Epithalamion für Oswald von Eck und Anna von Pienzenau

Marcus Tatius Alpinus

Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 25.01.2024.


Entstehungsdatum: den natürlichen terminus ante quem bildet die anlassgebende Hochzeit von 1544 (das genaue Datum konnten wir nicht feststellen, das Gedicht legt aber einen Heiratstermin im Frühling nahe).

Ausgabe: Nobilissimi Ornatissimique Iuvenis ac Domini D. Osvaldi ab Ecche, in Volphs Ecche, et Rhand Ecche, etc., et Annae à Binzenaue, etc., Nobilissimae item, Castissimaeq[ue] Virginis, Epithalamion, M. Tatio Alpino Poeta Imperatorio authore, Augsburg, Valentin Ottmar, 1544, hier: [B6]vo-Cro.

Metrum: elegische Disticha.

 

Marcus Tatius Alpinus (statt Tatius hiess er ursprünglich Tach) wurde um 1509 in dem Dorf Zernez im Engadiner Münstertal (Graubünden) als Sohn eines Priesters geboren. Er verlor seine Eltern früh. In den 1520ern besuchte er wie sein Freund Simon Lemnius die Pfarrschule bei St. Peter in München, die damals von Lycobatius Anemoecius geleitet wurde; wie Lemnius tat er dies wahrscheinlich auf eine Empfehlung durch den Churer Bischof Paul Ziegler (1471-1541) hin. In München musste sich Marcus Tatius selbst um seinen Lebensunterhalt kümmern und tat dies zunächst durch Singen und Betteln in Gaststätten, später durch private Unterrichtsstunden für Söhne wohlhabender Familien. Nachdem Anemoecius München verlassen hatte, wurde Tatius Hauslehrer der beiden Söhne des augsburgischen Patriziers Raimund Fugger in Augsburg. 1533 widmete er Fugger seine erste eigenständige Publikation, die Gedichtsammlung Progymnasmata; im selben Jahr beteiligte er sich mit mehreren Beiträgen (u. a. einem Widmungsgedicht) an einer griechisch-lateinischen Lehrfibel, in der auch Simon Lemnius mit griechischen Versifikationen liturgischer Texte vertreten ist. 1539/40 wurde er Poesieprofessor an der Universität Ingolstadt, ein Posten, den er 1540 kurzzeitig räumen musste, da er aus unbekannten Gründen bei König Ferdinand I. in Ungnade gefallen war. Tatius begab sich damals Strassburg. Er liess dort ein Preisgedicht auf Ferdinand I. drucken und durfte – wohl infolgedessen – noch 1540 nach Ingolstadt zurückkehren. 1545 wurde er in Ingolstadt zum Doctor utriusque iuris (d. h. im römischen und kanonischen Recht) promoviert. 1549 bis 1556 wirkte er als Assessor beim Speyerer Reichskammergericht, ab 1551 als Repräsentant des Herzogtums Bayern. Anschliessend war er bis zu seinem Tod am 12. Juni 1562 Kanzler des Fürstbistums Freising. Sein Epitaph, ursprünglich in der Freisinger Johanneskirche aufgestellt, befindet sich heute im dortigen Domkreuzgang. Es handelt sich also bei ihm um einen Schweizer Humanisten, der den grössten und wichtigsten Teil seines aktiven Lebens im Ausland verbrachte und dort zu Amt und Würden kam; er übertrifft in diesem Punkt sogar noch Glarean, der immerhin schon arrivierter Humanist war, als er sich aus Basel nach Freiburg i. Br. begab.

Ausser den bereits erwähnten Progymnasmata, dem gleichfalls schon angeführten Preisgedicht Ad Ferdinandum Caesarem semper Augustum und dem hier näher vorzustellenden Epithalamion veröffentlichte Tatius in lateinischer Sprache eine juristische Abhandlung in Briefform. Ausserdem betätigte er sich mehrfach als Übersetzer aus dem Lateinischen ins Deutsche: Er übertrug das Werk De bello Troiano [die Ephemeris belli Troiani] des Dictys Cretensis und das Werk De excidio Troiae [die Acta diurna belli Troiani] des Dares Phrygius, zwei spätantike (5. Jh.) lateinische Romane über den Trojanischen Krieg (wobei das Werk des Phrygius wohl auf ein verlorenes griechisches Original zurückgeht). Ferner übersetzte er das acht Bücher umfassende Werk De rerum inventoribus («Über die Erfinder») des italienischen Humanisten Polydorus Vergilius (1470-1555), in dem antike und spätere Erfinder aus verschiedensten Bereichen vorgestellt werden; das Werk De primo bello Punico («Über den ersten Punischen Krieg») des italienischen Humanisten Leonardo Bruni (1369-1444); die Stratagematum libri IV (eine Sammlung militärischer Kriegslisten aus der antiken Geschichte) des römischen Senators Sextus Iulius Frontinus (35-103 n. Chr.) und zusammen damit Exzerpte aus dem fünf Bücher umfassenden kriegswissenschaftlichen Werks De re militari (Über das Kriegswesen) des Flavius Vegetius (4. Jh. n. Chr.) sowie einschlägige Stellen aus den justinianischen Digesten. Vermutlich stammt von ihm auch die lateinische Übersetzung einer Prognostik des Paracelsus, die zumindest von zwei Gedichten des Tatius eingerahmt wird.

Sein umfangreichstes und zugleich bestes dichterisches Werk ist das Epithalamion anlässlich der Hochzeit Oswalds von Eck – des Sohnes des einflussreichen bayerischen Kanzlers Leonhard von Eck (1480-1550) – mit Anna von Pienzenau (bei Tatius: a Binzenaue), der Vertreterin eines altbayerischen Rittergeschlechts, im Jahre 1544.

Das Gedicht umfasst insgesamt 1036 Verse, von denen wir hier nur V. 655-780 präsentieren können; immerhin handelt es sich dabei um eine der zentralen Passagen des Epithalamion. Eine detaillierte Gliederung des gesamten Gedichts mit umfassenden inhaltlichen Anmerkungen haben wir bereits an anderer Stelle veröffentlicht, in einem Beitrag, auf den alle verwiesen seien, die sich näher mit diesem Text beschäftigen wollen. Hier genügt daher eine kurze Zusammenfassung. Der erste Hauptteil des Epithalamion (1-614) schildert eine im Frühling stattfindende Götterversammlung im Himmelspalast, in deren Rahmen die Ehe Oswalds und Annas beschlossen wird. Sie beginnt mit einer Ansprache Jupiters (1-96), in der dieser die auf Erden herrschende Unmoral beklagt und feststellt, dass dem den starken Sexualtrieb, den die Götter den Menschen verliehen haben, nur durch die Ehe beizukommen ist. Minerva hält daraufhin eine Rede (101-250), in der sie Anna von Pienzenau und ihre Familie rühmt und Jupiter bittet, ihrer Protegée Anna dauerhafte Jungfräulichkeit zu gewähren (was ja Minervas eigenem Lebensstand entspricht). Jupiter lehnt diese Bitte ab, möchte aber für die unumgängliche Verheiratung Annas einen ihr würdigen Bräutigam finden (251-266). Juno (267-476) und Venus (477-608) ergehen sich daraufhin in einem Lobpreis des Oswald von Eck (seiner Familie, seiner Besitztümer etc.); Venus sieht eine glückliche Ehe Oswalds und Annas voraus. Am Ende der Götterversammlung ordnet Jupiter die Hochzeit zwischen Oswald und Anna an (611-614). Der zweite Hauptteil des Gedichts (615-1036) berichtet, wie zunächst Venus den Amor nach München losschickt, um Liebe zwischen Oswald und Anna zu stiften; nachdem er diese Mission erfolgreich absolviert hat, begibt sie sich selbst dorthin (615-778). Sie und andere Gottheiten sorgen im Folgenden für äusserst gelungene Hochzeitsfeierlichkeiten (Diana etwa geht in V. 861-884 für das Hochzeitsmahl auf die Jagd; Minerva inspiriert in V. 951-986 eine Menge katalogartig aufgezählter zeitgenössischer katholischer Dichter vornehmlich des deutschen Kulturraumes, das freudige Ereignis zu preisen; in V. 987-996 bedauert der Dichter, dass mehrere namentlich genannte protestantische Poeten sich aufgrund der Glaubensspaltung nicht beteiligen werden). Die hyperbolisch gerühmten Hochzeitsfeierlichkeiten (u. a. durch Gesänge des Pan des Bacchus und des Apollon bereichert) bilden schliesslich den Abschluss des Gedichts (997-1036).

Als Textausschnitt präsentieren wir auf diesem Portal die Verse 655-780. Sie schildern, wie Amor im Auftrag seiner Mutter Venus nach München fliegt, seine Mission erfüllt, zurückkehrt und seiner Mutter berichtet, wie er mit seinen Pfeilschüssen die Liebe zwischen Oswald und Anna gestiftet hat. Als Venus daraufhin sich selbst nach München begeben will, muss sie zunächst ihren Wagen von ihrem bösen Widerpart, der altera Venus, befreien, die ihn in Begleitung ihres eigenen unsympathischen Gefolges (Leichtsinn, Streit etc.) okkupiert hat. Venus rügt ihre Konkurrentin mit scharfen Worten und verweist ihr, sich je in die Ehe Oswalds und Annas einzumischen. Die hier deutlich werdende Vorstellung, es gebe zwei Veneres, eine gute und eine schlechte, ist zwar unübersehbar aus dem Konzept der zwei Aphroditen im platonischen Symposion (180d) abgeleitet (Tatius selbst verweist in einer Randanmerkung auf Plato), hat aber inhaltlich mit diesem kaum mehr etwas gemeinsam: Ist bei Plato die bessere Aphrodite (Ourania) die Schutzherrin einer ganz bestimmten, besonders auf charakterliche Qualitäten ausgerichteten Form mann-männlicher Liebe, während heterosexuelle Beziehungen in jedem Fall in den Bereich der niederen Aphrodite (Pandemos) fallen, so ist bei Tatius die himmlische Venus für die eheliche Liebe zwischen Mann und Frau zuständig, während ihre irdische (vgl. V. 723) oder gar infernale (vgl. V. 735) Konkurrentin generell für alle Formen der Unzucht und erotischen Verwirrung verantwortlich zeichnet. Auch die im florentinischen Neuplatonismus von Marsilio Ficino unternommene Ausdeutung des Konzepts der zwei Aphroditen, die zwischen einer auf rein intelligible Schönheiten ausgerichteten (und daher besseren) und einer bloss sinnlichen Liebe unterschieden, taugt als Vorbild für unsere Stelle nicht, denn die Ehe zwischen Oswald und Anna wird nach dem Willen der Götter durchaus nicht unsinnlich sein (vgl. V. 583-584). Ein mögliches direktes Vorbild findet sich stattdessen in den Colloquia des Erasmus von Rotterdam, genauer: im Epithalamium Petri Aegidii; auch eine Stelle in dessen Enchiridion militis Christiani könnte Tatius beeinflusst haben. Für genauere Darlegungen zu diesem Fragenkomplex verweisen wir ebenfalls auf unseren bereits genannten, an anderer Stelle erschienenen Beitrag. Nach ihrer Auseinandersetzung mit der altera Venus kann die himmlische Venus ihren mit erlesenen Edelsteinen verzierten Wagen besteigen und begibt sich mit ihrem eigenen Gefolge nach München.

Dem Epithalamion vorangestellt ist in der (einzigen) Ausgabe von 1544 ein kurzes Gedicht von sechzehn Versen Umfang (elegische Disticha), in dem das Wappen der Familie von Eck beschrieben wird. Auf das Epithalamion folgt ebenfalls in elegischen Disticha ein als Übersetzung aus dem Griechischen des Kallimachos gekennzeichnetes epigrammatisches Gedicht (es ist überliefert in der Anthologia Graeca: 7,89), das sich in dieser leicht adaptierten Fassung im Schlussvers an Tatius richtet; das ist ein Indiz dafür, dass diese Übersetzung nicht von Tatius selbst stammt (allerdings wäre in diesem Fall der Name des Übersetzers/Nachahmers nicht angegeben). Inhaltlich wird darin der Ratschlag des Griechen Pittakos von Mytilene (eines der «Sieben Weisen») wiedergegeben, sich nicht mit einer Frau aus einem höheren sozialen Stand zu verheiraten, sondern die Ehe nur innerhalb der eigenen gesellschaftlichen Ebene zu schliessen. Das fügt sich gut zur Botschaft des Gedichts, das – besonders in den die Heirat begünstigenden Reden der Juno und Aphrodite in der Götterversammlung – die herkunftsmässige Ebenbürtigkeit der beiden Brautleute hervorhebt.

Das anmutige, kluge, gedankenreiche und von feinem Humor durchzogene Epithalamion des Marcus Tatius Alpinus zählt sicher zu den schönsten Neu- und Wiederentdeckungen auf dem Portal Humanistica Helvetica. Die Biographie seines Schöpfers bedingt, dass sowohl Graubünden als auch Altbayern auf diese erfreuliche literarische Leistung einen Anspruch erheben können.

 

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