Vadians Tod und sein Erbe

Johannes Kessler

Einführung: Clemens Schlip (traduction française: David Amherdt). Version: 10.02.2023.


Entstehungszeitraum: nach 1551 (Vadians Todesjahr).

Handschriften (Kopien): St. Gallen KB Vadiana, Rara Vadianische Sammlung, VadSlg Ms 1, 1-21 (Kopie von Josua Kessler, einem Sohn des Johannes); VadSlg Ms 10, fol. 6ro-12ro (Kopie, entstanden zwischen 1615 und 1750).

Ausgaben: Joachimi Vadiani Vita per Ioannem Kesslerum conscripta. E codice autographo. Historicis Helveticis D.D.D. Historicorum Amatorum Historiae Sangallensium Coetus [...], St. Gallen, Zollikofer, 1865, 3-14, hier: 10-12; Johannes Kesslers Sabbata mit kleineren Schriften und Briefen, St. Gallen, Fehr‘sche Buchhandlung, 1902, 601-609, hier: 607-608; kürzere Ausschnitte und die am Ende des Textes stehende Inschrift für Vadian sind auch abgedruckt (mit deutscher Übersetzung) in: R. Gamper, Joachim Vadian 1483/84-1551. Humanist, Arzt, Reformator, Politiker, Zürich, Chronos, 2017, 312-313.

Johannes Kessler (1502-1574), der Chronist der Reformation aus St. Gallen (sein volkssprachliches Werk Sabbata behandelt den Zeitraum zwischen 1519 und 1539), ist auch der Verfasser einer lateinischen Biographie seines Freundes Joachim Vadian. Der bis ins 19. Jahrhundert ungedruckte Text zeichnet sich im Vergleich zu anderen Biographien über bekannte Reformatoren aus jener Zeit durch seinen strikt chronologischen Aufbau aus. Kessler betont in seiner Biographie den unlösbaren inneren Zusammenhang zwischen den humanistischen Studien – denen anders als bei Melanchthon somit wesentlich mehr als eine blosse propädeutische Funktion zukommt – und der Reformation.

Die hier ausgewählte Passage entspricht vom Umfang her über einem Zehntel der gesamten Biographie und steht ihrem Inhalt entsprechend ziemlich am Ende des Textes; auf sie folgt vor allem noch eine Übersicht über Vadians hinterlassene Schriften. Vadians Leben findet hier seinen natürlichen Abschluss. Kessler stellt eindrücklich heraus, wie Vadian auch auf dem Totenbett sich als Patriot, Gelehrter und Christ bewährte. Der Heimat vermacht er seine Bücher als Grundstock einer öffentlichen Bibliothek; Vadian wird so von Kessler in einem als Buchliebhaber und als Wohltäter des Gemeinwesens präsentiert.

Der Besitz einer für damalige Verhältnisse umfangreichen Privatbibliothek (zum Zeitpunkt seines Todes wohl knapp 450 Bände) kennzeichnet Vadian zugleich als typischen Humanisten, denn seit den Tagen des italienische Frühhumanismus (Colluccio Salutati, Petrarca, Niccolo Niccoli) gehörte eine solche als Rückzugsort und intellektuelles Biotop zur typischen Ausstattung humanistischer Intellektueller, die über die entsprechenden Ressourcen verfügten. Die Idee, solche privaten Buchbestände zum Fundament einer öffentlichen Bibliothek zu machen, taucht bereits bei Petrarca auf. Vadian hatte die Übergabe seiner Bücher bereits seit 1549 durch ihre Ordnung und Katalogisierung vorbereitet; diese Arbeiten hatte er dem jungen Josua Kessler anvertraut, dem Sohn des Autors des hier präsentierten Textes. Bereits zu seinen Lebzeiten hatte die Bibliothek Vadians reformierten Pfarrern zur Verfügung gestanden.

Eifrig studierte der schwerkranke Vadian laut Kessler die Heilige Schrift und erörterte mit seinem späteren Biographen theologische Fragen, schenkt ihm sogar sein liebstes Handexemplar des Neuen Testaments. Indem Kessler dies berichtet, stellt er zugleich sein eigenes enges Verhältnis zu Vadian heraus. Es ist sicher kein Zufall, dass er Vadians Sterbeszene als Augenzeuge in einer Weise schildert, die für den Leser im Unklaren lässt, ob damals neben Kessler auch noch andere Freunde und Bekannte Vadians anwesend waren.

Es lohnt sich sicher, die typisch reformatorischen Züge dieser Passage zu betonen. Diese liegen zum einen in der Betonung der Heiligen Schrift und des persönlichen Glaubens Vadians vor; der Reformator betont noch auf dem Sterbebett seine Ablehnung traditioneller katholischer Lehrinhalte. Zum anderen dürfte gerade zeitgenössischen Lesern, die die vorreformatorische Periode noch miterlebt hatten, der implizite Kontrast zu einer typischen katholischen Sterbeszene (mit speziellem Sterbesakrament und priesterlichem Beistand) aufgefallen sein. Und so führt dieser Abschnitt der Kesslerschen Vadian-Vita nicht zuletzt eines vor: das von Kessler als mustergültig vorgeführte Sterben eines reformierten Christenmenschen.

Doch nicht nur Vadian und sein Biograph Kessler erscheinen in dieser Passage in einem positiven Licht. Indem Kessler am Ende die rasche Erfüllung der mit Vadians Vermächtnis an seine Heimat St. Gallen verbundenen Bedingungen herausstellt, lässt er implizit keinen Zweifel daran, dass die Bürgerschaft dieser Erbschaft würdig war, die am Anfang der Geschichte der Stadtbibliothek von St. Gallen – der heutigen Kantonsbibliothek Vadiana – steht.

Kessler erklärt selbst, dass er bei der Schilderung der Sterbeszene auf einen Brief zurückgreift, den er unmittelbar nach Vadians Tod an Heinrich Bullinger geschrieben hatte: «Hier kann ich im Weiteren nur wiederholen, was ich auf die Forderung des hochberühmten Heinrich Bullinger hin über den Tod des frisch verstorbenen Vadian in grosser Trauer geschrieben hatte.» Dieser Brief vom 29. April 1551 ist uns erhalten und in der Vadianischen Briefsammlung ediert.

 

Bibliographie

Bächtold, H. U., «Kessler, Johannes», Historisches Lexikon der Schweiz, Onlineversion vom 10.08.2007, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010699/2007-08-10/.

Backus, I., Life Writing in Reformation Europe. Lives of Reformers by Friends, Disciples and Foes, Aldershot u.a. 2008.

Gamper, R., Joachim Vadian (1483/84-1551). Humanist, Arzt, Reformator, Politiker, Zürich, Chronos, 2017.