Der Niesen
Übersetzung (Deutsch)
Übersetzung: Clemens Schlip (französischer Originaltext der Anmerkungen von Kevin Bovier)
Am folgenden Tag bestiegen wir den Niesen; es stand uns aber noch viel Mühe und ein weiter Weg bevor; wir wollten nämlich am Abend dieses Tages in Sigriswil essen und vorher noch die St. Beatus-Einsiedelei besuchen. Übrigens schien uns noch ein ordentliches Stück Weges bevorzustehen, und das auch noch durch den untersten Teil des Tales hindurch, und dabei waren wir ja auch noch müde und von den Anstrengungen des vorigen Tages erschöpft, doch die Tatsache, dass wir uns derart nahe eines berühmten Berges befanden, und sein liebliches Aussehen bewogen uns derart, dass ich die Ansicht vertrat, man dürfe eine so gute Gelegenheit, wie sie sich aus seiner Nähe ergab, nicht ungenutzt lassen. Als die Morgenröte voll erschienen war, brachen wir auf und gelangten – nur in Begleitung eines Knechts, damit uns möglichst wenig behindere oder zu Zeitaufwand zwinge (wie das ja zu geschehen pflegt, wenn mehrere Leute sich auf eine Wanderung begeben) – gegen Mittag auf den Berggipfel und hatten zuvor nur bei einem Sennhüttchen eine kleine Pause gemacht.
Wenn man Erlenbach verlässt, muss man aber jenen Sturzbach, die Simme, auf einer Brücke überqueren, dort wo sie mit lautem Brausen über die Felsen hinabstürzt, und von dort aus führen Wiesen allmählich zum unteren Wald. Der Berg ist in seiner Mitte geradezu aufs dichteste bewachsen von vertrauten Baumarten, Fichten, Buchen und zwei Arten von Ahorn, andere habe ich nicht erblickt. Wenn man den Wald verlässt, trifft man auf nährreiche Weidegründe. Denn der Berg ist bis zu seinem Gipfel nackt und unbewachsen von allen Arten von Bäumen; das liegt meiner Meinung nach an seiner enormen Höhe.
Die Leute, die unmittelbar neben dem Berg wohnen, nennen ihn den Stalden, besonders dort, wo man von Erlenbach aus seine Westflanke besteigt. Andere, die ihn mehr aus der Ferne kennen, nennen ihn den Niesen, nach der Weissen Nieswurz, die dort in grosser Menge wächst. Es gibt aber Leute, die meinen, man müsse ihn eigentlich den Jesen nennen, und man habe erst danach begonnen, ihn statt Jesen Niesen zu nennen, nachdem der Artikel [«der»] mit dem Namen [«Jesen»] verschmolzen sei.
Der Name dieses Berges existiert aber doppelt, es gibt den oberen [Niesen] und den unteren [Niesen]. Der obere steigt mehr zum Süden hin mit einem hohen Gipfel empor; der untere ist der bei weitem lieblichste von allen Bergausläufern der Walliser Gipfellandschaft; sein äusserster Vorsprung läuft in eine plane Ebene zum See hin aus.
Diese Bergregion wird im Westen begrenzt vom Simmental, das einen Halbkreis formt, wie ich oben schon gezeigt habe; östlich davon liegt das Tal von Adelboden, dessen Name schon hinreichend aussagt, da man es gleichsam einen Adler- oder Adelboden nennt. Auch dieses Tal hat eine gebogene Form, so dass es mit dem Simmental zusammen einen Kreis formt, dessen zwischen ihnen liegenden Durchmesser diese Bergregion bildet, die beide Täler voneinander trennt. Aber wir werden hier nicht über die gesamte Region schreiben, denn das wäre eine aufwändigere Arbeit als wir sie uns vorgenommen haben.
Für diejenigen, die ihn aus der Ferne betrachten, erhebt sich der Niesen dreieckig bzw. dreiwinkelig. Einer seiner Winkel blickt nach Osten, der zweite wendet sich uns in Bern entgegen, der dritte richtet sich gen Westen. Sie alle kommen an dem stumpfgeformten Gipfelpunkt zusammen. Übrigens bemerken diejenigen, die ihn aus der Höhe betrachten, leicht, dass seine vierte Flanke (steinig und weniger fruchtbar) nach Süden hin abfällt. An vielen Stellen kann man ihn an seinen Flanken erklimmen, die sich lang hinziehen, hinab zu der darunterliegenden Ebene; die westliche Flanke aber, die einen Einschnitt erfährt durch ein in sie eingefügtes Tal, ermöglicht einen leichten Aufstieg. Sein höchster Gipfel trägt den Namen «Wilder Andreas» (Zum Wilden Andres); an diesem Platz pflegen inmitten von grossen Steinen und Felsen diejenigen Rast zu halten, die den Berg besteigen, weil sie Lust dazu haben. Davon zeugen Aufschriften, Gedichte und Sprichwörter, die zusammen mit den Portraits und den Namen ihrer Urheber auf die Felsen geschrieben sind. Unter anderem kann man hier jene Sentenz eines gelehrten und von der Lieblichkeit der Bergwelt in Bann geschlagenen Mannes erblicken:
«Bergliebe ist die schönste Liebe».
Ich meine aber, dass man nicht leicht einen Berg finden kann, der diesem an Lieblichkeit gleichkommt, sowohl wegen der offenen Aussicht nach allen Richtungen als auch wegen der Mannigfaltigkeit an Pflanzen, die auf diesem Berg durchaus vielseitig ist. Ja, dem Blick derer, die am «Wilden Andreas» auf einem Felsen sitzen, bieten sich ungefähr dreissig Pfarreien dar, das heisst Dörfer oder Städte, die über einen eigenen Pfarrer und eine eigene Kirche verfügen. Füge dazu noch mehrere alte Burgen, Landgüter und Seen, ausserdem noch Flüsse hinzu; diese Dinge alle mit einem einzigen Blick anschauen zu können ist sehr reizvoll.