Über die Nützlichkeit und Exzellenz der griechischen Sprache (De utilitate et praestantia Graecae linguae)

Conrad Gessner

Einführung: David Amherdt (deutsche Übersetzung: Clemens Schlip). Version: 10.02.2023.


Entstehungszeitraum: terminus ad quem ist die Veröffentlichung des Lexicon Graecolatinum im September 1543.

Ausgabe: Lexicon Graecolatinum, Basel, Hieronymus Curio, 1543, fol. A2ro-A7vo.

 

1537 und 1541 erschienen in Basel bei Johannes Walder die beiden ersten Editionen eines Lexicon Graecolatinum, an denen Gessner beteiligt war. 1543 kam wiederum in Basel eine dritte Ausgabe heraus, dieses Mal aber bei Hieronymus Curio. Als Vorrede zu dieser Edition steuerte Gessner auf sechs Folios eine Reflexion De utilitate et praestantia Graecae linguae bei, «Über die Nützlichkeit und Vortrefflichkeit der griechischen Sprache». Dieses Vorwort fehlt in den folgenden Ausgaben des Wörterbuchs, und es ist unserem Kenntnisstand nach auch später nie wieder nachgedruckt worden. Gessner erklärt darin, warum es unerlässlich ist, das Griechische zu erlernen und zählt die Qualitäten auf, sie zu seiner Überlegenheit besonders über das Lateinische beitragen. Gessner wendet sich an ein allgemeines Lesepublikum, aber ganz besonders an die jungen Leute, die er zum Studium des Griechischen ermutigt. Auch wenn das Primärziel des Textes nicht in Polemik besteht, wendet sich Gessner doch gegen die Verstocktheit, Ignoranz und Faulheit sogenannter Gelehrter, die das Studium des Griechischen für unnütz halten (s. unseren Text Nr. 1). Hat Gessner dabei konkrete Personen im Blick? Denkt er an bestimmte Gelehrte, die er auf seinen Wanderungen, besonders in Frankreich, getroffen hatte?

In einem gleichsam einleitenden Teil (fol. A2ro) stellt Gessner die Bedeutung des Griechischstudiums sowohl für die theologische wie für die weltliche Gelehrsamkeit heraus und behauptet eine Überlegenheit des Griechischen über das Lateinische, indem er dieses mit dem Mond und jenes mit der Sonne vergleicht (s. den Text Nr. 1). Die gedankliche Gliederung des Textes ist sehr locker. Es lassen sich dennoch vier Hauptteile unterscheiden. Im ersten (fol. A2ro-A4ro) zeigt Gessner, nachdem er nachdrücklich auf die Geschmeidigkeit der griechischen Sprache und ihr Potential für Wortneubildungen hingewiesen hat, dass das Lateinische vom Griechischen sprachlich und hinsichtlich des Vokabulars und der verschiedenen Wissenszweige abhängen. Im zweiten Abschnitt (dem kürzesten, fol. A4ro-A4vo) zeigt er, dass die Theologie und die Bibelexegese vom Griechischen abhängen; er weist besonders auf die Bedeutung des Quellenstudiums hin (ad fontes), durch das man verstehen kann, was Gott dem Menschen durch die Heilige Schrift mitteilen wollte. Der dritte Abschnitt (der längste, fol. A4vo-A6vo) ist historisch ausgerichtet; Gessner zeigt hier, dass auch die Menschen der Antike, die Barbaren, die Italiener des Quattrocento und die Kirche dem Sprachenstudium (und besonders dem des Griechischen) eine besondere Bedeutung zugeschrieben haben. In dieser Partie bietet Gessner ausserdem einen kurzen Exkurs über die Übersetzung aus dem Griechischen ins Lateinische. Der vierte Teil (fol. A6vo-A7vo) macht die besondere Würdigkeit des Griechischen deutlich, dessen Grazie, Süsse und Eleganz imstande sind, «die rohsten Geister wieder zu höherer menschlicher Bildung zu führen» (reducere ad humanitatem asperiora ingenia; s. den Text Nr. 6); man vernimmt hier das Echo der humanistischen Idee, dass erst die Kultur den Menschen zum Menschen macht. In der Schlussfolgerung am Ende (fol. A7vo; Text Nr. 8) ruft Gessner die jungen Leute dazu auf, besonders das Griechische zu studieren und ermuntert sie für den Fall, dass sie für das Erlernen des Griechischen nicht genug Zeit haben, praktisch dazu, wenigstens sein Wörterbuch zu erwerben, das ihnen in mehrfacher Hinsicht von Nutzen sein könne; er qualifiziert auf diese Weise das Lexikon als «Übersetzer und stummen Lehrer der griechischen Sprache» (interpres et mutus Graecae linguae magister).

Die Argumente in De utilitate sind im Wesentlichen Topoi und Übernahmen aus der Tradition, wie man in den Ausschnitten erkennen kann, die wir hier präsentieren. Besonders vier Texte konnten Gessner theoretisch als Inspirationsquellen dienen bzw. man kann nachweisen, dass sie ihm tatsächlich als Inspirationsquellen gedient haben.

Der erste ist die 1504 in Venedig gehaltene Inauguralvorlesung eines Demosthenes-Kurses von Scipione Forteguerri, einem Schüler Polizians und einem der drei Gründer der aldinischen Akademie von Venedig (auch: Neakademia) Venise. Dieser Text mit dem Titel Oratio de laudibus litterarum Graecarum wurde 1504 bei Aldus in Venedig gedruckt und im 16. Jahrhundert bis zum Beginn des folgenden Jahrhunderts noch mehrfach neu aufgelegt; auch wenn eine Reihe traditioneller Argumente, die Forteguerri vorbringt, sich bei Gessner wiederfinden, lässt sich dennoch nicht mit Sicherheit nachweisen, dass er diese Rede gelesen hat. Der zweite Text ist die De literarum Graecarum laudibus oratio von Marcus Antonius Antimachus; diese oratio wurde zu einem unbekannten Zeitpunkt in Ferrara gehalten und 1540 in Basel veröffentlicht. Dieser Text war Gessner bekannt, der wörtlich daraus zitiert (s. Text Nr. 5) und ihn in seiner Bibliotheca universalis erwähnt. Bei dem dritten Text handelt es sich um eine 1518 von Petrus Mosellanus gehaltene Inauguralvorlesung; der Autor hatte damals gerade in Leipzig den Griechischlehrstuhl bestiegen. Unter dem Titel Oratio de variarum linguarum cognitione paranda wurde sie 1518 bei Schumann in Leipzig veröffentlicht. Auch dieser Text wird von Gessner in seiner Bibliotheca universalis erwähnt; man kann daher vermuten, dass er ihn gelesen hat und sich von ihm hat inspirieren lassen; man findet bei Mosellanus ebenso wie bei Gessner (s. Text Nr. 2) die Vorstellung, dass die Feuerzungen, die beim Pfingstwunder auf die Apostel herabkamen, eine Aufforderung zum Sprachenlernen sind. Der vierte Text ist die 1533 in Wittenberg von Veit Dietrich (einem lutherischen Theologen aus Nürnberg) gehaltene Rede De studio linguarum. Gessner bezieht sich in seinem Text ausdrücklich auf diese Rede und lässt sich von ihr wahrscheinlich an mehreren Stellen inspirieren; er entlehnt ihr vielleicht die Idee, dass die Menschen für die Kirche geboren sind (s. Text Nr. 3).

Diese Vorrede macht den Enthusiasmus Gessners für das Griechische deutlich, das für ihn die Sonne ist, während das Lateinische nur der Mond ist, ein matter Widerschein des Griechischen (s. Text Nr. 1). An anderer Stelle erklärt Gessner, wenn er zwischen dem Lateinischen und dem Griechischen auf Kosten einer der beiden Sprachen wählen müsste, würde er sich ohne Zögern für das Griechische entscheiden (s. Text Nr. 7). Unübersehbar ist das Lateinische besonders für die Kommunikation unter Gelehrten notwendig, und Gessner bringt zugunsten des Lateinischen vor, dass die Römer Musterbeispiele auf dem Felde der Tugend sind wie die Griechen es auf dem Felde der Kultur sind; doch er geht diesem Argument nicht weiter nach (s. Text Nr. 8).

In seiner Argumentation unterscheidet Gessner niemals die Theologie von den profanen Studienfächern, und vom Beginn seines Textes an unterstreicht er, dass Latein und Griechisch sowohl die göttliche als auch die menschliche Gelehrsamkeit umfassen (Text 1). Er hebt auch die Bedeutung der Sprachenkenntnis sowohl für die Religion als auch für die Künste hervor, das heisst für die theologischen und für die profanen Wissenschaften (ad omnia seu divina seu humana studia; Text Nr. 3). Und doch legt Gessner sehr grossen Wert darauf, dass das Griechische eine göttliche Sprache ist, die ein göttliches Siegel trägt, dass es eine Sprache der Vorsehung ist. Diese Vorstellung ist eingebettet in eine Reflexion über die Bedeutung der Sprachenkenntnis im Allgemeinen, einen Gedanken, der in den Reflexionen der Humanisten eine grosse Rolle spielt. Er stellt auch fest (Text Nr. 2), dass das Pfingstereignis, bei dem die Apostel allen Sprachen verstanden und in ihnen redeten, als eine an die Adresse aller Menschen gerichtete Empfehlung zum Sprachenlernen verstanden werden müsse; das Ziel ist dabei, dass sie dazu befähigt werden, die Mysterien der Bibel besser zu durchdringen. Gessner erklärt auch, es sei ein Werk der Vorsehung, dass das Griechische vom Orient her nach Latium gekommen sei, und so verhalte es sich auch mit der Erfindung des Buchdrucks; diese beiden Ereignisse ermöglichten eine weite Verbreitung der Sprache und der Weisheit der Griechen, aber auch eine weite Verbreitung der Heiligen Schrift (fol. A4vo). Ganz am Ende seiner Ausführungen (Text 8) kommt er auf dieses Argument zurück und ruft die jungen Leute dazu auf, die griechische Sprache als eine «Gottesgabe» anzuerkennen (Dei donum), die «die göttlichen und menschlichen Studien viel besser und vollkommener mache». Der Text der Bibel ist göttlichen Ursprungs, nichts steht zufällig darin; man muss ihn also gründlich in seiner Originalsprache untersuchen, um den darin verborgenen Sinn zu erkennen. Diese Wendung ad fontes ist charakteristisch für den christlichen Humanismus in der Nachfolge des Erasmus, und ganz besonders für den protestantischen Humanismus, der sich die Rückkehr zum heiligen Originaltext auf die Fahne geschrieben hatte. Der Mensch, so erklärt Gessner, sei nicht für sich selbst geboren, sondern für die Kirche; er fügt hinzu, dass der Mensch die Pflicht hat, bei Tag und bei Nacht über das Gesetz des Herrn nachzusinnen (Text Nr. 3) – das ist wahrhaft ein protestantisches Glaubensbekenntnis. In diesem Kontext lässt es sich Gessner nicht nehmen, indirekt nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass bei den Katholiken die Bedeutung des Sprachenstudiums (und besonders des Griechischstudiums) in Vergessenheit geraten ist; dies habe zu mangelnder Kultur dem Verlust des wahren Glaubens geführt.

Schliesslich noch eine Anmerkung zum Stil dieser Argumentation: So, als wollte er praktisch unter Beweis stellen, dass man termini technici aus dem Griechischen entlehnen muss, streut Gessner überall in seinen Text griechische Begriffe bzw. Ausdrücke entweder in latinisierter Form oder in ihrer Originalgestalt ein; Beispiele sind symptoma (Σύμπτωμα), anónymos (ἀνώνυμος), ἑλληνίζειν, κατὰ πόδας, μεταφραστικῶς, παραφραστικῶς, panolethria (πανωλεθρία), emphasis (ἔμφασις), etc. Das beweist in jedem Fall, dass Griechisch eine Sprache ist, die er perfekt beherrscht und die er mit Leichtigkeit handhabt, um darin mit grösstmöglicher Präzision seine Gedanken auszudrücken.

Alle thematisch verwandten Texte, die nach dem von Gessner entstanden – in Latein, Deutsch und Englisch – wurden von nordeuropäischen Autoren verfasst, und die meisten von ihnen sind Deutsche. Der einzige Text des 16. Jahrhunderts, der jünger als Gessners Ausführungen ist, stammt von dem deutschen Humanisten und Reformator Conrad Hersbach und wurde 1551 in Strassburg veröffentlicht; dieser Text eines Zeitgenossen Gessners weist einen deutlich grösseren Umfang auf als der des Zürchers. Ein Textvergleich und eine Auflistung der Argumente dieser Texte kann hier nicht unsere Aufgabe sein; es sei hier im Anschluss an Pascale Hummel schlicht darauf hingewiesen, dass die Argumente in den verschiedenen Texten praktisch immer identisch sind.

Was lässt sich abschliessend über diese Abhandlung sagen? Es ist sicher weder der beste noch der originellste Text, den Gessner geschrieben hat, denn er tut kaum etwas anderes als traditionelle Argumente zu wiederholen. Im Zentrum dieses Textes steht eine Art protestantisches Glaubensbekenntnis mit Blick auf die Bedeutung einer Rückkehr zu den Quellen der Heiligen Schrift, die eine vertiefte Kenntnis des Griechischen erfordert. Gleichzeitig wird der Pragmatismus Gessners deutlich, der denen, die weder die Zeit noch die Mittel zur Erlernung des Griechischen haben, rät, sein Wörterbuch zu kaufen ... dessen spätere Ausgaben nehmen diese Argumentation nicht auf, was vielleicht ein Zeichen für deren geringen Einfluss auf das Publikum ist; vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass eine solche Argumentation keinem dringenden Bedürfnis von Gessners Zeitgenossen entsprach.

 

Bibliographie

Abbamonte, G., Harrison, S., Making and rethinking the Renaissance between Greek and Latin in 15th-16th century Europe, Berlin/Boston, de Gruyter, 2019.

Antimaco, Marco Antonio, De literarum Graecarum laudibus oratio in Ferrariensi gymnasio publice habita, dans Gemisti Plethonis De gestis Graecorum post pugnam ad Mantineam […] M. Antonio Antimacho interprete […], Basel, R. Winter, 1540, 97-102.

Dietrich, Veit (Vitus Theodorus, Vitus Diterichus), De studio linguarum, dans Orationes aliquot lectu dignissimae, a Philippo Mel. atque aliis doctissimis quibusdam in publica Vuittenbergensium schola pronunciatae, Hagenau, ex officina Kobiana (Kobian), 1533, fol. Hvro-Ivivo.

Forteguerri (Carteromachos), Scipione, Oratio de laudibus literarum Graecarum, Venedig, Aldinus, 1504 (diese Ausgabe wurde von uns nicht eingesehen; wir haben die folgende Edition verwendet: Basel, Froben, 1517).

Hummel, P., De lingua Graeca. Histoire de l’histoire de la langue grecque, Bern, Peter Lang, 2007.

Leu, U. B., Conrad Gessner (1516-1565). Universalgelehrter und Naturforscher der Renaissance, Zürich, Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2016.

Mosellanus, Petrus (Peter Schade), Oratio de variarum linguarum cognitione paranda, Leipzig, Schumann, 1518.

Müller, C., «‘Conrado Gesnero philologo’ – Gessners Beiträge zur klassischen Philologie», in: U. B. Leu/M. Ruoss (Hg.), Facetten eines Universums. Conrad Gessner 1516-2016, Zürich, Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2016, 85-89.

Saladin, Jean-Christophe, La bataille du grec à la Renaissance, Paris, Les Belles Lettres, 2000.

Wilson, N. G., De Byzance à l’Italie. L’enseignement du grec à la Renaissance, Paris, Les Belles Lettres, 2015.