Drei Bücher über die Geschichte der Gastmähler in der Antike
Übersetzung (Deutsch)
Übersetzung: Clemens Schlip (französischer Originaltext der Anmerkungen von David Amherdt)
1. Eine altersgemässe Ernährung (fol. 28ro-vo)
Was das Alter betrifft, so müssen Knaben häufiger essen, weil ihre Bäuche noch nicht so viel auf einmal bewältigen können, sie aber dennoch für Ernährung und Wachstum ein sehr starkes Bedürfnis danach haben. Für sie sind daher, gemäss der in Vergangenheit und Gegenwart bei fast allen Völkern herrschenden Gewohnheit, Frühstücke und Zwischenmahlzeiten besonders geeignet. In ähnlicher Weise müssen sehr alte Greise, die ein reichliches Mahl nicht mehr bewältigen und verdauen können, es sich in mehrere Portionen aufteilen. Daraus kann man schliessen, dass Joel im Namen Gottes ein sehr hartes Fasten angekündigt hat, zu dessen Beachtung er auch Greise und Knaben und sogar die Säuglinge aufruft. 2. Menschen im mittleren Alter bilden in ihrem Essverhalten den Durschnitt. Die im mittleren Greisenalter Stehenden (wie man sie passenderweise nennt) ertragen besser als alle Hunger und Nahrungslosigkeit, wie Hippokrates bezeugt: «Nahrungslosigkeit», sagt Celsus l. 1., «ertragen am besten Menschen im mittleren Lebensalter, weniger junge Leute, und am wenigsten Knaben und erschöpfte Greise. Je weniger man sie erträgt, desto häufiger muss man Nahrung zu sich nehmen und am meisten Nahrung bedarf man, wenn man im Wachstum ist.»
2. Die Gastfreundlichkeit der Schweizer (fol. 101ro-102ro)
Das menschlich hervorragende Verhalten aller Helvetier (die üblicherweise von den Deutschen, Franzosen, Italienern, Spaniern und anderen Nationen Suitzii oder Suitzeri genannt werden) gegenüber Fremden und Ankömmlingen in alter Zeit ist durch geschichtliche Zeugnisse und auch durch die alltägliche Erfahrung meiner Meinung nach ausreichend und mehr als genug bezeugt. Denn um besonders von meiner Heimatstadt Zürich zu sprechen, so wird niemand (glaube ich), der sich dort aufhält oder jemals dort war, bestreiten, dass ihre Einwohner gastfreundlich sind und Fremden mit wunderbarer Liebe und Wohlwollen begegnen. Denn zunächst einmal ist es üblich, dass die Einwohner den Fremden, um sie zu ehren, oft mit Waffen, Flöten, Trompeten und Trommeln, teils zu Fuss, teils zu Pferd, ehrenvoll weit ausserhalb der Stadt entgegengehen, sie auf einem weiten Feld umherführen, sie mit ehrenden Worten begrüssen, sie mit bedeutendem Pomp, mit dem Klang von Trompeten und dem Lärm und Getöse von Kriegsgeschützen in die Stadt einführen und sie bis zu einem öffentlichen Gasthaus oder dem Haus eines Bürgers begleiten und hinführen. Auf diese Weise werden auch Bräute aus dem Ausland, die zum ersten Mal mit ihrem Gefolge hierherkommen, sowie manchmal auch Gesandte von Fürsten und Königen empfangen.
Die übrigen Zeremonien und Bräuche, mit denen man Fremde, besonders solche, die sich durch Vermögen und Würde auszeichnen oder die aus seiner privaten Neigung oder wegen Privatgeschäften oder als Gesandte zu uns kommen, empfängt und unterhält, sind in den Grundzügen die folgenden: Als erstes wählt der Rat einige ehrbare und einflussreiche Männer aus, besonders solche, die zu jenen Fremden entweder aufgrund ihres Charakters oder aufgrund ihrer Lebensweise und ihres Berufs oder aufgrund irgendeiner anderen Form von Bekanntschaft eine Beziehung aufweisen; häufig nehmen auch die Bürgermeister teil. Diese Magistrate grüssen die Fremden im Namen der Republik, erweisen ihnen alle Dienste im Übermass, die menschliche Gesinnung und Gastfreundschaft erheischen, und versprechen sie ihnen, essen mit ihnen und bemühen sich, sie mit ehrbaren und gebildeten Gesprächen aufzuheitern. Ausserdem sind beim Beginn des Gastmahls öffentliche Amtsdiener anwesend, die ihnen im Namen des Magistrats einige Becher Wein reichen (man nennt ihn Schenckweyn, das heisst geschenkter Wein oder Ehrenwein). Aus folgenden Worten Isodors lässt sich erkennen, dass die gleiche Sitte, den Gästen Wein zu reichen, auch bei den Römern bestand: «Ehrenwein, der Königen und Mächtigen ehrenhalber gereicht wird ». Cato, de Innocentia: «Als ich Legat in der Provinz war, reichten sehr viele den Prätoren und Konsuln Ehrenwein; ich habe ihn niemals angenommen, auch nicht als Privatmann.»
Ausserdem werden sie, wenn sie länger bleiben, sehr oft zu einem prächtigen öffentlichen Gastmahl empfangen, das auf gewissen öffentlichen Plätzen und in gewissen öffentlichen Gebäuden stattfindet und an dem die politische Führung der Stadt ebenso teilnimmt wie die Vertreter von Kirche und Schule; dieses Gastmahl wird sehr freudig begangen, und man nennt es allgemein ein schencke, das heisst eine Schenkung (weil die Fremden ἀσύμβολοι [nicht zahlungspflichtig] sind). Zu diesem Gastmahl aber pflegen ihnen ehrbare Männer aus den besten Kreisen der Stadt ab der Herberge ein Ehrengeleit zu geben und sie nach seinem Abschluss wieder zur Herberge zurück zu geleiten. Man veranstaltet auch häufig Spiele und Schauspiele aller Art, um ihnen eine Gefälligkeit zu erweisen. Ausserdem führt man sie durch die ganze Stadt zu den sehenswerten Stätten und Gebäuden und anderen Sehenswürdigkeiten. Oft auch fährt man sie auf einem überdachten Schiff, das Speisen aller Art ausgestattet ist, über den sehr fischreichen Zürichsee, der durch die Stadt fliesst. Die Bürger, die auf dem Schiff sind, verhandeln mit den Fischen, die ihnen begegnen, über den bevorstehenden Fischfang und treffen eine Vereinbarung mit ihnen. Die Fischer werfen unermüdlich ihr Netz in den See aus und übergeben ihren ganzen Fischfang den Bietern und laden ihn auf deren Schiff, wo man sie bald auf einem Kochgestell brät und dann isst. Häufig geschieht es auch, und es ist ein wunderbarer und angenehmer Anblick, dass die Fische mit dem Kochgestell selbst aus dem Wasser geholt werden, man das Kochgestell unmittelbar danach auf die glühenden Kohlen stellt und die Fische noch lebendig zuckend gebraten werden. Auf diese Weise treiben sie sich einige Stunden hindurch auf dem See herum, um ihr Gemüt zu erquicken, sie tafeln und vergnügen sich mit verschiedenen Arten von Musikinstrumenten. Eine derartige Schifffahrt und ein derartiges hochangenehmes gemeinsames Mahl auf dem See nennt man allgemein Tracht, das heisst Gericht, aufgrund der Überzahl von Fischgerichten, die dort aufgetragen werden, oder eher aufgrund Heraufziehens [lateinisch tractus] der Fische mit Netzen. Auf diese Weise pflegt man die anwesenden Fremden zu behandeln und zu ehren.
Es mangelt aber auch nicht an Privatleuten, die sich angewöhnt haben, sie, sofern auch nur eine minimale Bekanntschaft mit ihnen besteht, entweder in ihren Privathäusern zum Essen einladen oder mit Ehrenwein zu beschenken. Nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen, und nicht nur Politiker, sondern auch Kirchenleute, besonders solche, die für ihre Gelehrsamkeit berühmt sind, werden mit den gleichen Ehren bedacht; oft veranstaltet das Gelehrtenkollegium ein Gastmahl für sie, zu dem nicht nur die Schul- und Kirchendiener, sondern auch die Politiker zusammenkommen.
Man hat sich aber angewöhnt, so wie man die anwesenden Gäste liebt und ehrt, auch den abreisenden Gästen häufig bis zu einem gewissen Punkt ein ehrenvolles Geleit zu geben. Oft werden auch ihre Ausgaben im Wirtshaus aus der öffentlichen Kasse bezahlt, und man schenkt den Vornehmen nicht nur Wein, sondern auch Getreide, Hafer, Fleisch und Fisch. Was soll ich noch über jene Gastgeschenke und ehrenvollen Gaben sagen, die sowohl auf öffentliche Kosten vom Rat als auch privat von vielen Bürgern gewohnheitsmässig denen geschickt werden, die sich aus gesundheitlichen Gründen von vielen fremden und weit entfernten Orten her zu unseren Thermen in Baden begeben, in vier Meilen Entfernung von der Stadt? Es ist unglaublich, wie weit die Freigiebigkeit unserer Mitbürger beim Schicken solcher kleinen Geschenke geht, die in der Regel aus Fleisch und Fischen bestehen. Aber nicht nur berühmten und hervorragenden Männern, wie Fürsten, Grafen, Baronen, Gesandten, Magistraten, Edlen, reichen Kaufleuten und anderen derartigen Ankömmlingen erweist man sehr grosse Ehre, sondern auch wenn Menschen aus bescheidenen Verhältnissen, wie Künstler und Handwerker, hierherkommen, leiden sie keinen Mangel an der menschlichen Gesinnung und Gastfreundschaft unserer Mitbürger, besonders derer, die die gleiche Art von Leben führen wie sie. Und so stand unsere Heimatstadt nicht nur Menschen aus armen und bedrückten, sondern auch aus elenden und ruinierten Verhältnissen weit offen und tut es noch immer. Denn wie sie gewöhnt ist, jede Art von Fremden, egal welcher Religion, mit menschlichem Pflichtgefühl zu empfangen, sie zu beherbergen und gut zu behandeln, so gewährt sie auch jenen, die durch dieselbe Religion mit ihr verbunden sind und um dieser Religion willen manchmal ihre Heimat verlassen und ins Exil gehen müssen, eine sichere und verlässliche gastliche Stätte. Das können viele exilierte Engländer, Deutsche und Italiener bezeugen, arme und niedergeschlagene Hilfsbedürftige, die unsere Heimatstadt ohne Zögern in ihr Herz geschlossen und gepflegt hat.
Auch Arme, Bettler und Kranke, von denen täglich eine grosse Anzahl aus sehr vielen auswärtigen Orten bei uns zusammenströmt, haben in der Stadt und auf unserem Gebiet ausserhalb der Stadt Zufluchtsorte und Häuser (die die Griechen ξενοδοχεῖα, πτωχεῖα, πτωχοδοχεῖα, πτωχοτροφεῖα, νοσοκομεῖα nennen (im letzten Buch, im Kapitel über die hochheilige Kirche: auf Latein nennt man sie hospitalia), in denen man sie ganz menschlich und gütig aufnimmt, sie pflegt und wärmt; es ist unglaublich, was für einen Aufwand unser Magistrat tagtäglich für sie betreibt. Auch ist ihnen weitgehend erlaubt, in der Stadt bettelnd von Tür zu Tür zu ziehen. Das soll hier über die Gastfreundlichkeit und menschlich Gesinnung gesagt sein, die meine Heimatstadt gegen jede Art von Auswärtigen und Fremden an den Tag legt, und durch die sie sich bei vielen Völkern Ruhm und Dank erworben hat. Auch wenn die Freigiebigkeit und Güte, die alle übrigen Schweizer den Fremden erweisen, weithin bekannt und hochberühmt sind, möchte ich, ohne ihnen zu nahe treten zu wollen, die Palme auf diesem Gebiet gerne meiner Heimatstadt reichen, falls nicht die natürliche Liebe, die oft blind ist, mich trügt und täuscht.
3. Kann man sich zu einem Gastmahl begeben, ohne eingeladen zu sein? (fol. 153vo-154ro)
Manchmal aber wird es nicht als Verfehlung angerechnet, wenn jemand aus eigenem Antrieb und ohne Einladung zu einem Gastmahl kommt. Denn, wie Athenaios in seinem ersten Buch sagt, dass in Bürgerschaften auch ἄκλητοι, nicht Eingeladene, häufig δεξιῶς πέτονται, das heisst zu günstiger Zeit zum Mahle herbeieilen. Derselbe sagt in seinem vierten Buch, Homer habe gelehrt, es gebe Leute, die man nicht notwendig einladen müsse, sondern sie kämen aus eigenem Antrieb πρεπόντως, das heisst in schicklicher Weise, zu den Gastmählern. Und mit den Verwandten als einem einzigen Beispiel hat er diese Logik auch für alle ähnlichen Fälle deutlich gemacht, wenn er sagt:
Αὐτόματος δέ οἱ ἦλθε βοὴν ἀγαθὸς Μενέλαος,
Uneingeladen kam auch der schreitüchtige Menelaos.
Denn es ist klar, dass man weder den Bruder noch die Söhne noch die Ehefrau einladen muss; das wäre nämlich ψυχρὸν καὶ ἄφιλον, absurd und mit Freundschaft ganz unvereinbar. Er fügt noch ein Sprichwort hinzu, an das Platon im Symposion erinnert: ὡς ἄρα καὶ Ἀγάθων᾿ ἐπὶ δαῖτας ἴασιν αὐτόματοι ἀγαθοί, das heisst: «Edle Leute gehen auch ohne Einladung zu Gastmählern, die edle Leute veranstalten.» Vergleichbar ist diese Stelle aus Bakchylides:
Αὐτόματοι δ’ ἀγαθῶν δαῖτας εὐόχθους
ἐπέρχονται δίκαιοι φῶτες,
Das heisst:
Spontan besuchen edle Leute
Die Gastmähler edler Leute.
Sprichwort:
Αὐτόματοιδ’ ἀγαθοὶ ἀγαθῶν ἐπὶ δαῖτας ἴασιν,
Spontan besuchen edle Leute die Gastmähler edler Leute.
Ein anderes Sprichwort:
Αὐτόματοι δ’ἀγαθοὶ δειλῶν ἐπὶ δαῖτας ἴασιν.
Spontan kommen edle Leute auf die Gastmähler feiger Leute.
Aus diesen Worten erhellt, dass es manchmal keineswegs unschicklich ist, wenn jemand uneingeladen zu Gastmählern erscheint, besonders wenn sie von edlen Leuten, Freunden und Verwandten veranstaltet werden.
Manchmal zwingt auch Not Menschen, sich von sich aus zu einem Mahl zu begeben, auch wenn sie nicht eingeladen sind. Zu ihnen gehören die Bettler, die gezwungen sind, sich ihren Lebensunterhalt von Tür zu Tür zu beschaffen; Homer nennt sie pandemios (Landfarer), was Porphyrios so erklärt, dass sie in der ganzen Stadt herumziehen und sich nicht mit einem Haus zufriedengeben (Caelius im 14. Buch, Kapitel 4). Man hat sie auch ἀγύρται genannt, ἀπὸ τοῦ «ἀγείρειν πύρνα», vom Sammeln von Brot und kleinen Nahrungsbissen, gemäss Eustathios in seinem Odyssekommentar, ρ. Daher bedeutet ἀγυρτέυειν das Gleiche wie πτωχέυειν, nämlich betteln. Ebenfalls «μητραγυρτεῖν τὸ μετὰ τυμπάνων καί τινων τοιούτων περιϊέναι καὶ ἐπὶ τῇ μητρὶ ἀγείρειν τροφὰς (Baͤttlen durch unser lieben frauwen willen [Betteln um unser lieben Frauen willen]), ὅ ἐστιν ἐπὶ τῇ Ῥέᾳ, ὡς δῆλον ἐκ τοῦ Διονύσιος μητραγυρτῶν καὶ τυμπανιζόμενος, οἰκτρῶς τὸν βίον κατέστρεψεν»; das heisst: μητραγυρτεῖν, das bedeutet mit Trommeln und anderen derartigen Instrumenten teilnehmen und sich im Namen der Mutter Rhea Nahrung zu beschaffen, was deshalb als feste Wendung existiert, weil man sagt, Dionysos habe Almosen gesammelt und Trommeln mit sich getragen und so ein elendes Leben geführt. So sehen wir auch heute Blinde und andere Bettler von Tür zu Tür herumziehen, wobei sie Trommeln tragen und schlagen und dazu singen. Erasmus meint in seinen Adagia, man nenne Mitragyrtes diejenigen, «die mit erlogenen Mysterien umherziehen und die Ungebildeten damit betrügen. Denn auch der Esel Apuleius erklärt, dass es einst so eine Art von Menschen gegeben hat; sie waren nicht unähnlich denen, die heute die Reliquien des heiligen Antonius, Cornelius oder Johannes des Täufers mehr aus Profitstreben herumtragen als um damit die Frömmigkeit zu fördern».
Randanmerkung: Aetas («Alter»).
Zu dieser Episode s. besonders Apollodoros, Bibliothek 3,5,1: Nachdem Dionysos den Weinentdeckt hatte, wurde er von Hera mit Wahnsinn geschlagen und irrte durch Ägypten und Syrien. Er erreichte schliesslich den Berg Kybela in Phrygien, wo Rhea ihn reinigte und ihm Initiationsriten beibrachte.