auf lokaler Ebene, der Abtei und der Stadt Saint-Maurice und ihrer Umgebung, sondern auch für das gesamte Wallis. Sie liefert Informationen über Personen, die ohne sie heute in Vergessenheit geraten wären, über spezielle Themen wie Pestepidemien, Architektur, religiöses Theater, Wetterphänomene und das Alltagsleben in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts.
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