Beschreibung des Fracmont oder Pilatus
Übersetzung (Deutsch)
Übersetzung: Clemens Schlip (französischer Originaltext der Anmerkungen von Kevin Bovier)
Luzern
Die Stadt Luzern besitzt unter den Schweizern einen grossen Namen, sie ist vorzüglich durch ihr Kloster berühmt, dessen Gründer ein gewisser Presbyter Wighard war, ein Bruder des Herzogs Rupert von Alemannien und Schwaben, ungefähr im Jahre 810 nach der Geburt unseres Herrn. Man sagt nämlich, die Stadt sei nach dem Kloster und gleicherweise im Interesse des Klosters gegründet worden. Die Bürger sind menschlich und gastfreundlich, und nicht wenige sind wohlhabend. Es existieren viele Zeugnisse ihrer kriegerischen Tapferkeit. Der Ort ist sehr lieblich, und zugleich kommt die Brauchbarkeit für Fischerei, Transport und Befestigung durch den See und den Fluss Reuss hinzu, der dort aus dem See, den er gebildet hatte, herausströmt. Zwei nicht überdachte Brücken führen über den Fluss und ebenso viele überdachte Brücken über den See (sie werden mit Planken bedeckt); die eine der Seebrücke, die längere, erstreckt sich über ungefähr 500 Schritt. Von der anderen Seite her ist die Stadt sicher und geschützt durch einen hohen Hügel, den auch Mauern umgeben. Aber die Beschreibung der Stadt überlasse ich anderen. Der Fuss des Berges Fracmont, den wir bestiegen haben, ist ungefähr einen Weg von anderthalb Stunden entfernt (Ich höre, dass man ihn auch auf einem anderen kürzeren Weg besteigen kann, aber dieser ist steiler).
Die fünf Sinne
[…]
Welcher Sinn nämlich geniesst hier nicht das ihm gemässe Vergnügen? Denn was den Tastsinn angeht, so wird der ganze Körper, der unter Hitze leidet, durch das Angeweht-Werden von der Bergluft, die sowohl die Körperoberfläche von allen Seiten her anhaucht als auch mit offenem Munde verschlungen wird, auf einzigartige Weise erfrischt, gemäss jenem Homerwort: Ζώγρει ἐπιπνέιων ψυχρὸς Βορέαο ἀήτης («Es belebt ihn der anwehende Wind des kalten Boreas»). Der Körper, der Wind und Frost erfahren hat, wird wiederum durch das Herumwandern oder das Feuer in den Hirtenhütten warm werden.
Der Sehsinn wird durch den wunderbaren und ungewohnten Anblick der Berge, Bergjoche, Schluchten, Täler, Flüsse, Quellen, Weiden erfreut. Was die Farbe betrifft, so grünt und blüht fast alles; was die Gestalten der Dinge betrifft, die man sieht, so sind die Erscheinungsbilder der Felsen, Schluchten, Krümmungen und anderer Dinge wunderbar und selten, bewundernswürdig sowohl durch ihre Gestalt als auch durch ihre Grösse und Höhe. Wenn man seine Sehschärfe anstrengen, seinen Blick schweifen lassen und weit und breit vorausschauen und auf alles umherblicken kann, fehlt es nicht an Höhlen und Felsen, wo man mit dem Haupt schon zwischen Wolken wandeln scheint. Wenn man dagegen seinen Blick lieber konzentrieren will, wird man Weiden und grünende Wälder erblicken oder auch betreten, oder wenn man noch konzentrierter blickt, wird man dunkle Täler, schattige Schluchten, finstere Höhlen anschauen. Wenn aber jede Abwechslung und Mannigfaltigkeit an Dingen angenehm ist, dann ist es wohl am meisten die an Sinneswahrnehmungen. Eine solche Mannigfaltigkeit findet man aber nirgendwo wie im Gebirge, jedenfalls auf einem so beschränkten Raum. […]
Den Hörsinn werden die angenehmen Gespräche mit Gefährten und ihre Scherze und Spottreden erfreuen und die sehr lieblich klingenden Gesänge der Vögelchen in den Wäldern und schliesslich das Schweigen der Einöde selbst. Nichts kann hier den Ohren lästig fallen, nichts ihnen ungelegen sein, keine Tumulte oder Stadtgeräusche, keine menschlichen Streitereien. Hier wird man in einem tiefen und gleichsam religiösen Schweigen von den sehr hohen Bergjochen fast die Harmonie der Himmelssphären, wenn es sie denn gibt, zu hören meinen.
Auch süsse Düfte bieten sich, von den Kräutern, Blumen und Stämmen ausgehend, dar. Im Gebirge wachsen die Pflanzen (es sind dieselben) sowohl duftreicher als auch mit kräftigerer medizinischer Wirkkraft als in der Ebene. Hier ist die Luft weit freier und heilsamer und nicht so von dichten Rauchschwaden befallen wie in der Ebene, und auch nicht ansteckend oder ekelhaft wie in den Städten und anderen menschlichen Behausungen. Auch wenn die Luft von der Nase zum Hirn, von den Arterien zu den Lungen und dem Herz hingeleitet wird, schadet sie hier nicht nur nicht, sondern ist sogar zuträglich.
Das Vergnügen für den Geschmackssinn habe ich schon oben gefeiert, das Trinken von kaltem Wasser. Dieses wird freilich die Erschöpften und Dürstenden hier ganz ohne Schaden erfreuen oder mit einem viel geringeren als es in der Ebene oder zu Hause der Fall wäre. Zuerst ist das Wasser nämlich im Gebirge reiner und besser, zumal um die mittlere Höhe herum, wenn ich mich nicht täusche, wo es weder zu kalt noch schneeig, und dennoch rein und durchseiht und noch von der frei wehenden Luft verfeinert ist. […]