Gessners Leben

Übersetzung (Deutsch)

Übersetzung: Clemens Schlip (französischer Originaltext der Anmerkungen von Kevin Bovier und David Amherdt)


1. [Vorrede] 

[…] Hierauf kam ich zu der Entschliessung, […] dass ich mich auf diese Weise auch öffentlichkeitswirksam um die Studien der jungen Leute verdient machen könne. Denn recht hat jener strenge Greis in der Komödie, wenn er sagt:

Ich gebiete, das Leben aller anderen wie einen Spiegel
Zu betrachten und sich die anderen als Beispiel zu nehmen.
«Das sollst du machen.»
[…]
«Das sollst du vermeiden.»
[…]
«Das bringt Lob ein.»
[…]
«Das bringt Schande.»                               

Und sehr richtig handeln jene, die der Jugend die Biographien berühmter Männer gleichsam als einen Spiegel vorhalten, in dem sie sich herrliche Beispiele anschauen und sie sich als Vorbilder zur Nachahmung nehmen können, wenn ihnen ein Beispiel begegnet, über das man sagen kann: «Das sollst du tun, das bringt Lob ein.». Denn die Philosophen haben zwar sehr schön über alle Arten von Pflichten geschrieben, und die Theologen machen diesbezüglich noch genauere Vorschriften, doch die Fragen, über sie mit scharfsinnigen Worten diskutieren, sind meist sehr unverständlich; die Biographien und die Taten der grössten Männer dagegen erklären das in diesen Fragen Behandelte. […]

 

2. Hindernisse auf dem Bildungsweg

Er fand die Studien angenehm und liess sich von ihnen gefangen nehmen und eilte mit grossem Talent durch alle möglichen Arten von Autoren, Griechen, Lateiner, Dichter, Redner, Historiker, Mediziner, Philologen, vielleicht weil er in seinem jugendlichen Wagemut glaubte, alles gleichzeitig seinem Geist einverleiben zu können, aber auch, um durch eine abwechslungsreiche und vielseitige Lektüre seinen Geist zu liebkosen. Angesichts einer solchen Mannigfaltigkeit liess sich nicht vermeiden, dass er vieles übersprang und nur wenige Bücher vollständig durchlas. Es gab deshalb ausser seiner Armut noch ein weiteres Hindernis, das einer soliden Gelehrsamkeit im Wege stand: sein unsicheres Schwanken in der Wahl der Studienobjekte und seine Ziellosigkeit. Dennoch kommt darin zugleich seine gleichsam göttliche Geisteskraft und natürliche Qualität zum Ausdruck, dass er sich von so vielen Hindernisse freimachen konnte und eine solide und weithin ausstrahlende Gelehrsamkeit errungen hat, und zwar nicht in einem minderen Grad als jene, bei denen von Kindesbeinen an alles nach Wunsch gelaufen ist. Auch darin ist er ein Beispiel für einen aufrichtigen Geist, dass er seine jugendlichen Irrtümer nicht schamhaft verbarg, sondern sie im Freundeskreis und ganz besonders auch in seinen schriftlichen Veröffentlichungen anerkannte und eingestand und den jungen Leuten auf Basis seines eigenen Beispiels riet, wie sie ihre Studien besser planen sollten.

 

3. Leben und Charakter

Nachdem ich seine Studien dargestellt habe, komme ich nun zu seinem Leben und seinem sittlichen Charakter, und weil die fromme Anhänglichkeit an Gott und das Bemühen um die wahre Religion im Leben eines Menschen die erste Stelle einnehmen, werde ich damit anfangen und seine religiöse Gesinnung vorstellen. […] Er pflegte Freundschaft mit vielen, die andere religiöse Ansichten vertraten; doch niemals hat er, um jemandem gefällig zu sein, seine religiöse Überzeugung geändert oder auch nur verheimlicht. Er hörte sich Predigten nicht nur an den Festtagen an, sondern auch jedes Mal, wenn Bullinger, den er vor allen anderen hochachtete, predigte (was jener ausser am Sonntag auch unter der Woche zu tun pflegte), nahm er fleissig daran Anteil und brachte oft einen hebräischen Kodex mit, wenn jener irgendein Buch des Alten Testaments kommentierte. Obwohl er nämlich von Beruf Arzt war, glaubte er – und das mit Recht –, dass nichtsdestoweniger auch die Erkenntnis der wahren Religion eine Angelegenheit sei, die ihn angehe und überhaupt alle Menschen, die den allen gemeinsamen Namen eines Christen schützen wollen. Er setzte auch fest, von den Früchten seiner Studien sei die die vorzüglichste, welche zum Nutzen der Kirche beitrage. Und deshalb verwendete er in seiner «Tiergeschichte» viel Mühe darauf, hebräische Namen zu übersetzen, und hat nahezu alle Stellen der Schrift, an denen Tiere erwähnt werden, genau übersetzt, um, von seinem Beruf ausgehend, denen, die die Heilige Schrift studieren, eine Bequemlichkeit zu verschaffen.

Sein Leben und seine Sitten aber entsprachen seinem Bekenntnis zur wahren Religion. Er verfügte nämlich im höchsten Grade über Menschlichkeit, Einfachheit, Integrität; keine Prahlerei, kein Luxus, nicht einmal eine Spur von Begierde trat bei ihm auf. Auf Scham und Zurückhaltung achtete er so sehr, dass es ihm nicht nur unerträglich war, etwas Obszönes selbst zu sagen oder es von anderen anzuhören, sondern auch, es nur zu lesen; das bezeugt in ausreichendem Masse der von ihm kastrierte Martial. So sehr aber sorgte er sich um die guten Sitten, dass er oft mit den ernsthaftesten Theologen beriet, auf welche Weise man endlich die zusammengebrochene Kirchendisziplin wiederherstellen könne. Es schmerzte nämlich ihn wie alle guten Menschen, dass man nach der Reinigung der religiösen Lehre von so vielen Irrtümern bei der Reformation der Sitten und der Lebenshaltung nur so langsame Fortschritte mache.

 

4. Krankheit, Testament, Glaubensbekenntnis, Tod

Am 9. Dezember begann seine Krankheit, am 13. verstarb er, kurz vor Mitternacht. Zuerst trat an ihm ein Karbunkel auf, auf seiner linken Brust, direkt über dem Herzen. Auch wenn er einer gefährlichen Stelle auftrat, schien er dennoch wenig gefährlich zu sein, weil er keine Kopfschmerzen und kein Fieber hatte und auch kein anderes Symptom spürte. Und sogar seinen Kräften tat die Krankheit fast keinen Abbruch. Niemals legte er sich nämlich nieder, ausser um sich (ohne die Kleider auszuziehen) ein wenig auf seinem Ruhebett zu erholen. Aber da die meisten, die diese Krankheit befiel, starben, kam er zu dem Schluss, dass auch er selbst sterben müsse, obwohl die Kraft der Krankheit anfänglich nicht so gross zu sein schien, und er rief seine Freunde zusammen und verfasste sein Testament; und nachdem er einiges seiner Frau und einiges seinen Enkeln von Schwesterseite vermacht hatte, setzte er für den Rest seine einzige noch lebende Schwester als Alleinerbin ein. Damit seine Arbeitsergebnisse nicht zugrunde gingen, verkaufte er seine gesamte Bibliothek für einen angemessenen Preis an den Arzt Kaspar Wolf und sprach in jenen Tagen seiner Krankheit viel mit ihm über die Plantarum Historia und seine anderen Arbeitsprojekte, die er ihm anempfahl. Er verfasste auch viele schriftliche Mitteilungen, damit nach seinem Ableben weder in seinen Vermögensangelegenheiten noch in seinen Arbeitsprojekten etwas durcheinanderkäme. Ich denke, dass die Gelehrten gerne von seiner Sorgfalt erfahren, denn da er keine Kinder hatte, zeugte es von einer frommen Gesinnung, für Frau, Schwester und Enkel zu sorgen, und weil er viele Arbeitsprojekte um des öffentlichen Nutzens willen in Angriff genommen hatte, handelte er noch auf dem Sterbebett weise und fromm im Interesse der Nachwelt, indem er seine noch unreifen Geistesfrüchte einem treuen, gelehrten und fleissigen Freund anvertraute, der sie zur Vollendung führen und schliesslich ans Tageslicht bringen sollte.

Die Diener der Kirche besuchten ihn häufig, und er hörte sich gerne ihre tröstenden Reden an und unterhielt sich mit ihnen über die selige Hoffnung, die uns die Heilige Schrift in Christus in Aussicht stellt. Am Vortag seines Todes legte er, nachdem er sich mit dem hochberühmten Heinrich Bullinger, den er hochschätzte, noch viel über häusliche Angelegenheiten gesprochen hatte, schliesslich in dessen Gegenwart ein herrliches persönliches Glaubensbekenntnis ab und erklärte in einer ernsten Rede, er sei bereit, in diesem Glauben zu sterben. Ja, als ich ihn zwei Tage vor seinem Tod mit anderen zusammen besucht hatte, sagte er unter anderem, er gebe sein Leben zwar verloren, wenn er auf die Natur und die Kraft der Krankheit blicke, er sei aber bereit, aus diesem Leben, das nicht nur voller Elend und Unglück, sondern auch (was schlimmer sei) voller Sünden sei, in jenes andere, selige Leben hinüberzugehen, dass frei von Verderbnis und Laster sei.

Es war schon der fünfte Tag seit Beginn seiner Krankheit: Die Ärzte hatten zwar noch nicht alle Hoffnung aufgegeben, machten sich aber doch grosse Sorgen um sein Leben, er selbst aber hatte den Eindruck, es gehe ihm wieder ein wenig besser. Deshalb bedankte er sich bei einigen seiner Freunde, die nachts an seiner Seite sein und dem Kranken beistehen wollten, und sagte, er bedürfe ihrer Hilfe nicht. So fiel er, der in seinen Leben vielen nützte, niemandem zur Last, und duldete auch nicht, dass seine Krankheit irgendjemandem ausser ihm selbst zur Last fiele. Er liess sich in sein Schlafgemach führen, in dem er immer zu ruhen gepflegt hatte, und begab sich in Anwesenheit einer einzigen Magd zur Ruhe, wobei er äusserst inbrünstig zu Gott betete. Um die elfte Stunde der Nacht aber bemerkte er, dass die Kraft der Krankheit ihn überwältigte; er rief seine Frau zu sich und wollte in sein Arbeitszimmer zurückgeführt werden, in dem er sich am Vortag ein Bett hatte aufstellen lassen, und dort hauchte er wenig später friedlich seinen Geist aus, in den Armen seiner Frau und unter frommen Gebeten. Die ganze Stadt trauerte über seinen Tod. Deshalb haben am nächsten Tag Männer aus allen Ständen seinen Leichenzug begleitet und ihn im Kreuzgang des Grossmünsters beigesetzt, neben dem Grab des Johannes Fries, der ihm im Vorjahr vorausgegangen war, so dass nach seinem Tode nun die Leiber der beiden Männer vereint wurden, die geistig einander immer sehr nahegestanden hatten. Auf seinen Posten wurden durch Beschluss des hochherrlichen Rates hin die hochberühmten Ärzte Georg Keller und Kaspar Wolf berufen, die nun in unserer Hochschule Philosophie lehren und sich sehr erfolgreich auch als Ärzte betätigen.