Rätische Landeskunde in zwei Büchern und Traktat zu Providenz und Prädestination

Traduction (Allemand)

1. Rätische Landeskunde in zwei Büchern: interpretatio Christiana von Brauchtum

Ausserdem halten die Leute in jenem Teil «über dem Wald» (um ebenfalls, bevor ich weiterfahre, zu berichten, was Herr Tschudi und der von ihm abhängige Herr Stumpf davon erzählen und ich mit eigenen Augen gesehen habe) überall am folgenden, auf Aberglauben beruhenden Brauch fest, der ihnen zweifelsohne von den Heiden zugetragen wurde und ihnen nun wie ein ererbtes Besitztum anhängt. Zu bestimmten Zeiten im Jahr, hauptsächlich zur Zeit des sogenannten «heiligen Brauchs der Bacchanalien», rottet sich eine bestimmte Zahl von ihnen zusammen, bedeckt, um nicht erkannt zu werden, ihre Gesichter mit Masken, zieht weiter einen Lederharnisch oder eine entsprechende Ausrüstung an und bewaffnet sich mit Stöcken bzw. Stangen und Knüppeln; an ihrem Rücken hängen zudem grosse Schellen. Diese lassen sie hell und laut klingen, wenn sie im Lauf schwarmweise durch die Dörfer eilen sowie mit Hilfe der Stöcke hoch in die Luft springen und dabei wunderliche Verrenkungen vollführen. Bei einem heiligen Eid bezeugen sie, sie würden bei diesem Anlass nie die geringste Müdigkeit verspüren, solange die Montur von heidnischer Art schwer auf ihnen laste; doch nach deren Ablegen seien sie sogleich so erschöpft, dass sie sich kaum noch rühren könnten. Ebenso wenig könnten sie bei anderer Gelegenheit ausserhalb jener dem Aberglauben ergebenen Clique, wenn sie ihre Ausrüstung abgelegt bzw. sich jener Kleidung entledigt hätten, gleich hoch und weit springen wie bei der Pflege jenes Brauchs, bei dem sie in ungestümem Lauf aufeinander zu rennen und derart mit voller Wucht gegeneinanderprallen, dass ein überaus lautes Krachen zu hören ist. Weil sie mit ihren Stangen und Stäben auf Leute einschlagen und einstechen, werden sie im Volk gewöhnlich ‹ils Punchiadurs›, d.h. Stecher genannt, auf Deutsch aber ‹die Stopfer›.

Mögen sie im Übrigen diesen Kult, der immer noch ganz den Geist des Heidentums atmet, auch bis in unsere Zeit aus der dem Aberglauben der Heiden verpflichteten Überlegung heraus hochgehalten haben, damit den Getreideertrag steigern zu können, äffen sie jetzt jene heidnischen Albernheiten manchmal doch mehr aus kecker Unverschämtheit denn auf Grund irgendeines Aberglaubens nach. Ohne Zweifel ist dies der Grund dafür und es gibt auch keinen andern, dass so ziemlich in der gesamten christlichen Welt auch jetzt noch an jenen dionysischen Festen bzw. verabscheuungswürdigen Bacchanalien als offensichtlichen Überresten heidnischer Gottlosigkeit ausgerechnet jene derart verbissen festhalten, die begehren, Christen genannt zu werden bzw. sich als Christen ausgeben, mag es für sie auch noch so unziemlich sein.

Völlig glaubwürdig ist darüber hinaus der Bericht, es habe sich nach mehrmaliger Überprüfung, wenn man genau auf die Zahl der durch den frechen Aufputz mehr entstellten denn geschmückten Stopfer geachtet hatte, jeweils herausgestellt, dass nach dem Ablegen des Kostüms jeweils einer aus der Truppe vermisst wurde. Obwohl die Heiden einst ohne Zweifel aus ihrem Aberglauben heraus davon überzeugt waren, dass jener, der in der Schar der Verkleideten überzählig bzw. entbehrlich war, jener Bacchus sei, «den sie irrtümlich für eine Gottheit hielten», muss trotzdem für sicherer als sicher angenommen werden, dass jener schon damals niemand anderer als der Dämon des Bösen war – verhüllt durch jenen Aufputz, um nicht erkannt zu werden, und verborgen unter jenem ungewöhnlichen Kostüm, jedenfalls der von Paulus genannte Fürst der Finsternis, der sich an der Finsternis erfreut und ganz offensichtlich Anführer jenes Schauspiels ist.

 

2. Rätische Landeskunde in zwei Büchern: Dekonstruktion des traditionellen Heldenbildes

So hätten die Rätier am Oberlauf der Etsch zwar mit Erfolg gekämpft, doch nicht auf Grund ihres eigenen Verdienstes oder ihrer eigenen Tüchtigkeit, sondern rein auf Grund der zuvorkommenden Gunstbezeugung der oberen Gewalt, der einzigen und ewigen alles Gute spendenden Quelle (was sie damals auch selbst anerkannten gemäss dem Zeugnis jenes oft zitierten, doch unbekannten deutschen bzw. schwäbisch-allgäuischen Gewährsmanns und deswegen jener Macht auch dankbar waren); den Ablauf des Kampfes zeichneten wir so auf, wie wir ihn selbstverständlich einigen aufgespürten schriftlichen Dokumenten entnommen, teils aber auch (und zwar nicht zum kleinsten Teil) wie wir ihn aus den Berichten derjenigen, die das Geschehen nicht bloss vom Hörensagen kannten – in wirklich nicht geringer Zahl –, vernommen und aufgezeichnet hatten. Und wenngleich die allermeisten von den Bündnern, die dabei waren, tatkräftig und aufs unermüdlichste mitkämpften nicht anders, wie wenn sie allesamt tapfere Helden wären (wie es die Geschichtsschreiber von den Argyraspides unter den Soldaten Alexanders des Grossen schildern), war zwischen ihnen trotzdem noch ein Unterschied auszumachen. Denn abgesehen von anderen, die entsprechend ihrem altererbten Adelstitel sich auch in der gegenwärtigen Situation im Glanz ihres Kampfesmuts zeigten; feierte man insbesondere die oberwähnten Kriegsführer, nämlich Wilhelm Ringk und Hans von Lombris, die ausserhalb der Sperre als Hauptleute das Gefecht eröffneten, sich Kampfesmut sowie Taktik Heinrich Wollebs und seiner Gefährten bei Frastanz zu eigen machten und gleich zu Beginn zwei Anführer aus der ersten Schlachtreihe – beide Ebenbilder von Giganten – leichthin niedergestreckt haben sollen und auf gleiche Weise der Schlachtreihe der ihrigen vorangehend, einzig darauf bedacht waren, durch das eigene Beispiel den Kampfeseifer nicht ermatten zu lassen. Desgleichen Benedikt Fontana aus dem Oberhalbstein, Anführer bzw. Kommandant der bischöflichen Soldaten, der im Gefecht vor der Sperre bei deren Erstürmung fiel, nachdem er zuvor in einer zwar kurzen, doch gleichzeitig auf wundersame Weise stürmischen und nachhaltig wirkenden Rede sie entflammt und mit folgenden Worten angespornt hatte: «Auf denn, meine Jungen, ich bin nur ein Mann, achtet meiner nicht; heute noch Bündner und die Bünde – oder nimmermehr!» Der Sinn dieser Worte ist folgender: «Alle Achtung vor eurer edlen Tatkraft, meine Kameraden, und macht auch kein Aufhebens von meinem Tod als dem eines Einzelnen! – Oder den Namen der Graubündner bzw. Graurätier hört man heute zum letzten Mal.» Desgleichen taten sich hervor Herr Conradin Grallator von Marmels bzw. der mit dem Holzfuss mit seinen zwei Söhnen Johannes und Rudolph, und schliesslich Herr Thomas Planta von Zuoz, der Grossvater von Herrn Bischof Thomas in Chur, gleichfalls nicht wenige Offiziere sowie auch andere aus dem gewöhnlichen Volk.

 

3. Traktat zu Providenz und Prädestination: Distanzierung von Augustins Gnadenlehre

Im Übrigen sind wir schon längst daran, uns kampfbereit zu machen, um auch die Ursache aufzuzeigen, die dereinst die vorherbestimmte Verwerfung bzw. Verstossung in den ewigen Tod bewirkt. Aber bevor wir versuchen, diese Ursache zu bestimmen, will ich das, was man beim ersten zur Diskussion stehenden Lehrgegenstand möglicherweise deswegen vermisste, weil ich mich unüblich knapp fasste, hier ein wenig anschaulicher darlegen. Dort nämlich zeigte ich mit einer vom Allgemeinen zum Speziellen fortschreitenden Argumentation zur Vorsehung, dass die Vorherbestimmung generell gilt, ebenso für jene, die zum Heil auserwählt sind, wie für jene, die zur Verdammnis des Todes verworfen sind. Doch wenn dort zu einer der beiden Möglichkeiten etwas speziell gesagt wurde, bewiesen wir durch die gelegentliche Anführung der einen oder anderen Stelle aus der Schrift überwiegend die Vorherbestimmung der Auserwählten zum ewigen Leben. Doch was man dort vermisste und mit Absicht für diese Stelle zurückbehalten wurde, wird jetzt nun Gegenstand unserer Erwägungen sein.

An diesem Punkt fehlen aber nicht diejenigen, die entschieden der Ansicht sind, dass es keine Vorherbestimmung zum Tode durch Verdammnis gebe bzw. jemals gegeben habe, und sie versichern, dass überhaupt keine Menschen nach göttlicher Fügung von Ewigkeit her kraft der Vorherbestimmung als Todgeweihte zu betrachten seien, sondern alle auf gleiche Art von Ewigkeit her zum Heil auserwählt seien, aber diese Erwählung nur für diejenigen gültig bliebe, die glaubten; diejenigen aber, die nicht glaubten, würden aus eigener Schuld der Aussicht auf Erwählung verlustig gehen. Ich verhehle nicht im Geringsten, dass ich deren Meinung nicht teile, sondern offen und mit furchtlosem Herzen behaupte ich, dass jene Meinung, wie sehr sie dem Volk auch plausibel erscheint, von mir überhaupt nicht gebilligt wird, weil sie von der Heiligen Schrift nicht gebilligt wird, sondern von deren Wahrheit in Allem doppelt abweicht. Ich hingegen hege in diesem Punkt freilich folgende Überzeugung:

Freilich würden, wie oben gezeigt wurde, einzig Gläubige der Errettung teilhaftig werden; doch nur insofern Gott vor aller Ewigkeit bereits wusste, dass sie sich aus seiner Gnade heraus mit dem Glauben beschenken lassen wollten, um also wahrhaft an Christus zu glauben, erwählte er dieselben vor aller Ewigkeit zur Erlangung der Errettung und gleichzeitig des Glaubens, durch den sie der Errettung teilhaftig werden sollten. Deshalb muss daran festgehalten werden, dass nur Gottlose bzw. Ungläubige dazu verdammt werden, die Qualen des ewigen Todes auf sich zu nehmen, und zwar gemäss folgender Ursächlichkeit: Wie Gott von aller Ewigkeit her dank seiner überragenden Erkenntnisfähigkeit vorherwusste, wer von all jenen sich selber der Gottlosigkeit schuldig machen und bis an sein Ende gottlos und in der Folge Christus also fernstehen würde, so sprach er eben diese – des Heils und des wahren Glaubens unwürdig und nicht empfänglich dafür – ausnahmslos auf Grund eines überaus gerechten Urteils ebenso von aller Ewigkeit her dem Tode zu und bestimmte sie zum Voraus für die immerwährende Bestrafung.