Was ist Neolatinistik?
Autor: Clemens Schlip. Version: 05.09.2023.
Neulatein: ein Begriff und seine Bedeutung
Das Portal Humanistica Helvetica widmet sich der «Lateinischen Literatur der Schweizer Humanisten des 16. Jahrhunderts». Es ist damit der Neolatinistik oder Neulateinischen Philologie zuzuordnen, einer noch verhältnismässig jungen und in der breiten Öffentlichkeit wenig bekannten Disziplin. Da Humanistica Helvetica sich bewusst nicht nur an ein wissenschaftliches Fachpublikum richtet, soll im Folgenden kurz erklärt werden, was es mit Begriffen wie «Neolatinistik» oder «Neulatein» auf sich hat. Diese kleine Einführung gliedert sich in drei Teile: 1. Was ist Neulateinische Philologie und womit beschäftigt sie sich? 2. Was macht den Reiz Neulateinischer Philologie aus? und 3. Was ist ihre aktuelle Situation, und was sind ihre Probleme?
1. Was ist Neulateinische Philologie und womit beschäftigt sie sich?
Neulateinische Philologie ist die Wissenschaft, die sich mit denjenigen lateinischen Texten beschäftigt, die ab dem Aufkommen des Humanismus bis zum heutigen Tage entstanden sind; je nach Region liegt der zeitliche Beginn also zwischen etwa 1300 und 1450. Die Grenzen zur mittellateinischen Forschung können gerade im Frühhumanismus natürlich fliessend sein. Das Hauptinteresse der neulateinischen Forschung liegt ausweislich der veröffentlichten Forschungsbeiträge generell vor allem auf den Jahrhunderten der Frühen Neuzeit (der Renaissance, der immer besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde, und auch der Barockzeit, bis ins 18. Jahrhundert hinein), in denen Latein (pauschal betrachtet) noch in allen Bereichen schriftstellerischer Produktion (von der Dichtung bis zur Wissenschaft) eine dominante Position einnahm; es entstehen aber auch nicht wenige Forschungsbeiträge zu später erschienenen lateinischen Werken des 18.-21. Jahrhunderts. Die gelegentlich aufflammende Diskussion darüber, ob Begriffe wie Mittellatein oder Neulatein glücklich gewählt sind – suggerieren sie doch sprachgeschichtliche Entwicklungsstufen analog zum Mittelhochdeutschen oder Mittelfranzösischen, wovon beim Lateinischen in derart ausgeprägter Form nicht die Rede sein kann – kann hier ausser Betracht bleiben; diese Termini haben sich nun einmal eingebürgert und erfüllen zweifelsohne eine wichtige Orientierungsfunktion. Jeder Versuch einer Abgrenzung zwischen mittel- und neulateinischer Literatur ist natürlich potentiell dem Vorwurf grober Vereinfachung ausgesetzt. Generell gesprochen, ist das besondere Charakteristikum neulateinischer Literatur ihre wieder stärkere Orientierung am Vorbild des klassischen Lateins – also besonders des Lateinischen, wie es im 1. Jahrhundert v. Chr. und im 1. Jahrhundert n. Chr. geschrieben wurde – und die Abkehr von manchen Normentfaltungen und Sprachentwicklungen, die es im Mittelalter gegeben hatte. Dabei ist gleich festzuhalten, dass die Humanisten sich bei der Wahl ihrer sprachlichen Vorbilder nicht exklusiv auf diese Periode beschränkten, und dass diese sprachliche Neuorientierung zunächst einmal ein theoretisches Postulat war, das in der Praxis nicht überall mit der gleichen Stringenz umgesetzt wurde. Auch blieb das sogenannte «scholastische Latein» des Mittelalters in manchen Bereichen durchaus lebendig.
Die neulateinische Literatur beginnt also allgemein gesprochen mit den italienischen Frühhumanisten, die sich wie auch ihre Nachfolger stilistisch bewusst an antike Vorbilder anschliessen wollten, und es lässt sich sagen, dass die Humanisten die Art und Weise, wie Latein fortan geschrieben wurde, dauerhaft geprägt haben, denn Latein lernte man in der Folgezeit im Sinne des von ihnen geprägten Stilideals. Es ist aber wichtig, daran zu erinnern, dass das nicht bedeutet, dass jeder, der ab etwa 1450 lateinische Texte verfasst hat, automatisch ein Humanist ist – wobei natürlich auch da zu fragen wäre, was einen Humanisten eigentlich ausmacht und welche verschiedenen Unterarten es da gab. Auch das Portal Humanistica Helvetica, das sich primär den Schweizer Humanisten widmet, bietet Autoren, die man nicht zuallererst als Humanisten definieren würde; zum Beispiel den Jesuitenpater Petrus Canisius, den Vorkämpfer der katholischen Reform, der die humanistische Sprachschulung erhalten hatte, dessen Lebenshaltung und geistige Interessen aber insgesamt wenig mit dem Humanismus zu tun haben. Kurz: Neulateinische Literatur ist ohne den Humanismus nicht zu denken, sie ist aber nicht mit diesem identisch. Man muss etwa auch bedenken, dass das Lateinische auch bei der Entstehung der modernen Naturwissenschaften Verwendung fand und dort bis mindestens 1700 die unumstritten vorherrschende Sprache war.
Die Forschungsgegenstände der Neolatinistik können also mehrere hundert Jahre alt sein, die Disziplin aber noch recht jung. Ein Bewusstsein, dass es sich bei der seit dem italienischen Frühhumanismus entstandenen lateinischen Literatur um eine eigene Phase der lateinischen Literatur handelt, die einer historischen Betrachtungsweise zugänglich ist (also nicht etwa einfach je nachdem als zeitgenössische Literatur oder als bruchlose Fortsetzung der Antike betrachtet wird), entstand im 18. Jahrhundert. «Neulateinisch» als Bezeichnung einer eigenen Phase in der Geschichte der lateinischen Literatur begegnet zuerst im Jahr 1795 als Titel einer Anthologie mit lateinischen Texten neuzeitlicher Autoren vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. Als im 19. Jahrhundert dann die moderne philosophische Fakultät entstand, fiel die neulateinische Literatur als wissenschaftliche Disziplin allerdings unter den Tisch. Die Klassische Philologie fühlte sich für nachantikes Schrifttum nicht zuständig, und die modernen Philologien, allen voran die Germanistik, betrachteten neulateinische Autoren tendenziell als ärgerliche Anachronismen, die die Entstehung der Nationalliteraturen behindert hätten; nur in Italien war man weniger feindselig. Eine gewisse Anzahl von neulateinischen Texten war freilich in verschiedenen Disziplinen doch präsent, weil man um sie eben doch nicht völlig herumkam, wenn man die frühe Neuzeit verstehen wollte. Gerade auch in der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts prächtig entwickelnden Renaissanceforschung (Jacob Burckhardt etc.) rezipierte man selbstverständlich neulateinische Texte. Die Neolatinistik als eigene Disziplin ist jedoch im Wesentlichen erst der genialen Intuition des Belgiers Jozef IJsewijn zu verdanken, der 1966 in Löwen das Seminarium Philologiae Humanisticae begründete und kurz darauf (1968) die erste exklusiv dem Neulateinischen gewidmete Fachzeitschrift, Humanistica Lovaniensia. Seit 1971 existiert die von ihm ins Leben gerufene International Association for Neo-Latin Studies als internationaler Fachverband für neulateinische Forschung. In den Folgejahrzehnten kamen weitere Institutionen und (nationale) Verbände hinzu, ausserdem gibt es mittlerweile weitere Fachzeitschriften (daneben Zeitschriften in anderen Disziplinen, die neulateinischen Forschungen offenstehen), Handbücher, Webressourcen etc. Auf eine lange Auflistung kann hier verzichtet werden; was bibliographische Hilfsmittel für die neulateinische Forschung betrifft, bieten wir an anderer Stelle auf diesem Portal eine nützliche, auf das Thema des Portals Humanistica Helvetica abgestimmte Auswahl.
Im Unterschied zur klassischen lateinischen Philologie, die sich mit der lateinischen Literatur der Antike beschäftigt, ist der Forschungsgegenstand der Neolatinistik wesentlich umfangreicher, ja dieser Forschungsgegenstand ist bislang noch nicht einmal in seinem ganzen Umfang bekannt. Man muss sich vor Augen halten, dass es sich bei 70% aller Inkunabeldrucke bis 1500 um Werke in lateinischer Sprache handelt, und dass noch auf der Leipziger Buchmesse des Jahres 1701 mehr als jede zweite Neuerscheinung (55%) in Latein verfasst war. Die Gesamtzahl der neulateinischen Werke geht in die Millionen. Alleine in Tirol, der in dieser Hinsicht nahezu einzigen gründlich erforschten Region, lassen sich 2400 neulateinische Autoren und 7300 Werke finden. Es drängt sich unwillkürlich das Bild eines Eisberges auf, von dem bislang nur eine kleine Spitze zu sehen ist, während die grosse Masse von Texten noch im Verborgenen ruht – oder das eines neuentdeckten Kontinents, der bislang erst in seinen groben äusseren Umrissen bekannt ist. Das Los eines schier unüberschaubaren Forschungsmaterials teilt die Neolatinistik natürlich grundsätzlich mit ihren modernen Schwesterphilologien wie der Germanistik, Anglistik und Romanistik; aber auch im Vergleich zu diesen ist der bisher erreichte Erschliessungsgrad erkennbar gering. Das ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass neulateinische Forschung von vergleichsweise wenigen und erst seit relativ kurzer Zeit betrieben wird.
2. Was macht den Reiz der Neolatinistik aus?
Aufgrund des ungeheuren und nur ansatzweise erschlossenen Textmaterials ermöglicht neulateinische Forschung noch echte grundlegende Primärforschung, wovon in weiten Teilen der Klassischen Philologie heute nicht mehr ernsthaft die Rede sein kann. In der Neulateinischen Philologie gibt es somit theoretisch noch die Möglichkeit, vergessene Meisterwerke zu entdecken; aber man muss sich gar nicht auf Meisterwerke kaprizieren, sondern darf festhalten: solange das Corpus der neulateinischen Schriften nicht zufriedenstellend erforscht ist, wird das Verständnis der neuzeitlichen Geistesgeschichte notwendig defizitär bleiben. Es wäre ein frevelhaftes Versäumnis der gesamten scientific community, wenn ein solcher Zustand toleriert würde.
Das vom SNF geförderte Projekt Humanistica Helvetica hat seine Heimstatt am Freiburger Institut für Antike und Byzanz gefunden, obwohl auf den ersten Blick erkennbar ist, dass es sich unmittelbar weder mit der Antike noch mit Byzanz beschäftigt. Das hat Folgen für die alltägliche Arbeit: Mag das Institut für Antike und Byzanz auch über eine exzellente und umfangreiche Bibliothek verfügen, so frequentieren die Mitarbeiter des Projekts viel häufiger als diese die Freiburger Teilbibliotheken für Geschichte und Theologie sowie die Teilbibliothek für Germanistik; denn hier und nicht dort finden sie die Bücher, die sie für ihre Forschung benötigen. Für die tägliche Arbeit Humanistica Helvetica ist plakativ gesagt die zwinglianische Theologie deutlich bedeutsamer als die Philosophie Platons, und die Kappeler Kriege wichtiger als die Punischen Kriege. Das Beispiel von Humanistica Helvetica alleine beweist also schon, dass Neulateinische Philologie Möglichkeiten für echte und sinnvolle Interdisziplinarität eröffnet. Sie teilt das Interesse an ihren Texten nicht selten mit anderen Disziplinen – in Kontext von Humanistica Helvetica besonders Germanistik, Geschichte und Theologie, aber etwa auch der Musikwissenschaft – doch steht sie zugleich vor der Aufgabe, eine eigene, primär literarische und philologische Perspektive auf diese Texte zu finden. Aus den besonderen Eigenschaften neulateinischen Schrifttums ergeben sich spezifische Herausforderungen für die Forschenden: Wer Neulateinische Philologie betreibt, muss zum einen gründliche Kenntnisse der antiken Tradition besitzen, da er sonst nicht nachvollziehen kann, wie neulateinische Autoren, nicht zuletzt die Dichter, sich immer wieder produktiv mit dem klassischen Erbe auseinandersetzen. Darin liegt begründet, dass ein grosser Teil der neulateinischen Forschung von Personen betrieben wird, die von der traditionellen, sich der Antike widmenden, Latinistik in sie hineingefunden haben. Neulateinische Philologie erfordert zum anderen aber auch die Bereitschaft und Fähigkeit, sich gründlich in die Geistesgeschichte und die sozialen und politischen Hintergründe der Frühen Neuzeit einzuarbeiten. Denn Neulateinische Philologie ist weit mehr als bloss «Rezeptionsgeschichte der Antike»; die neulateinische Literatur war für ihre eigene Zeit bestimmt und wollte in ihrer Zeit wirken. Und diese Zeit war nicht die Antike. Neulateinische Philologie setzt also neben tiefer Kenntnis der (paganen ebenso wie der christlichen) Antike und ihrer Literatur sowie der lateinischen (und am besten auch der griechischen) Sprache generell auch geistige Offenheit, intellektuelle Neugier und ein ausgeprägtes Interesse an historischen und geistesgeschichtlichen Entwicklungen der Neuzeit voraus; das schliesst notwendig auch eine Bereitschaft zur Beschäftigung mit dem Mittelalter ein, insofern dieses in vielen Bereichen (Politik, Kirche, Theologie etc.) bis weit in die Neuzeit hinein wirksam ist.
3. Was ist die aktuelle Situation der Neolatinistik und was sind ihre Probleme?
Die Neolatinistik ist eine junge Disziplin, die sich in wenigen Jahrzehnten verblüffend entwickelt hat und in stetigem Wachstum begriffen ist. Wie bereits erwähnt, gibt es längst mehr als eine exklusiv der neulateinischen Forschung gewidmete Fachzeitschrift, und auch klassisch-philologische und neuphilologische Zeitschriften veröffentlichen entsprechende Artikel. Die International Association for Neo-Latin Studies hat heute deutlich mehr als 1000 Mitglieder, was sich ihr Gründer IJsewijn vermutlich nie hätte träumen lassen. Dieser positive Befund kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Neolatinistik ein kleines Fach ist und insgesamt unter mangelnder institutioneller Verankerung leidet. Die Zahl der auf Neolatinistik (exklusiv oder in Verbindung mit Mittellatein) spezialisierten Lehrstühle oder gar Institute ist gering. In der Schweiz gibt es nichts dergleichen; explizit neulateinische Lehre ist dort nur in Gestalt einer Freiburger Lehr- und Forschungsratsstelle präsent. Meistens findet man neulateinische Forschende in Instituten für Klassische Philologie, mitunter auch in den modernen Philologien oder an historischen Seminaren. Im deutsch- und französischsprachigen Raum, der für dieses zweisprachige Projekt von besonderem Interesse ist, dürfte derzeit an den meisten Instituten für Klassische Philologie neulateinische Forschung irgendwie präsent sein. Das bedeutet zum einen: Wer Neulateinische Philologie betreibt, hat meist erst von aussen, etwa von der Klassischen Philologie, in sie hineingefunden; und oft ist er auch weiterhin zugleich (oder sogar hauptsächlich) in einer anderen Disziplin tätig, betreibt neulateinische Studien also in vielen Fällen nur nebenbei und gelegentlich. Und das bedeutet zum anderen: Mag die Zahl der Neolatinisten grundsätzlich auch stetig wachsen; in den Instituten, in die sie integriert sind, bleiben sie eine Minderheit, die potentiell allen Nachteilen ausgesetzt ist, die ein derartiger Minderheitenstatus mit sich bringen kann (Vorteile bietet er eher selten). Wenn Neulateinische Philologie im Kontext einer anderen Disziplin betrieben wird (und mag sie mit ihr noch so eng verwandt sein, wie die Klassische Philologie), stellt sich zudem unweigerlich die Frage, welchen Stellenwert sie dort hat. Wird zum Beispiel eine Qualifikationsarbeit über Autoren wie Angelo Poliziano oder Willibald Pirckheimer in der Klassischen Philologie genauso wertgeschätzt wie eine über Ovid oder Livius? Auch von der Antwort auf solche Fragen wird es abhängen, wie die Neolatinistik sich in der Zukunft weiterentwickelt. Nicht zufriedenstellend ist in jedem Fall unverkennbar die bisher erreichte Einbindung der neulateinischen Literatur in das «ganz normale» Lateinstudium – obwohl zum Beispiel der Konstanzer Latinist Manfred Fuhrmann seine Fachgenossen im deutschsprachigen Raum schon vor Jahrzehnten aufgefordert hatte, sich bei der Gestaltung der Studiengänge von der Konzentration auf den «Guckkasten Antike» zu befreien und im Sinne einer diachron arbeitenden Latinistik das mittelalterliche und humanistische Schrifttum in grossem Umfang zu integrieren (im Sinne seines Konzepts von «Latein als Schlüsselfach der europäischen Tradition»). In der Theorie hat er mit seinen Vorschlägen durchaus Anklang gefunden, aber mit der Umsetzung in der Praxis hapert es bis heute. Es ist je nach Universität auch heute noch durchaus möglich, dass Studierende ihr Lateinstudium erfolgreich absolvieren, ohne einen einzigen neulateinischen Text auch nur in der Hand gehabt zu haben. Das ist nicht zuletzt deshalb bedauerlich, weil neulateinische Texte es sogar schon Studierenden ermöglichen können, etwa im Rahmen ihrer Abschlussarbeiten echte Primärforschung zu betreiben, etwas, wovon sie bei der Beschäftigung mit den hoffnungslos überforschten klassischen lateinischen Texten nicht einmal träumen können. Dieses Potential sollte stärker genützt werden. Man muss freilich konstatieren, dass bei manchen klassischen Philologen unverkennbar eine gewisse Schwellenangst besteht, sich mit den geistigen Welten der Neuzeit auseinanderzusetzen (um nicht gar von einer Schrebergartenmentalität zu sprechen).
Dass eine Disziplin, die über wenige eigene Strukturen verfügt, zudem in ihrer Aussenwirkung auf die breite Öffentlichkeit gehemmt ist, liegt auf der Hand; für das breite Publikum bleibt Latein primär die Sprache der alten Römer. Humanistica Helvetica versteht sich nicht zuletzt als Initiative, die helfen soll, dieses einseitige Bild von der lateinischen Sprache zu korrigieren.
Weitere Probleme teilt die Neolatinistik mit anderen Disziplinen. Der allgemeine Rückzug der alten Sprachen aus den Curricula der höheren Bildungsanstalten fügt den Geisteswissenschaften in ihrer Gesamtheit enormen Schaden zu, ist aber natürlich für die Klassische und die Neulateinische Philologie eine besondere Herausforderung. Die schon seit langem konstatierte und stetig zunehmende «Lateinarmut in den Geisteswissenschaften» könnte zudem dazu führen, dass in manchen Disziplinen jede Erinnerung an die Bedeutung der lateinischen Sprache in der Neuzeit verloren geht; damit wären sie freilich auch selbst nicht mehr in der Lage, ein adäquates Bild von dieser Epoche zu gewinnen. Das breite Dienstleistungsangebot, das die Neolatinistik anderen Fächern, die sich mit der Frühen Neuzeit beschäftigen, machen kann, könnte dann im Extremfall ins Leere zielen, weil dort niemand mehr auf die Idee käme, es in Anspruch zu nehmen. Dass es äussere und innere Bedrohungen gibt, unter denen heute alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen gemeinsam leiden (von aussen: kurzsichtige Ökonomisierung des Bildungssektors; Abnahme der Bildungsinteressen in der Bevölkerung und geschichtsvergessene Gegenwartszentriertheit; von innen: abgehobene Theoriedebatten anstatt echter Forschung; Tendenzen zur Ideologisierung auf Kosten des reinen, am Sachgegenstand interessierten Wissens- und Erkenntnisdranges etc.) ist so selbstverständlich, dass es hier nicht vertieft werden muss.
Kurzgefasst: die Neolatinistik ist eine noch in rascher Entwicklung begriffene junge Disziplin mit einem beträchtlichen Innovationspotential, das noch nicht ansatzweise ausgeschöpft wurde. Inwiefern sie dieses Potential wird weiterhin fruchtbar machen können, ist nicht zuletzt davon abhängig, ob die derzeit noch durchaus unbefriedigenden institutionellen Rahmenbedingungen neulateinischer Forschung sich künftig verbessern (oder wenigstens nicht verschlechtern). Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, darauf hat leider niemand weniger Einfluss als die Forschenden selbst.
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