Brief an Andreas Alciatus

Übersetzung (Deutsch)

Übersetzung: Clemens Schlip (französischer Originaltext der Anmerkungen von Anne Andenmatten)


Ich hatte Dir von Lyon aus geschrieben, als ich gerade nach Deutschland aufbrach, Alciatus, Du einzigartige Zierde der Literatur; ich weiss nicht, ob Du meinen Brief erhalten hast. Man darf zumindest vermuten, dass er Dir überbracht worden ist; der Mann, dem er anvertraut wurde, hatte nämlich versprochen, ihn gewissenhaft zu überbringen. Da ich in diesem Brief meine ganzen Erlebnisse nach Deinem Weggang nach Avignon skizziert habe, habe ich nicht vor, das hier zu wiederholen; da Du von wichtigeren Angelegenheiten in Beschlag genommen bist, würde ich mich leicht am Nutzen der Allgemeinheit versündigen, wenn ich dich, der Du in höchstem Grade beschäftigt bist, mit sozusagen zweifach aufgewärmtem Kohl meucheln würde. Der Rest meiner Reise nach Deutschland ist ganz angenehm vonstattengegangen.

Was Deine Angelegenheiten angeht, so möchte ich wissen, ob es Dir gut geht, was Du machst, und was Du gerade an Gutem gerade in Arbeit hast; dazu veranlassen mich mein Interesse an den öffentlichen Studien, besonders auch aber die Achtung, die ich gegenüber Deiner Person empfinde. Die eine bringt mich dazu, Dir alles Gute und Gelingen zu wünschen, das andere führt dazu, dass ich zwangsläufig sehr besorgt um die edlen Wissenschaften bin, denen Du ihre frühere Vollkommenheit zurückgeben musst. Bei dem Fahneneid, den Du, hochgelehrter Alciatus, den edlen Wissenschaften geleistet hast, bitte ich Dich inständig, deinen Traktat über die Wortbedeutungen, von dem wir in Avignon schon Kostproben erhalten haben, abzuschliessen, und mit der Arbeit an Deinen Responsa und Problemata und den übrigen, ihnen gleichartigen, Monumenten Deiner Gelehrsamkeit zu beginnen, die Dir ein ewiges Angedenken schaffen, die den edlen Wissenschaften, die gerade wieder aus der Versenkung auftauchen, zum Heil gereichen, und uns, den Studenten, helfen, unsere Studien richtig zu betreiben. Du täuschst Dich, mein bester Alciatus, wenn Du glaubst, ein anderer ausser Dir könnte in der Lage sein, sich dieser Aufgabe zu unterziehen; wie wenige gibt es schon, die dazu in der Lage wären? Diese Last ist für Deine Schultern bestimmt, auf Dir allein ruht die Hoffnung, in dessen Busen die Natur alles, was an edlen Disziplinen existiert, hineingeschüttet hat. Sei also guten Mutes, mach so weiter, höre nach Deiner Rückkehr nicht auf, die edlen Studien zum Ergrünen zu bringen. Wenn Du das tust, dann werden die edlen Wissenschaften, dann werden wir Studienbeflissene Dir sehr viel schulden. Beim Herkules, niemand ist glücklicher als wir, wenn wir Alciatus als Lenker und Führer unserer Studien haben; unter seinen Feldzeichen wird es, wenn man erst einmal den Befehl zum Aufbruch erteilt hat, für jeden sehr einfach sein, die Barbarei endgültig niederzuschlagen und sie ins Exil zu treiben, nachdem ja schon viele sie weithin durch ihre Studien zur Wiederherstellung des Ursprungszustands weissgetüncht haben.

In Deutschland geht es völlig drunter und drüber. Ich kann Dir nichts Genaueres schreiben, das ist besser, als wenn ich Dir ungenaue Nachrichten schreibe; so sehr ist alles – ich weiss nicht: ist es mehr verwirrt oder mehr ungewiss? Karl und die Fürsten haben sich in Worms getroffen; es ging ihnen dabei hauptsächlich darum, Luther zu verderben. Aleander hat dafür keinen Stein auf dem anderen gelassen und dabei Gott wie die Menschen angefleht. Eine nicht geringe Hilfe war ihm dabei ein Franziskanerminorit, der Beichtvater Karls, vielmehr der Führer des Führers, jemand, der alles nach seinem Belieben steuert. Luther kam dorthin, nachdem man ihm sicheres Geleit zugesichert hatte; man verhandelte dort nicht auf Basis der Vernunft oder der Schrift, sondern nur auf Basis von Zwang und Autorität. Sie haben versucht den Mann zum Widerruf zu zwingen; aber sie haben nichts erreicht.

Er hat öffentlich darüber Zeugnis abgelegt, wie er es in den meisten seiner Schriften zu tun pflegt, dass Irren menschlich sei, dass nichts Menschliches ihm fremd sei, dass er sehr leicht irren könne; wenn man ihn auf Basis der Vernunft und der Heiligen Schrift, des Evangeliums, eines Irrtums überführe, werde er nicht nur erdulden, dass man seine Schriften verurteile, sondern er werde selbst der erste sein, der alle ins Feuer werfen würde. Aber es schicke sich nicht für einen Christenmenschen, seine Aussagen so leichtfertig zu widerrufen und dabei Vernunft und Schrift hintanzustellen; er habe sie vorher sorgfältig bedacht und aus den Evangelien geschöpft, es seien geradezu evangelische Aussagen, weil er nichts auf Basis seines privaten Dafürhaltens beurteile, sondern gemäss dem, was die Evangelien und was die Apostel sagen. Darauf brach ein vielfältiger Tumult aus und man hörte unterschiedliche Urteile. Um es nicht allzu lang zu machen: als er, unter dem Eindruck dieser unterschiedlichen Aufnahme, die seine Worte fanden, selbst unter Androhung des Todes seine Meinung nicht ändern wollte, wurde es ihm untersagt, öffentliche Bekenntnisse abzugeben, zu schreiben oder das Wort direkt an das Volk zu richten; sie würden längere Zeit über seine bereits erschienenen Bücher zu beraten haben. Und so schickte man ihn, nachdem man die Angelegenheit noch einige Tage hingezogen hatte, nach Hause. Es gibt Leute, die sagen, er sei auf der Reise unter Bruch der ihm gegebenen Zusicherung von irgendjemandem verhaftet worden; aber dieses Gerücht ist zu inhaltslos, als dass ich ihm Glauben schenken könnte.

Ausser den Schriften, die Du bereits gesehen hast, hat er jüngst noch mehr veröffentlicht: einen Kommentar zum Römerbrief, den Brief Von der Freiheit eines Christenmenschen, eine Bekräftigung aller durch die Bulle Leos verurteilten Artikel, seine als Postillen bezeichneten Erläuterungen zu den Episteln und Evangelien, die Tessaraδεκάδας, Tröstungen für die Christen, und manches andere, besonders ein Büchlein Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche; alleine mit der letztgenannten Schrift hat er sich selbst den Beschuss durch alle theologisierenden Novizen, wie Caecias-Wolken, zugezogen.

Die Löwener haben einige seiner Aussagen verurteilt, auch die Kölner, wobei sie seine vermeintlichen Irrtümer in den Artikeln ihrer Verurteilung der Reihe nach durchnehmen; mit Bestimmtheit verurteilen sie ihn, aber nach Theologenart, das heisst mit drei oder vier Worten: dieser Artikel da ist häretisch, dieser riecht nach der montanistischen Lehre oder der Lehre anderer Häretiker, jener verletzt fromme Ohren, dieser ist skandalös. Er steht ihnen allen Rede und Antwort. Ihnen haben sich jüngst die Pariser angeschlossen; aber ihre Verurteilung ist aus dem gleichen Material. Sie lässt nur die Ausdrücke «häretisch, skandalös, eine Beleidigung für fromme Ohren» und ähnliche Ausdrücke der gleichen Sorte erschallen; keine Schriftstelle wird zur Begründung herangezogen, das Fundament seiner Argumentation wird nicht erschüttert, es wird nicht begründet, worin die bezeichneten Irrtümer bestehen sollen. Wenn das ab jetzt der Modus sein soll, in dem man Häretiker verurteilt, dann braucht man nicht unter so hohen Kosten so viele Kollegien für Priester und Theologen zu unterhalten; jeder aus dem einfachsten Volk, mag er auch strohdumm sein und erzblöd könnte mit diesen Worten und Konzepten eine Verurteilung formulieren, da man dabei ja nicht auf der Basis der Heiligen Schrift, sondern mit Zwang argumentiert, nicht auf Basis der Vernunft, sondern mit dem Autoritätsargument, nicht mithilfe des Vergleichs von Schriftstellen, sondern mit dem Prügelstock. Und das möchte ich nicht gesagt haben, weil ich glaube, dass man alle Lutherschriften ehrfürchtig abküssen muss, als ob sie etwas Allerheiligstes wären – gewiss sind viele paradox und sehr schwerfällig – sondern bislang kein Theologe aufgetreten ist, der mit ihm auf Vernunft- und Schriftbasis diskutiert hätte, bzw. wenn einige es getan haben, hat er sie argumentativ zu Boden geschlagen. Was ist das nun für eine Bosheit und für ein Wahnsinn, jemanden, den man nicht mit Vernunftgründen widerlegen kann, mit dem Autoritätsargument widerlegen zu wollen! Wieso widerlegen sie ihn nicht auf Basis der Heiligen Schrift? Wir sehen, dass Augustinus das so gemacht, dass Hieronymus das so gemacht hat, dass alle alten Kirchenväter das so gemacht haben; anderenfalls werden wir Pythagoräer sein, keine Christen, weil bei jenen die Autorität oder auch das «er selbst hat es gesagt» des Pythagoras genügend Begründung dafür ist, alles Mögliche zu glauben, auch wenn es in Widerspruch zur Vernunft steht, selbst wenn der Wortlaut des Evangeliums offenbar etwas anderes lehrt. Aber was hat das mit mir zu tun? Ich wünsche nur das Eine, dass die Wahrheit sich gleich bleibt, dass ihre Majestät geachtet wird, wer immer es auch sei, der sich der Aufgabe unterzieht, sie zu bekräftigen, und sei er auch ein Gete. Das müssen sich alle Gutgesinnten inständig wünschen, aber so wie unsere Zeit ist, wird es erst spät so weit kommen, denn alle streben nur nach Befriedigung ihres Ehrgeizes und nach Profit.

Verschiedene Leute haben diverse Schriften zur Verteidigung Luthers herausgegeben; sie aufzuzählen, würde zu lange dauern. Ich hätte Dir sehr gerne alles geschickt, wenn es dazu irgendeine Möglichkeit gegeben hätte; aber der Briefbote hat diese Last abgelehnt. Ulrich von Hutten ist noch am Leben, auch wenn er manchen sehr verhasst ist, und er verteidigt Luthers Sache mit Waffengewalt, besonders aber auch durch seine Schriften.

Von Erasmus ist nichts Neues erschienen, ausser den Paraphrasen zu allen Apostelbriefen und sein bereits zum dritten Mal neu durchgesehenes Neues Testament. Man erwartet aber noch das Ergebnis seiner Bemühungen um Augustinus, bei denen er das Gleiche anstrebt wie bei Hieronymus, nämlich die untergeschobenen Schriften von den authentischen zu sondern, wobei er, wenn ich mich nicht täusche, Scholien hinzufügen will. Wir hoffen auch, dass er dieser Tage zu uns kommt. Auf Aleanders Betreiben hin hat man ihn bei Karl schwer als Chorführer des gegenwärtigen Lutherspektakels denunziert; wie gerechtfertigt das ist, erkennt jeder klar, der beide Männer kennt – sie haben nämlich nichts gemeinsam. Ich höre, dass auch eine Belohnung darauf ausgesetzt ist, wenn man ihn nach Rom verschleppt. Ihr Götter, wendet das zum Guten! Was soll dieser Umgang mit einem Unschuldigen? Es sind in Deutschland noch einige andere Schriften gedruckt worden; ich kann in der Kürze hier kein vollständiges Verzeichnis liefern. Bei Froben haben die Werke des Tertullian schon den Druckstock verlassen. Polydorus Vergilius hat ihm seine Sprichwörter, die er besonders aus den Evangelien geschöpft hat, zusammen mit einigen anderen kleinen Werken geschickt; was Du darüber denkst, werde ich mir sehr gerne persönlich anhören, da Dein Urteil mir, wie das Sprichwort sagt, ein lydischer Stein ist.

Der Drucker Cratander wird sich mit Deinem Werk nicht vor September beschäftigen, aber das ertrage ich umso leichter, als ich von Dir erfahren habe, dass bei Euch noch viele Manuskripte vorrätig sind, die Calvus drucken kann. Um zu vermeiden, dass Calvus mir gegenüber eine ungünstige Haltung einnimmt, so als wäre ich der Autor dieser zu druckenden Bücher, habe ich es zugelassen, dass die Herausgabe verschoben wird, damit er sich in der Zwischenzeit bequemer um seine eigenen Bücher kümmern kann, wenn er noch ausstehende Arbeit damit hat (ich tue das unter der Voraussetzung, dass Du nichts dagegen hast). Wenn Du noch Zusätze anfügen willst, kannst Du sie mir bequem im September zuschicken. Über König Karl schreibe mir nichts, es ist ungewiss, was er vorhat. Manche sagen, er wolle nach Spanien zurückkehren. Es ist jedenfalls klar, dass er in diesem Jahr nicht in Rom zum Kaiser gekrönt werden wird; von einer Reise dorthin ist nicht einmal die Rede. Ich weiss nicht, was in Deutschland geschehen wird; alles ist derart ungewiss und zweifelhaft. Von überall her strömen alle zusammen, sowohl die, die sich dem Reich eidlich verpflichtet haben, als auch die anderen, die sich zum französischen König begeben. Die Schweizer haben mit dem Franzosen ein Bündnis unter der Bedingung geschlossen, dass er nichts gegen das Reich unternimmt. Du könntest bei uns fast so viele Söldner sehen, wie es Menschen gibt. Beim Herkules, es ist verwunderlich, woher der Gallier so viel Geld hat. Er verspricht alles Mögliche und bracht sehr reichliche Geschenke; er wird uns, wie er verspricht, sehr reich machen. Aber was schadet es schon, Versprechungen zu machen? Doch wenn es so eintrifft, fürchte ich, dass es sich um Gold aus Toulouse handelt. Habgier könnte Sparta erobern, sonst nichts.

Aber was ist mit Avignon? Leidet es etwa immer noch unter der Pest? Ich möchte mehr Gewissheit über Deine Rückkehr dorthin haben. Wir werden Dir, unserem Mäzen und Lehrer, welchen Weg Du auch einschlägst, gemäss jenem Horazwort als Gefährten bereitwillig folgen, wohin Du uns auch voranschreitest. Dass ich mich unter Führung des Alciatus der Rechtswissenschaft gewidmet habe, war für mich eine Ehre, die meine übrigen Auszeichnungen übertrifft. Im Übrigen lass Dich von meiner riesigen Liebe, meiner Achtung und meinem Bemühen um Dich vollkommen überzeugen; und mögen sie nicht erkalten, so dass am Ende gar den Anschein macht, als ob ich nur Lippendienste erweise, wo ich tatkräftig helfen sollte. Kurz gesagt: Greife auf mich zurück, wie es Dir beliebt, wie es sich aus meiner Achtung Dir gegenüber ergibt; in dieser Sache schulde ich Dir nicht wenig an Zinsen, und wenn man meine Steuerschuld schätzen sollte, gestehe ich, dass sie nicht klein ausfällt.

Lebe wohl und sei gegrüsst, mein allerbester Alciatus, Gelehrtester von meinen Freunden.

Basel, 11. Juni. Ich bitte Dich, empfiehl mich dem hochgelehrten Herren Aurelius Albutius.