Rede über die heilige Ursula

Arbogast Strub

Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt/Kevin Bovier). Version: 10.02.2023.


Entstehungszeitraum: die Ansprache dürfte nicht allzu lange vor ihrem Vortrag am 21. Oktober 1509 verfasst worden sein.

Ausgaben: Arbogasti Strub Glaronensii Orationes duae, quas dum in humanis fuit habuit. Deinde nonnulla mortuo ab doctis viris eulogia, epitaphiaqeu pie posita. Certamen item de morte per Ioach. Vadianum, Wien, Vietor/Singriener, 1511, fol. A2vo-A6vo, hier fol. A5vo-A6ro; Arbogast Strub. Biographie und literarhistorische Würdigung von Elisabeth Brandstätter, Gedächtnisbüchlein herausgegeben, übersetzt und kommentiert von H. Trümpy, St. Gallen, Verlag der Ferh’schen Buchhandlung, 1955, 72-87, hier: 82-87 (mit deutscher Übersetzung).

Metrum der Verseinlagen: elegische Disticha.

 

Im Jahr 1509 hielt der im Kanton Glarus geborene Arbogast Strub (⁕21. Juli 1483, †15. August 1510) als 26-jähriger Magister der artistischen Fakultät im Rahmen einer Wiener Universitätsfeier eine Rede auf die heilige Ursula und ihre Begleiterinnen (1507 hatte er in einem vergleichbaren Rahmen bereits eine Ansprache über die heilige Katharina gehalten). Diese Feier ist vor dem Hintergrund der gemäss ihrer jeweiligen Herkunft vorgenommenen Aufteilung der Universitätsangehörigen in vier Landsmannschaften (Nationen) zu sehen. Schutzpatronin der Rheinischen Nation – zu der auch die Schweizer gehörten – war die heilige Ursula (zusammen mit ihren Elftausend Jungfrauen). An ihrem Festtag, dem 21. Oktober 1509, veranstaltete die Rheinische Nation einen alljährlichen Festgottesdienst in der Dominikanerkirche. Strubs panegyrische, der grösstmöglichen Verherrlichung der Heiligen dienenden Ausführungen bei diesem Anlass werden in einer Eintragung im Protokoll der Rheinischen Nation als sermo (Predigt) bezeichnet. Solche Patronatsfeste waren ein gebräuchlicher Ort für derartige «Universitätsreden», wie sie in der modernen Forschung bezeichnet werden. Strubs Rede ist ein gutes Beispiel dafür, wie diese Gattung im Zeitalter des Humanismus auf rhetorischen Prunk ausging und ihrem Wesen nach verweltlicht wurde. Strub macht reichlich Gebrauch von rhetorischen Stilmitteln, besonders von rhetorischen Fragen, Hyperbaton und Litotes, und er liebt den Superlativ. Mag eine solche Form geistlicher Eloquenz auf heutige Leser auch ungewohnt wirken, so belegt doch die Tatsache, dass Strubs Freund Vadian diese Rede nach seinem frühen Tod in das ihm zu Ehren publizierte Gedächtnisbuchlein aufnahm, dass sie bei den Zeitgenossen Anklang gefunden haben muss. Das Gedächtnisbüchlein enthält zudem eine Predigt/Rede auf die heilige Katharina von Alexandrien, die Patronin der Artistenfakultät, die Strub bereits am 25. November 1507, ihrem Festtag, gehalten hatte (vermutlich ebenfalls in der Dominikanerkirche). Bei der Beurteilung dieser Reden wird man gut daran tun, zu beherzigen, was Vadian in seinem dem Gedächtnisbüchlein beigegebenen Widmungsbrief an Ulrich Zwingli diesem riet:

Eas autem cum leges – saepius autem lecturum non dubito – in animo cogita, non quanta sint, quae legas, sed quantum sperare de homine licuisset vix tum adolescentiae egresso, ni fati non exorabilis severitas immatura messe – sive potius calamitate turbida – magnae estimationis frugem succiderit.

Wenn Du sie aber liest – und ich zweifle nicht, dass Du sie häufiger lesen wirst – bedenke in Deinem Geist nicht wie bedeutend ist, was Du liest, sondern wie viel man von diesem Menschen, der damals gerade das Jugendalter verlassen hatte, hätte erhoffen können, wenn nicht die unerbittliche Strenge des Schicksals durch eine Ernte zur Unzeit – oder vielmehr durch eine stürmische Katastrophe – eine Frucht von hohem Wert von unten her abgeschnitten hätte.

Der Legende nach lebte Ursula im vierten Jahrhundert in der Bretagne als Tochter eines Königs. Als der britische Prinz Aetherius sie zur Frau begehrte, willigte sie nur unter der Bedingung ein, dass er sich taufen lasse und sie gemeinsam mit mehreren tausend Jungfrauen eine Pilgerfahrt nach Rom unternehmen lasse. Dort soll sich der historisch nicht existente Papst Cyriacus ihrem Zug angeschlossen haben. Auf der Rückreise erlitten sie und ihre Begleiter bei Köln das Martyrium durch die Hunnen. Im Stadtwappen von Köln, wo ihre Verehrung traditionell am meisten ausgeprägt war, sind die über 11'000 heiligen Jungfrauen auch heute noch durch elf schwarze Flämmchen oder Blutstropfen symbolisiert. Nichts an dieser Geschichte, die sich erst deutlich nach dem vierten Jahrhundert nachweisen lässt, ist historisch belegbar. Der Kult Ursulas und ihrer Jungfrauen war im Spätmittelalter sehr beliebt und war im Übrigen auch in Glarus, Strubs Heimat, verbreitet.

Der Text gliedert sich wie folgt (die Stellenangaben beziehen sich auf die Zeilenangaben gemäss der Edition von Brandstätter-Trümpy):

1-25: Einleitung; die Bedeutung von Lobreden im Altertum

26-46: captatio benevolentiae; der Redner bekennt seine mangelnden Fähigkeiten und dass er die Aufgabe nur auf Befehl übernommen hat.

47-254: die Geschichte von Ursula und ihren Begleiterinnen

47-50: Themenangabe

50-60: Anrufung Ursulas

darin 53-60: Gedicht I (Gebet I zu Ursula) 

61-89: die Grösse des Gegenstands

61-76: das Altertum verherrlichte grosse Männer

77-89: die aktuelle Aufgabe ist noch schwieriger, weil Ursula so gross ist

90-100: Ursulas gute Herkunft

101-150: Ursulas prudentia (Klugheit)

101-111a: ihre prudentia soll besonders gelobt werden

111b-139: Beispielerzählung für prudentia aus ihrem Leben

140-150: Lob von Ursulas prudentia

151-225: Reise und Martyrium Ursulas

151-156a: Überleitung

156b-166: Reisestationen vor Köln

167-183: Begleiter Ursulas

184-254: das Martyrium

184-191a: Angriff der Feinde

191b-216: Ursula beruhigt ihre Begleiterinnen und betet

darin 199-216: Gedicht II (Gebet zu Gott)

217-221a: Tod und Aufnahme Ursulas in den Himmel

221b-225: Nachklang zum Gemetzel (eine Jungfrau, die sich versteckt hatte, stellt sich den Hunnen)

226-254: Schluss

darin 230-253: Gedicht III (Gebet II zu Ursula)

Es verdient festgehalten zu werden, wie sehr Strub Ursulas prudentia (Klugheit) hervorhebt; wurde doch traditionell an ihr der Aspekt ihrer Jungfräulichkeit (virginitas) am stärksten betont. Im Rahmen einer Universitätsveranstaltung ist diese Akzentsetzung verständlich. Auch in dieser Hinsicht (wie auch durch seine stilistische Exuberanz und durch andere Details seiner Gedankengänge) entfernt sich der Humanist Strub weit von dem, was man sich für gewöhnlich unter einer christlichen Erbauungspredigt vorstellt. Es handelt sich bei seinem sermo zu Ehren der Ursula (wie auch später bei dem anlässlich der Katharinenfeier) um «ostentativ humanistisch auftretende Redeakte».

 

Bibliographie

Brandstätter, E./Trümpy, H., Arbogast Strub. Biographie und literarhistorische Würdigung von Elisabeth Brandstätter. Gedächtnisbüchlein herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Hans Trümpy, St. Gallen, Verlag der Ferh’schen Buchhandlung, 1955.

Levison, W.: «Das Werden der Ursula Legende», Bonner Jahrbücher 132 (1928), 1-164.

Worstbrock, F. J., «Strub, Arbogast», Deutscher Humanismus 1480-1520. Verfasserlexikon 2 (2013), 1021-1024.

Zehnder, F.-G., Sankt Ursula. Legende, Verehrung, Bilderwelt, Köln, Wienand, 21987.