Gedicht auf Heinrich Glarean
Johannes Atrocianus
Einführung: Judith Hindermann (traduction française: David Amherdt et Kevin Bovier). Version: 10.02.2023.
Entstehungsdatum: 1528.
Ausgabe: Elegia de bello rustico, Basel, Faber, 1528, fol. c3ro-c4ro; Querela Missae, Basel, Faber, 1529, fol. 56vo-57vo; Guerra, Harich-Schwarzbauer, Hindermann (2018), 204-209 (mit deutscher Übersetzung); Hindermann (2020b), p. 22-24 (mit deutscher Übersetzung).
Metrum: Elegisches Distichon.
Johannes «Atrocianus» Grimm ist um 1495 in Ravensburg geboren und nach 1546 vermutlich in Luzern gestorben. Er war Pädagoge, Dichter, Humanist und – wie in seinen Schriften deutlich wird – erklärter Gegner der Reformation. Zu Atrocians Werk zählen vier polemische Schriften im elegischen Distichon, nämlich die Querela Missae, der Nemo Evangelicus, die Elegia de bello rustico, die Mothonia sowie eine Sammlung von Epigrammen. Die Schriften datieren von 1528 und 1529, also der Zeit, in der in Basel bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten. Als Schulmeister am Augustiner-Chorherrenstift St. Leonhard erlebte Atrocian die Wirren um die Einführung der neuen Reformationsordnung hautnah mit. Er bezieht in seinen Schriften klar Position gegen die Reformatoren und ihre Lehre: Bitter beklagt er die Folgen des Bauernkrieges, die Verrohung der Sitten, den Niedergang der Bildung, den Verlust des antiken Wissenskanons und theologische «Irrungen» wie die Abschaffung der Messe, die er allesamt der Reformation anlastet.
Atrocian war kein einsamer Kämpfer. In seiner Wahlheimat Basel verkehrte er in der Druckerwerkstatt von Johann Froben, wo er mit dem Gelehrtenkreis um Erasmus von Rotterdam und vielen weiteren bekannten Persönlichkeiten seiner Zeit in Verbindung trat. Die Vielzahl unterschiedlicher Adressaten der Epigramme zeigt das grosse, geographisch weit gespannte Netzwerk des Autors. Zu den Empfängern von Atrocians Epigrammen zählten berühmte Persönlichkeiten der Zeit, aber auch heute eher oder gänzlich unbekannte Personen. Verbindungspunkt ist oftmals das Studium an der Universität Basel, die Lehrtätigkeit oder die Offizin von Johann Froben, die neben der Universität ein zweiter Mittelpunkt geistigen und künstlerischen Lebens in Basel war.
Atrocian hat seine Gedichte selbst in einer Sammlung ediert, die zuerst 1528, dann in erweiterter Form im Jahr 1529 erschien. Damit unterscheiden sich Atrocians Epigramme von den Gedichten vieler Zeitgenossen, die unediert geblieben oder verstreut innerhalb eines grösseren Textkorpus erhalten sind. Die Gedichte variieren sowohl in Länge als auch in der Thematik, nicht aber im Metrum, das bis auf eine Ausnahme das elegische Distichon ist. Atrocians Epigrammsammlung umfasst verschiedene Thematiken und Gattungen, darunter Epitaph, Epicedium, Encomium, Skoptik, historische Anekdoten und naturwissenschaftliche Beobachtungen. Erotische Epigramme, Rätsel, Figurengedichte oder Übersetzungen der Anthologia Palatina, die in anderen neulateinischen Epigrammsammlungen grossen Raum einnehmen, fehlen dagegen.
Der Charakter von Atrocians Epigrammsammlung ändert sich von der ersten zur zweiten Edition stark. In der zweiten Ausgabe der Epigramme von 1529 kommen zu den ursprünglich 30 Gedichten weitere 25 hinzu. Während in der Sammlung von 1528 spottende und tadelnde Epigramme die Mehrheit ausmachten, ist die Serie neuer Epigramme moralisch-bildenden Inhalts. Statt auf die bekannten antiken Epigrammatiker Catull und Martial greift Atrocian auf Gellius’ Noctes Atticae (2. Jahrhundert n. Chr.) und Macrobius’ Saturnalia (4./5. Jahrhundert n. Chr.) zurück, mit denen er den pädagogischen Impetus teilt. Der Humanist bestärkt in diesen Epigrammen die traditionellen Werte, die er durch die Reformation bedroht sieht, indem die er die Themen Bildung, Erziehung und Hochmut überzeitlich gültig anhand einer antiken Anekdote diskutiert und aktualisiert.
Das aus fünfzig Versen bestehende Gedicht auf den Freund Heinrich Glarean (Heinrich Loriti, 1488-1563), den bekannten Glarner Musiktheoretiker, Dichter und Humanisten, steht in der Sammlung von 1528 und 1529 in der Mitte, jeweils in unmittelbarer Nähe zu Atrocians beiden Gedichten auf die hochrangigste Persönlichkeit der Sammlung, den Kaiser Maximilian I. von Habsburg (1459-1519). Die Anordnung der Gedichte hebt die Achse der Freundschaft zwischen Atrocian und Glarean durch die Verbindung zum Kaiser hervor.
Wie Atrocian lobt Glarean den Kaiser Maximilian I. in seinem bekannten Panegyricon von 1512. Dieses Werk preist die Frömmigkeit des Kaisers (pietas) sowie die geographische Ausdehnung seines Reichs, aber weniger seine Rolle als Kriegsherr. Glarean hat sein Panegyricon anlässlich seiner Krönung zum poeta laureatus am Reichstag zu Köln am 25. August 1512 dem Kaiser vor allen Fürsten singend im dorischen Ton vorgetragen. Die Dichterkrönung des erst 24 Jahre alten jungen Mannes, der noch keine grossen Werke publiziert hatte, war keine Belohnung bereits geleisteter Arbeit, sondern geknüpft an die Erwartung künftiger propagandistischer Gegenleistung für den Kaiser.
Atrocian verweist bereits im Titel des Epigramms auf die Ehrung des Freundes hin, indem er dort Glareans Auszeichnung als poeta laureatus erwähnt. In seinem Preisgedicht lobt Atrocian Glareans umfassende Bildung, insbesondere in der Musik(-theorie) (V. 15-18) und vor allem der Astronomie (V. 19-42). Atrocian bezieht sich mit seinem Lob wohl konkret auf Glareans bei Froben erschienene Schriften Isagoge in musicen von 1516 und das kurz zuvor bei Faber erschienene berühmte Werk De geographia von 1527. Beide Fachgebiete studieren Harmonien und Proportionen und zählen damit zu den Fächern des mathematisch ausgerichteten Quadriviums. Die Astronomie gehörte neben weiteren Wissensgebieten (wie Geographie, Geologie, Ethnographie, Tier- und Pflanzenkunde, Geschichte und Chronologie) zur Kosmographie, die ausgehend von räumlichen Verhältnissen die ganze Schöpfung als Harmoniesystem betrachtet.
Atrocian schreibt in seinem Gedicht, dass Glarean seinen Schülern die verschiedenen Planeten und Fixsterne (V. 23, errones et quae sint sydera) aufzeige. Die Planeten erwähnt Glarean tatsächlich in seiner Geographie in Kapitel 2 (De praecipuis partibus totius mundi), ebenso die Sternzeichen in Kapitel 3 (De motibus corporum totius universi) und 6 (De decem circulis, quos in coelo astrologi imaginantur), nicht aber die Sternbilder Bärenhüter, Plejaden, oder Drache, die Atrocian in Vers 25 bis 34 in der Mitte des Gedichts in gelehrter Umschreibung ausführlich ergänzt und damit seine eigene Gelehrsamkeit demonstriert. Es folgen vier Verse, die sich den astronomisch-mathematischen Grundlagen der Geographie widmen (V. 35-38), inkl. dem Bau einer Armillarsphäre. Der deskriptiven Geographie der verschiedenen Erdteile widmet Atrocian mit der rhetorischen Figur eines pars pro toto nur zwei Zeilen bzw. drei Orte (V. 39-40, Nilus, Gangetica tellus, Arabum terra), während Glarean dafür zwanzig von insgesamt vierzig Kapitel aufwendet. Atrocian interessiert sich in seinem Preislied auf Glarean somit stärker für den himmlischen Aspekt der Geographie als für den irdischen Teil. Mit der Wahl der entlegenen und exotischen Erdteile spricht er wie in seinem Preisgedicht auf Froben die geographische Ausdehnung nicht nur des Inhalts des Werks, sondern auch der physischen Bücher an (V. 41, hoc monimenta docent totum vulgata per orbem). Froben und Glarean werden in Atrocians Darstellung der ganzen Welt gelesen.
Mit einem zweizeiligen Refrain, der am Anfang und Ende des Gedichts steht, betont Atrocian, dass Glareans Bildung mit einer moralischen Güte einhergeht: Conveniunt raro doctrina et vita probata, in te conveniunt haec duo magna simul. «Selten treten Gelehrsamkeit und ein gefälliges Leben vereint auf, in dir aber treten diese beiden grossen Dinge zugleich auf.» Gelehrsamkeit ist für Atrocian nicht Selbstzweck, sondern muss in den richtigen Dienst an der Gemeinschaft gestellt werden. Sowohl Glarean als auch Atrocian sehen sich als Pädagogen, die mit ihren Schriften ihre Leser unterrichten und erziehen. Diese gemeinsame Haltung sowie ihre Bewunderung des Kaisers Maximilian I. verbindet die beiden Freunde.
Bibliographie
Guerra, C./Harich-Schwarzbauer, H./Hindermann, J., Johannes Atrocian. Text, Übersetzung, Kommentar, Hildesheim/Zürich/New York, Olms, 2018.
Hindermann, J., «Erkenne dich selbst. Geschlechterdiskurs und Intertextualität in Atrocians Epigramm über den richtigen Gebrauch des Spiegels», in: M.-L. Freyburger-Galland, H. Harich-Schwarzbauer (Hgg.), Das ‘Salz’ der Antike – Epigramm, Satire, Theater, Polemik. Ihre Rezeption bei den Humanisten: Drucke und Handschriften am Oberrhein, Stuttgart, Franz Steiner, 2016, 215-228.
Hindermann, J., «Die Epigrammsammlung des Johannes Atrocianus. Marcobius und Gellius als Mittel gegen die Reformation», in: M.-L. Freyburger-Galland, H. Harich-Schwarzbauer (Hgg.), Res novae. Bouleversements dans les sources humanistes du Rhin Supérieur/Umbrüche in den humanistischen Quellen des Oberrheins, Stuttgart, Franz Steiner, 2020a, 65-86.
Hindermann, J., «Johannes Atrocian und der Gelehrtenkreis um Erasmus von Rotterdam in Basel: zu den Epitaphien auf den Drucker Johann Froben und Kaiser Maximilian I. sowie Atrocians Freundschaft mit Glarean und Glotter», in: D. Amherdt (Hg.), La littérature latine des humanistes suisses au XVIe siècle. Actes du colloque des 30-31 janvier 2020 (Université de Fribourg), Camenae 26 (2020), Online, https://www.saprat.fr/wp-content/uploads/2023/02/camenae-26-12-hindermann-relu.pdf.
Plotke, S., «Maximilian-Verehrung im Spiegel lateinischer Basler Drucke: Die Druckerstadt Basel und die Schweizer Eidgenossenschaft», in: S. Hartmann, F. Löser (Hgg.), Kaiser Maximilian I. (1459-1519) und die Hofkultur seiner Zeit, (= Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft, 17, 2008/2009), Wiesbaden, Reichert, 2009, 93-105.
Sauerborn, F. D., «Die Krönung des schweizerischen Humanisten Glarean zum poeta laureatus durch den Kaiser Maximilian I. im Jahre 1512 und seine Helvetiae Descriptio von 1514/15», Zeitschrift des Breisgau-Geschichtsvereins «Schau-ins-Land» 116 (1997), 157-192.
[1] Zu Atrocians Leben und Werk siehe Guerra, Harich-Schwarzbauer, Hindermann (2018).
Maximilian I. war ab 1486 röm.-dt. König, ab 1493 Erzherzog von Österreich und ab 1508 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Er wird von Atrocian besonders ausgezeichnet, indem er als einzige Person gleich zwei Epigramme erhält. Zudem ist er die einzige so hochrangige Persönlichkeit, an die Atrocian seine Gedichte adressiert. Das Lobgedicht auf Maximilian I. (Ep. 27) sticht auch metrisch hervor, da es als einziges Gedicht der Sammlung im Asclepiadeus minor verfasst ist, während alle anderen aus elegischen Distichen bestehen.
Vgl. dazu Ep. 23. Das Gedicht handelt nicht nur vom Spiegel, sondern hat auch die Funktion eines ‘Fürsten-Spiegels’ für Atrocians Sohn Onophrius, an den das Gedicht gerichtet ist und der damit zu moralisch-richtigem Verhalten angeleitet wird. Vgl. Hindermann (2016), 215-228.