Drei Briefe an seinen Vater Johann Conrad Ulmer über sein Studium
Johannes Ulmer
Einführung: Salomé Walz (traduction française: Kevin Bovier). Version: 06.11.2023.
Entstehungsdatum: 11. Februar, 15. Februar, 18. März 1583.
Handschriften (Autographen): Ministerialbibliothek Schaffhausen, Min. 132, 349-352, Bl. 172-173 (Brief vom 11. Februar 1583); Min. 132, 181-182, Bl. 88 (Brief vom 15. Februar 1583); Min. 132, 257-260, Bl. 126-127 (Brief vom 18. März 1583).
Johannes und Johann Conrad Ulmer
Im Zeitraum zwischen 1579 und 1586 verliess ein junger Mann seine Heimatstadt Schaffhausen, um ein Theologiestudium in Angriff zu nehmen. Seine Studien und die Ereignisse des späten 16. Jahrhunderts führten Johannes Ulmer (1558-1625) erst nach Strassburg, dann nach Basel, Tübingen, Neustadt an der Weinstrasse und schliesslich nach Heidelberg. Im Anschluss an diese sieben Lehr- und Wanderjahre kehrte er in seine Ursprungsregion zurück und wurde Lehrer in Schaffhausen. Später wirkte er als Pfarrer in Wagenhausen, Büsingen und Schaffhausen. Einblicke in Johannes Ulmers Studienzeit an verschiedenen Universitäten des deutschsprachigen Raums gewährt die rege Korrespondenz, die er in der betreffenden Zeit mit seinem Vater führte.
Bei diesem Vater, Johann Conrad Ulmer (1519-1600), handelt es sich um eine zentrale Figur der Schaffhauser Geschichte. Der in der Nordostschweizer Stadt geborene Ulmer hatte selbst an verschiedenen Universitäten studiert – in erster Linie Theologie, daneben aber auch Philosophie, Mathematik und alte Sprachen. Nach einigen Jahren in Basel setzte er seine Ausbildung in Strassburg fort, wo er unter anderem Calvin zum Lehrer hatte. Später hörte er in Wittenberg Luther und Melanchthon. Nach seinem Studium wurde Vater Ulmer Pfarrer in der Gemeinde Lohr am Main. Dort übernahm er zum ersten Mal die Rolle des Reformators. 22 Jahre wirkte er in der Gemeinde und reformierte dabei allmählich die dortige Kirche, ohne dass es zu Gewaltanwendung kam. Als der Schaffhauser Rat ihn 1564 anfragen liess, ob er das soeben freigewordene Amt des Münsterpfarrers übernehmen wolle, folgte er diesem Ruf und kehrte in seine Heimatstadt zurück. Von kirchlicher Seite schlug ihm anfangs Misstrauen entgegen. Die reformatorische Bewegung war in sich gespalten und mit der Zeit hatten sich drei reformierte Theologien herausgebildet. Während sich viele reformierte Regionen im Süden des deutschen Sprachraums an jenen von Calvin und Zwingli orientierten, dominierten in anderen Regionen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation die Lutheraner. Aufgrund Johann Conrad Ulmers Ausbildung bei Luther und seiner gemässigt lutherischen und vor allem melanchthonischen Reform der Gemeinde Lohr verlangte man in Schaffhausen erst eine genaue Überprüfung seines Glaubens. Es gelang ihm, die Schaffhauser Geistlichen von seiner Annäherung an Calvins Theologie zu überzeugen, sodass er 1566 sein neues Amt antreten konnte. Später wurde er zudem Vorsteher und Dekan der Schaffhauser Kirche. Zu der Festigung und Erweiterung von deren Reformation trug Ulmer in all diesen Funktionen bei. Schon seit 1529 hatte die Stadt begonnen, die Reformation einzuführen, den Entscheid danach aber nur zögerlich umgesetzt. Dies änderte sich erst mit Ulmer, der folglich als «Vollender der Reformation» Schaffhausens gelten kann.
Vorwiegend in dieser Rolle des Reformators ist Ulmer bisher Gegenstand der Forschung geworden. Aus mehreren Gründen scheint es allerdings lohnenswert, in Zukunft auch nach den humanistischen Einflüssen auf sein Werk zu fragen sowie zu untersuchen, inwiefern er zum (Schweizer) Humanismus beigetragen hat. Zum einen genoss Ulmer eine humanistische Ausbildung und stand mit Humanisten seiner Zeit – namentlich Gwalther, Melanchthon und Beza – im Austausch. Zum anderen betätigte er sich als Übersetzer und Dramaturg. Er übertrug sowohl eine Schrift des Kirchenvaters Theodoret aus dem Griechischen ins Deutsche als auch zwei Dramen, die biblische Stoffe behandeln. Ein weiteres Theaterstück zum Salomonischen Urteil stammt aus Ulmers eigener Feder. Schliesslich ähnelt der Schaffhauser anderen Humanisten mit Nähe zur Reformation hinsichtlich seines Interesses für die Pädagogik. Dies zeigt sich etwa darin, dass Ulmer dem Schaffhauser Schulwesen neue Schul- und Stipendienordnungen gab und sich für im Ausland studierende Schaffhauser engagierte. Inwiefern die genannten Faktoren es rechtfertigen würden, Ulmer als Humanisten zu bezeichnen, bleibt indes zu klären.
Die Briefe des Sohnes an seinen Vater in den «Ulmeriana»
Die Briefe des Studenten Johannes Ulmers an seinen Vater finden sich zusammengefasst zu einem Buch, das den achten von insgesamt neun Bänden der «Ulmeriana», also der Sammlung der erhaltenen Materialien des Reformators, darstellt. Der Band umfasst rund 100 – in weitgehend willkürlicher Weise angeordnete – Briefe aus dem Zeitraum zwischen 1579 und 1586, die zusammen 360 Seiten ausmachen und bisher nicht ediert und übersetzt wurden. Die Briefe sind grundsätzlich in Latein verfasst, wie es damals den universitären Standards entsprach. Lediglich einige Passagen sind in Frühneuhochdeutsch zu finden, das Johannes Ulmer offenbar gelegentlich verwendete, wenn er in grosser Eile schrieb. Von einem Briefwechsel kann im Gegensatz zu anderen Fällen aus Ulmers umfangreichem Korrespondentennetzwerk indes nicht die Rede sein, denn es sind nur die Nachrichten des Sohnes an den Vater, nicht aber dessen Antworten an den Sohn erhalten.
Die drei hier präsentierten Briefe bilden insofern eine Einheit, als es sich um die drei einzigen (erhaltenen) Nachrichten aus Johannes Ulmers kurzem Studienaufenthalt an der Universität Tübingen handelt. Exemplarisch lassen sich an den im Februar und März des Jahres 1583 verfassten Schriftstücke die Themen zeigen, die in der gesamten Korrespondenz des Sohnes an den Vater wiederholt zur Sprache kommen. Einerseits sind es Anliegen eher praktischer Natur. So spielt die Reise nach Tübingen, die Johannes gemeinsam mit einem Kommilitonen zu Fuss bestritt, im ersten Brief eine Rolle. Die Sorge um den Verbleib des Gepäcks, das in ein Fass verpackt mit einem Kutscher reiste, aber offensichtlich nie in Tübingen ankam, zieht sich hingegen durch alle drei Briefe. Weitere Fragen des alltäglichen Lebens betreffen die Art der Unterkunft sowie die Kosten für Schlafstelle, Speis und Trank. Das wiederum wirft die Frage auf, ob der aus Schaffhausen erhaltene Geldbetrag angemessen sei, um den Lebensunterhalt in Tübingen zu bestreiten. Andererseits bilden – der Natur der Sache entsprechend – das Studium, die Universität sowie die dortigen Professoren und Kommilitonen Schwerpunkte in Johannes’ Nachrichten. So geht aus dem Brief vom 14. Februar hervor, dass er in sich in Tübingen offenbar mit Aristoteles’ Ethik beschäftigte – auf jeden Fall erbittet er darin vom Vater die Kommentare Melanchthons dazu. Besonders schwer wiegen in den Tübinger Briefen Überlegungen zur Qualität des Unterrichts und zu den theologischen Überzeugungen seiner Professoren. Auf diesen Punkt wird gesondert zurückzukommen sein. Nicht zuletzt waren Johannes Briefe ein Kanal, durch den Neuigkeiten zu politischen Geschehnissen nach Schaffhausen gelangten. So berichtet der damals 25-Jährige im Brief vom 11. Februar von den Kriegen zwischen den Türken und Persern und im März wird der Kölner Krieg zum Thema. In Briefen aus anderen Studienorten erzählt der Sohn zudem von seinen Erkrankungen und dem Verhalten seiner Studienkollegen.
Die Briefe stellen somit eine interessante Quelle zum Studentenleben und zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte des späten 16. Jahrhunderts dar. Als solche wurden sie bereits von Robert Lang erkannt, der einige von Johannes’ Nachrichten seinen Studien zum Schaffhauser Stipendiatenwesen zugrunde legte. Diese Institution wurde im Zuge der Reformation der Stadt eingerichtet und sollte dazu beitragen, die neue Lehre tatsächlich in den Kirchen und Schulen verbreiten zu können. Damit reformierte Prediger und Lehrer auf öffentliche Kosten ausgebildet werden konnten, richtete der Stadtrat 1540 einen Stipendiatenfonds sowie eine Kommission zu dessen Verwaltung ein. Dieser «Scholarchenrat» vergab Stipendien an junge Schaffhauser, um die Kosten für Reise, Unterhalt und Studium im In- oder Ausland abzudecken. Die Schulherren entschieden dabei nicht nur über die Höhe des Stipendiums, sondern legten auch Studienfach, -ort und Verhaltensregel für den Aufenthalt fest. Die Studenten konnten ihre Wünsche zwar einbringen, das letzte Wort hatten aber die Scholarchen. Ausserdem hielt die Kommission Kontakte mit den Professoren der verschiedenen Universitäten, um ihnen die Schaffhauser Stipendiaten zu empfehlen, aber auch, um sich über deren Tun und Lassen zu informieren.
Johann Conrad Ulmer wurde 1569, kurz nach seinem Amtsantritt als Pfarrer in Schaffhausen, Mitglied des Scholarchenrates. Als rund 20 Jahre später sein eigener Sohn Johannes das Studium in Angriff nahm, ermöglichte der Scholarchenrat ihm – genau wie anderen jungen Schaffhausern – den Aufenthalt in den auswärtigen Universitätsstädten durch ein Stipendium. Daher ist zu beachten, dass Johannes jeweils nicht nur an Johann Conrad Ulmer als sein Vater, sondern gleichzeitig auch an den Reformator in seiner Funktion als Mitglied des Scholarchenrates schreibt. Sein Vater hatte in dieser Rolle Einfluss auf den jeweiligen Studienort und die Höhe des auszuzahlenden Stipendiums der Studenten. Es ist also nicht verwunderlich, dass Ulmer seinem Vater in den Briefen des Öfteren die Wünsche und Bedürfnisse seiner Schaffhauser Kommilitonen mitteilt und seine eigenen Vorstellungen bezüglich des Studienorts ausführlich darlegt.
Tübingen als Durchgangsstation
Diesem Punkt – dem gewünschten Wechsel des Studienorts und die Gründe, die die Studenten dafür beim Scholarchenrat geltend machten – kommt in den Briefen der kurzen Tübinger Periode aus Johannes Ulmers Studienzeit besondere Bedeutung zu. Ein Wechsel der Universität war in diesen pestgeplagten und kriegerischen Zeiten nicht unüblich und rein administrativ gesehen auch kein Problem, da die Einschreibung zu jedem Zeitpunkt möglich war. In Johannes Fall war die Station vor dem hier im Zentrum stehenden Aufenthalt in Tübingen die Universität in Basel, wo er ab 1581 studierte. Bereits im Sommer des Jahres darauf äusserte er seinem Vater gegenüber jedoch den Wunsch, den Ort zu wechseln. Als Grund dafür gab er unter anderem den im Vergleich mit anderen Universitäten rückständigen Unterricht der Philosophie an. In diesem Fach würden nur wenige Vorlesungen stattfinden, schrieb er dem Vater. Gerne wäre der Sohn im Anschluss nach Neustadt an der Haardt (das heutige Neustadt an der Weinstrasse) weitergezogen. Der Ort wurde im späten 16. Jahrhundert kurzzeitig «zum geistigen Zentrum des deutschen Calvinismus». Neustadt lag nämlich in jenem Gebiet der Kurpfalz, das nach dem Tod des Kurfürsten Friedrich III. an dessen Sohn Johann Casimir fiel. Dieser war Anhänger der calvinistischen Theologie und gründete 1578 eine reformierte theologische Hochschule in Neustadt, das Casimirianum. Da Johannes Ulmer aber vermutete, dass in Neustadt die Pest wütete, fiel die Wahl erst einmal auf Tübingen, obwohl die die Stadt lutherisch geprägt war. Besonders ungünstig war, dass an der dortigen Universität der Lutheraner Jacob Andreae unterrichtete, dem die calvinistischen und zwinglianischen Reformatoren ein Dorn im Auge waren. Diese nur halbwegs zufriedenstellende Ausgangslage war mit einer der Gründe, warum Tübingen für den jungen Schaffhauser von Anfang an nur eine Durchgangsstation war und er kurz nach der Ankunft mitteilt, er glaube, dass er und sein Kommilitone Frey «nicht mehr lange hier wohnen [können]». Ausserdem seien die Tübinger Professoren im Unterrichten allgemein nachlässig, während von Neustadt gesagt werde, «nicht nur die Theologie blüh[e] dort, sondern auch die Philosophie […] und das Studium der hebräischen Sprache nicht weniger […].»
Die wahrscheinlich vorteilhaftere Ausgangslage für das Studium ist einer der beiden Gründe, mit denen Johannes Ulmer seinen Vater von einem Ortswechsel zu überzeugen versucht. Als zweiter führt er die «übermässigen Kosten» an, mit denen er sich in Tübingen konfrontiert sieht. Nicht nur über den Preis, den er und seine Kommilitonen für Kost und Logis bei den Gelehrten der Stadt – in seinem Fall Paul Calwer – zu bezahlen hatten, beschwert er sich. Darüber hinaus entstünden untragbare, weitere Kosten durch den vielen Wein, den man in Tübingen zu trinken und teuer zu bezahlen habe: «Du weisst nämlich nicht, wie viele Gelegenheiten und Verführungen zum Saufen sich bieten, die man (wenn man nicht von den anderen als unerfahrener und bäuerischer Mensch angesehen werden will) durchaus nicht vermeiden kann.»
Im Vergleich mit den Preisen in anderen damaligen Universitätsstädten scheinen die von Johannes Ulmer für Tübingen referierten Beträge allerdings nicht exorbitant gewesen zu sein. Bei Lang finden sich Angaben aus den Briefen Ulmers und anderer Stipendiaten für die Preise an Studienorte wie Heidelberg oder Basel in den 1570er und 1580er Jahren. Diese wurden zwar generell als hoch eingestuft, fielen jedoch ähnlich, wenn nicht gar höher aus, als die in Tübingen verlangten Zahlungen für Kost, Bett und Zimmer. Hinsichtlich der Umtriebe, die Johannes durch den seiner Meinung nach unumgänglichen Weinkonsum befürchtete, scheint es fraglich, ob ein Ortswechsel Abhilfe geschaffen hätte. Zwar war «Saufferey» in Tübingen zur Besorgnis der Universitätsleitung in der Tat ein häufiger Verstoss gegen die Universitätsordnung. Aber es ist zu bezweifeln, dass die studentische Trinkkultur in Neustadt eine andere war. Während von den Studenten ansonsten strikter Gehorsam und Disziplin gefordert wurde, waren Gelage und Alkoholexzesse in der Freizeit vielerorts an der Tagesordnung. Inwiefern das finanzielle Argument damit gerechtfertigt war oder ob es daneben noch andere Gründe gab, die es vor dem eigenen Vater und dem Scholarchenrat anzuführen nicht ratsam war, muss dahingestellt bleiben. Johannes Ulmers Wunsch wurde auf jeden Fall erfüllt: der nächste Brief, der in den Ulmeriana erhalten ist, kam nämlich am 9. Juni 1583 aus Neustadt. Begeistert von den dortigen Bedingungen schreibt der Sohn:
Ego profecto quotidie Deo optimo maximo gratias ago, quod in eam tandem nos deduxit Academiam, in qua et studiis optima praebetur occasio et studia mathematica, linguarum et theologiae magis florent, et ad captum auditorum instillantur, quam hactenus viderim uspiam. Quapropter eundem quotidie invoco, ut studiis nostris tempus protrahat, ad ea compensanda, quae hactenus non sine damno coacti fuimus praetermittere.
Ich fürwahr danke Gott, daß er uns auf diese Akademie geführt hat, in der sowohl für die Studien überhaupt die beste Gelegenheit geboten wird als auch die mathematischen Studien, die Sprachen und die Theologie im besondern mehr blühen und nach dem Fassungsvermögen der Schüler gelehrt werden, als ich es bisher irgendwo gesehen habe. Darum flehe ich Gott täglich an, die Zeit zu unsern Studien zu verlängern, damit wir das wieder gut machen, was wir bisher nicht ohne Schaden zu unterlassen gezwungen worden sind.
Bibliographie
Henrich, R., «Die Erschliessung der Ulmeriana. Ein neuer Blick auf Johann Conrad Ulmers Nachlass», in: Henrich R./Specht R. (Hgg.), Johann Conrad Ulmer (1519-1600). Vollender der Reformation in Schaffhausen, Zürich, Chronos, 2020 (= Schaffhauser Beiträge zur Geschichte 92), 33-50.
Lang, R., «Geschichte des Stipendiatenwesens in Schaffhausen», Beiträge zur vaterländischen Geschichte/Historisch-Antiquarischer Verein des Kantons Schaffhausen 12 (1932), 1-218.
Maissen, F., Lieb, H., «Schaffhauser Studenten an der Universität Tübingen», Schaffhauser Beiträge zur Geschichte 57 (1998), 183-236.
Zsindely, E., «Johann Conrad Ulmer, 31. März 1519 in Schaffhausen – 7. August 1600 in Schaffhausen», Schaffhauser Beiträge zur Geschichte 58 (1981), 358-365.