Brief an Peter Gölin
Übersetzung (Deutsch)
Übersetzung: Clemens Schlip (französischer Originaltext der Anmerkungen von David Amherdt)
Glarean grüsst den Herrn Peter Gölin.
Gewähre, Arethusa, mir dieses letzte Werk,
Wenige Worte an meinen lieben Peter
Es beliebt mir, Dich mit einem Gedicht Vergils anzusprechen, einen Mann, der mich sehr liebt. Ich könnte Dir eine ganze Ilias schreiben, aber daran hindert mich meine verhasste Sehschwäche, so dass ich mit grosser Mühe kaum diese Worte schreiben konnte. Ich habe Deinen Namen während so vieler Jahre völlig vergessen gehabt, den des Thrasykles nicht ebenso, ich erkenne nämlich meine Frucht.
Ich könnte Dir einen Rechenschaftsbericht über mein Leben schreiben, aber wenn ich das versuche, verlassen mich die Kräfte, nämlich wegen des elenden Zustands meiner Augen; in anderer Hinsicht lebe ich glücklich genug. Ich bin nun 72 Jahre alt. Ich bin nämlich im Jahre des Herrn 1488 im Monat Juni geboren worden. Ungefähr seit zwei Jahren werde ich nun von einem Husten so heftig gequält, dass ich manchmal an meinem Leben verzweifle; ich leide aber, Gott sei Dank, an keiner anderen Krankheit. Ich gebe drei und oft sogar vier Lektionen am Tag; diesen Stein wälze ich; nun habe ich schon 50 Jahre lang Lektionen erteilt, da mir seine [Gottes] Milde eine dauerhafte Gesundheit gewährt hat.
Ich habe nämlich 1510 damit begonnen, in Köln eine Vorlesung über die Aeneis und die Georgica zu halten. Nachdem dort der Zwist mit Reuchlin, einem daran höchst unschuldigen Mann, ausgebrochen war, bin ich nach Basel gezogen, wo es mir gelang, Erasmus von Rotterdam zum Lehrer zu haben. Hierauf kam ich nach Paris. Nachdem ich dort Bekanntschaft mit gelehrten Männern geschlossen hatte, kehrte ich in das sehr wohlhabende Basel zurück, wie ich glaubte, in einen sicheren Hafen. Aber dort hatte Schlampadius die Stadt so hergerichtet, dass ich meinte, ich könne nicht bleiben. Ich ging also nach Freiburg, wo ich mich nun schon das 32. Jahr aufhalte, und ich lebe bereits von einem Stipendium, das ich mir verdient habe; ich bin nämlich zu keiner Vorlesung verpflichtet, da die Universität mir dies grosszügig zugesteht. Ich erteile dennoch in meinem Haus einigen vornehmen jungen Leuten Lektionen, die absolut mit mir zusammen sein wollen, obwohl sie anderswo vielleicht auf stattlicherem Fusse leben könnten. Hier hast Du einige Informationen über mein Lebenselend.
Ich gratuliere Dir zu Deinem Glück, ein höchst würdiges Amt zu verwalten. Was ist nämlich eine würdigere Aufgabe als dem Schafstall Christi vorzustehen, und im Weinberg des Herrn für würdige Weinbeeren zu sorgen? Ich möchte, dass diese Worte Dich davon überzeugen, dass ich Dich von Herzen gerne habe und ich bereit bin, Dir in allen ehrbaren Anliegen Deinen Willen zu erfüllen. Wir werden zusammen im himmlischen Vaterland sein, und ich hoffe, es wird uns dort gutgehen. Denn hier kann man auf nichts hoffen dan angst, unnd nodt, biss in den todt. Möge dieser Brief von mir Dir gleichsam ein μνημόσυνον (Denkmal) unseres alten vertrauten Verhältnisses sein. Lebe wohl. Ich kann kaum mehr schreiben. Nimm Du diesen Brief meiner eingedenk gut auf. Freiburg im Breisgau im Jahre des Herrn 1560, an den Kalenden des Novembers [am 1. November].
Adresse: An den höchst unbescholtenen Mann Herrn Petrus Gölinus, Presbyter der heiligen Religion, Pastor in Wölhsingen, einen sehr würdigen Mann, unseren Freund.